Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Handelskriege nützen niemandem

Handelskriege als Element geostrategischer Konflikte sind alt. Der Streit um die britischen Getreidezölle im frühen 19. Jahrhundert liefert noch heute Argumente gegen die Instrumentalisierung der Wirtschaft.
 

Am 21. November 1806 erließ Napoleon Bonaparte, auf dem Höhepunkt seiner Macht, das Berliner Dekret. Darin erklärte der französische Kaiser für die von ihm beherrschten Teile Kontinentaleuropas ein Handelsembargo gegen das im Krieg mit Frankreich befindliche Großbritannien. Mit dieser Kontinentalsperre wollte Napoleon “das Meer durch die Macht des Landes” besiegen. Im Jahre darauf antwortete London mit einer Gegenblockade. Frankreich und Großbritannien hatten sich seit 1793 fast permanent im Kriegszustand befunden. Das Berliner Dekret steht für die Eskalation eines schon früher begonnenen Handelskriegs.
 
Die Kontinentalsperre war zwar nicht geeignet, den Handel zwischen Großbritannien und dem Kontinent völlig zum Erliegen zu bringen. Aber in Großbritannien stiegen unter anderem wegen des Wegfalls von Getreideeinfuhren die Preise für dieses Grundnahrungsmittel, obgleich Lieferungen aus Russland und aus Ostpreußen die britischen Inseln immer noch erreichten. Von den hohen Getreidepreisen profitierten die Grundbesitzer, die das Unterhaus politisch beherrschten, zu Lasten der Arbeiter und des sich im Zuge der beginnenden industriellen Revolution mächtig entfaltenden produzierenden Gewerbes.
 
Nach der Niederlage Napoleons und dem Zusammenbruch der Kontinentalsperre im Jahr 1814 wandten sich die britischen Grundbesitzer mit der umstrittenen Forderung nach hohen Getreidezöllen gegen billige Einfuhren vom europäischen Kontinent, um einen Fall des Preises zu verhindern. Zu dieser Frage äußerten sich mehrere Ökonomen auf eine damals gebräuchliche Weise, indem sie Flugschriften veröffentlichten.
 
Die meisten Veröffentlichungen setzten sich kritisch mit dem Ansinnen der Grundbesitzer auseinander. Spätestens seit der Veröffentlichung des berühmten Werkes “Der Wohlstand der Nationen” im Jahr 1776 durch Adam Smith, den schottischen Ahnherrn der Volkswirtschaftslehre, stand im ökonomischen Denken Großbritanniens der Freihandel in hohem Ansehen. Aber auch die protektionistische Haltung der Grundbesitzer stieß auf Unterstützung. Aufmerksamkeit verdienen die Debatten des frühen 19. Jahrhunderts aber nicht nur aus historischer Sicht. Damals wurde über die Frage, ob höherrangige politische Ziele Verstöße gegen das Prinzip des Freihandels begründen, mit aus heutiger Sicht sehr zeitgemäßen Argumenten gestritten.
 
Geradezu lehrbuchhaften Charakter trug die Debatte zwischen zweien der bedeutendsten Ökonomen des frühen 19. Jahrhunderts, David Ricardo und Thomas Malthus. Ricardo hatte als Inhaber eines erfolgreichen Finanzunternehmens an der Londoner Börse einen hervorragenden Ruf und ein stolzes Vermögen erworben und sich anschließend, von der Lektüre Adam Smiths angeregt, in ökonomische Debatten eingebracht. Obgleich Ricardo die Wirtschaftspolitik konkret beeinflussen wollte und niemals an einer Universität studiert hatte, gilt er als der Pionier einer auf abstrakten ökonomischen Modellen beruhenden Denkweise. In dieser Hinsicht kann Ricardo, dessen Hauptwerk “Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung” zu den Klassikern des Fachs zählt, als erster moderner Ökonom wahrgenommen werden.
 
Noch heute zählt sein Theorem der komparativen Kosten zum Basiswissen in der Theorie des Außenhandels: Es besagt, dass für zwei Länder Freihandel auch dann für beide Parteien Vorteile bringt, wenn ein Land in der Herstellung aller Güter Wettbewerbsvorteile besitzt. Dieses Theorem beruht auf einer Reihe einfacher, zum Teil wenig realistischer Annahmen. Generationen späterer Ökonomen haben sich bis zum heutigen Tag an der Frage abgearbeitet, ob seine Gültigkeit erhalten bleibt, sobald realistischere Annahmen in das Modell eingebaut werden. Ricardos Theorem hat sich dabei, insgesamt betrachtet, in theoretischer Betrachtung als sehr robust und mit Blick auf die Liberalisierung des Welthandels nach dem Zweiten Weltkrieg in wirtschaftspolitischer Hinsicht auch als sehr einflussreich erwiesen.
 
