Richard Oetker ahnte nichts, als er am 14. Dezember 1976 zu seinem Auto ging. Der 25-jährige Industriellenerbe, der im oberbayerischen Weihenstephan Agrarwissenschaften studierte, kam an diesem Winterabend gerade aus einer Vorlesung, als sich ihm auf dem Parkplatz ein Mann mit Bart, Kosakenmütze und Schusswaffe in den Weg stellte. “Vorwärts, das Ding macht nur klack”, soll der Entführer gesagt haben. Er zwängte Oetker, einen Mann von fast zwei Metern, in eine kleine, präparierte Holzkiste. Dort kauerte Oetker in Embryostellung, sodass seine Lunge gequetscht wurde. Sobald er einen Ton von sich gab, traktierten Stromschläge den jungen Mann. Das Martyrium dauerte zwei Tage. Gegen ein Lösegeld von 21 Millionen Mark kam der Student auf freien Fuß. Richard Oetker, der mehrere Knochen- und Wirbelbrüche erlitt, ist lebenslang gezeichnet. Sein Entführer, Dieter Zlof, landete für 15 Jahre im Gefängnis.
Die Entführung Oetkers ist ein Stück bundesdeutscher Kriminalgeschichte. Aber nicht nur das. Denn das Verbrechen in Oberbayern und viele ähnliche Straftaten erzählen noch mehr. Für die Wissenschaftlerin Eva Gajek sind Entführungen mit Lösegeldforderungen, wie sie es ausdrückt, “Gegenstand einer Kultur- und Wissensgeschichte von Reichen und Reichtum nach 1945”. Anders gesagt: In der Historie des Menschenraubs fahndet Gajek danach, wie in der deutschen Gesellschaft Reichtum und wohlhabende Menschen gesehen werden – und wer überhaupt als reich identifiziert wird.
Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich die Historikerin Gajek, die in Gießen der Forschungsgruppe “Geschichte und Theorie des globalen Kapitalismus” angehört, in ihrer aktuellen Forschungsarbeit. In einem Vortrag hat sie kürzlich erste Einblicke gewährt. Sie stellte klar, dass es “die Reichen” als eine homogene Gruppe nicht gibt. “Sie organisieren sich nicht in einer übergeordneten Interessenvertretung. Sie gehören verschiedenen sozioökonomischen Schichten an. Der Grundstein des Vermögens basiert auf völlig verschiedenen Professionen und Quellen.” Und dennoch, so Gajek, seien “die Reichen” nicht nur als Individuen, sondern auch “als soziale Gruppe” Opfer von Entführungen geworden. Oetker-Entführer Zlof etwa gab zu Protokoll: “Im Grunde war mir die Person gleich, solange er oder sie reich war.”
Begonnen hat die Geschichte des erpresserischen Menschenraubs in Deutschland 1936 mit der Entführung des 11-jährigen Hans-Eduard Giese, des Sohns eines Bonner Geschäftsmanns. Das Kind überlebte, der Täter wurde hingerichtet, das Strafgesetzbuch um den Tatbestand “Erpresserischer Kindesraub” erweitert. Kinder waren auch in der frühen Bundesrepublik die Opfer von Entführern, bevor in den Siebzigerjahren immer häufiger Erwachsene in den Fokus von Kriminellen gerieten und die Fallzahlen nach oben gingen. In der Kriminalstatistik ist das Delikt erst seit 1973 zu finden. Allein bis zum Jahr 1976 wurden dort fast 150 Fälle registriert, so Gajek.
Aber nach welchen Kriterien wählten die Entführer ihre