Thomas Malthus hatte seine Laufbahn als Pfarrer begonnen und später die erste Professur für Politische Ökonomie in England übernommen. Ganz anders als Ricardo stützte Malthus seine Schlussfolgerungen stärker auf die Anschauung und auf historische Erfahrungen. Von der Herleitung wirtschaftspolitischer Erfahrungen aus abstrakten, die Wirklichkeit notwendigerweise vereinfachenden Modellen hielt Malthus wenig; umgekehrt findet sich in Ricardos Werk kaum einmal ein wirtschaftshistorischer Bezug. Schlagwortartig ließe sich sagen: Ricardo bevorzugte als Methode die Deduktion, Malthus die Induktion. Trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten in der Sache blieben Ricardo und Malthus, die sich häufig trafen und einen regen Briefwechsel unterhielten, durch eine enge Freundschaft verbunden.
 
Ein Verzicht auf die Getreidezölle würde Großbritannien im Grundsatz Vorteile bescheren. Darin stimmten die beiden Männer überein. Das Königreich war damals reicher und wirtschaftlich weiter entwickelt als der europäische Kontinent. Freihandel würde den Zugang zu billigen Einfuhren von Nahrungsmitteln ermöglichen und im Gegenzug den Export hochwertiger Industriegüter erlauben. Aber während Ricardo die aus dem Freihandelsmodell folgenden Schlüsse konsequent auf die Politik anwenden wollte und den Verzicht auf Zölle befürwortete, trat Malthus dafür ein, politische Empfehlungen nicht nur auf der Basis theoretischer Erwägungen abzugeben, ohne deren Anwendbarkeit sorgfältig zu überprüfen. Dann aber konnten für politische Empfehlungen Kriterien zur Anwendung kommen, die das Modell nicht berücksichtigte. “Ich protestiere ganz entschieden gegen die Doktrin, dass wir unseren allgemeinen Prinzipien folgen sollten, ohne jemals darauf zu achten, dass sie auf den vor uns liegenden Fall angewendet werden können”, schrieb Malthus.
 
Eine bis heute verbreitete Denkweise aufgreifend, wies Malthus auf das ernsthafte Risiko politischer Abhängigkeit hin, die aus der Einfuhr strategisch wichtiger Waren für ein Land entstehen kann – und das gerade in einer Zeit, in der in Europa Kriege als Mittel zur Erreichung politischer Ziele nicht ungewöhnlich waren. Im Zweifel sei Sicherheit wichtiger als Wohlstand, schrieb er. Ein Land begebe sich sonst in Gefahr, gerade dann von der Zufuhr von Lebensmitteln abgeschnitten zu werden, wenn der Bedarf am größten sei.
 
Diese Einstellung passt zu dem bis in unsere Zeiten geläufigen Bild des Freihändlers in guten Zeiten, der in schwierigen Zeiten zum Protektionisten wird. Mit der Beschwörung drohender politischer Konflikte finden sich auch heute Stimmen, die in der globalen Arbeitsteilung Risiken sehen und es für sinnvoll halten, in strategischen Wirtschaftsbereichen heimische Produktionskapazitäten aufzubauen. Während diese Position für Rüstungsgüter seit jeher weitgehend unumstritten ist, droht die Definition vermeintlich strategischer Wirtschaftsbereiche in der politischen Praxis beliebig zu werden. Auch ausländische Kapitalbeteiligungen an heimischen Unternehmen werden gerne mit dem Hinweis auf die strategische Bedeutung der heimischen Wirtschaft blockiert.
 
Malthus’ Ziel bestand darin, für Großbritannien ein hohes Maß an Autarkie in der Nahrungsmittelversorgung zu erreichen, so dass nennenswerte Einfuhren von Getreide allenfalls noch in Jahren mit ungewöhnlich schlechten Ernten notwendig würden: “Ich glaube fest daran, dass angesichts des heutigen Zustands Europas und angesichts unserer aktuellen Lage unsere klügste Politik darin besteht, unsere durchschnittlichen Ernten zu steigern. Und indem wir dies tun, bin ich überzeugt, dass unser Land reichliche Ressourcen für einen großen und kontinuierlichen Zuwachs seiner Bevölkerung, seiner Macht, seines Reichtums und seines Glücks besitzt.” Die mit dem Streben nach Autarkie und den dafür notwendigen Handelsbeschränkungen verbundenen hohen Preise war Malthus bereit zu akzeptieren, weil sie nach seiner Ansicht den Anreiz weckten, nach technischem Fortschritt in der heimischen Landwirtschaft Ausschau zu halten.
 
Ricardo überzeugte keines der von Malthus vorgebrachten Argumente gegen den Freihandel. Zwar hielt auch er die politischen Risiken für Großbritannien in einem unruhigen Europa für schwer kalkulierbar. “Es ist nicht leicht, die Gefahren korrekt zu bewerten, denen wir ausgesetzt sind”, hielt er gegenüber Malthus fest. “Diejenigen, die für Freihandel eintreten, mögen sie unterschätzen, und es ist möglich, dass Sie sie überschätzen.” Aber auch wenn die Passage zurückhaltend klang gegenüber einem Diskussionspartner, für den er freundschaftliche Gefühle hegte, so ließ er kein gutes Haar an dessen Argumenten.
 
Der Furcht Malthus’, während eines Krieges könne sich die Abhängigkeit Großbritanniens von ausländischen Getreidelieferungen als Achillesferse erweisen, hielt Ricardo die Zuversicht entgegen, Großbritannien besitze eine sehr große Auswahl potentieller Handelspartner und sei nicht von einem einzelnen großen Agrarproduzenten wie Frankreich abhängig, das auch nach dem Ende der Herrschaft Napoleons eine restriktive Exportpolitik betrieb.
Die Geschichte hatte diese Einschätzung bestätigt. Selbst auf dem Höhepunkt von Napoleons Machtentfaltung besaß der französische Kaiser keine Kontrolle über alle europäischen Exporte, und dank seines Kolonialreiches unterhielt Großbritannien Handelsbeziehungen zu anderen Kontinenten. Die Wirtschaftsgeschichte ist reich an Beispielen, in denen von Handelskonflikten zwischen zwei Ländern Dritte profitierten. Ricardo vermutete zudem, dass potentielle Handelspartner gerade wegen der Getreidezölle nicht ihr gesamtes fruchtbares Land bebauten. Ein glaubwürdig dem Freihandel verpflichtetes Britannien könnte andere Länder ermutigen, ihre Produktion auszuweiten. Und je mehr andere Länder in ihre Landwirtschaft investierten, umso geringer würde für sie der Anreiz, in politischen Konflikten dem Protektionismus zu frönen.
 
Damit hielt Ricardo seinem Freund ein Argument entgegen, das bis zum heutigen Tag häufig unterschätzt wird: Im Falle politischer Konflikte schadet ein Land mit Handelssanktionen nicht nur der Wirtschaft des Gegners, sondern auch der eigenen. Handelskriege sind zweischneidige Schwerter. Das war ein Punkt, den Malthus mit Blick auf geschichtliche Erfahrungen akzeptierte. Im Jahr 1810 hatte Napoleon nach einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage Frankreichs für sein Heimatland im Edikt von St. Cloud die Exportbeschränkungen gegenüber Großbritannien und den mit London verbündeten Vereinigten Staaten gelockert.
 
Malthus sah in einer unsicheren, unruhigen Welt einen potentiellen Zielkonflikt zwischen Sicherheit und Wohlstand. Im Zweifel optierte er für die Sicherheit. Dieses Argument hatte seinerzeit auch Adam Smith gegen einen unbeschränkten Freihandel gelten lassen. “Ricardo hingegen schloss jede Wahl zwischen Verteidigung und Wohlstand aus”, schreiben die Ökonomen Neri Salvadori und Rodolfo Signorino. “Der Handel gibt potentiellen Feinden keine Waffen in die Hand, während ein durch Handel geförderter Reichtum Großbritannien mehr Mittel zur Führung von Kriegen in die Hand gibt.”
 
Auch wenn Ricardo die überzeugenderen ökonomischen Argumente auf seiner Seite hatte, verlor er doch die politische Debatte um die Getreidezölle, obgleich er im Jahr 1819 Abgeordneter im Unterhaus wurde, um dort seine Stimme hörbar zu machen. Die das Parlament dominierenden Landeigentümer fürchteten weiterhin den mit einer freien Einfuhr von Getreide verbundenen Preisverfall und hielten an den Zöllen fest.
 
Ricardo, der in einer Zeit des wirtschaftlichen Umbruchs und der sich entfaltenden bürgerlichen Gesellschaft die politische Macht der Grundbesitzer für ein Verhängnis hielt, wurde von Missliebigen nachgesagt, er vertrete einseitig Unternehmerinteressen. Malthus erging es nicht besser. Er wurde mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe sich als Lobbyist der Grundeigentümer positioniert und darüber seine Überzeugungen verraten. Andersdenkenden unredliche Motive zu unterstellen ist noch heute ein Kennzeichen nicht weniger Debatten.
 
Die britischen Grundeigentümer feierten damals nicht ihren letzten Sieg. Dem protektionistischen Getreidegesetz von 1815 folgten zwei weitere Gesetze in den Jahren 1822 und 1828, die vom gleichen Geist geprägt waren. Beschlossen wurde die Abschaffung der Getreidezölle erst im Jahr 1846, als in Irland die sogenannte “Große Hungersnot” wütete, in deren Verlauf rund eine Million Menschen ihr Leben verloren. Die Vorstellung einer landwirtschaftlichen Autarkie Großbritanniens hatte sich als ein bitterer und tödlicher Irrtum erwiesen.
 
In den darauffolgenden Jahrzehnten stieg sowohl die britische Produktion von Nahrungsmitteln als auch die Einfuhr nicht zuletzt aus den boomenden Vereinigten Staaten. Die von Malthus popularisierte These, die Nahrungsmittel könnten nur mit einer geringeren Rate wachsen als die Bevölkerung, erwies sich als falsch. Der Freihandel erwies sich für die Menschen als eine Wohltat – ehe gegen Ende des 19. Jahrhunderts neue geopolitische Rivalitäten erst eine Rückkehr der Zollpolitik nach Europa brachten und nicht sehr lange danach einen Weltkrieg.


Dieser Beitrag ist zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen.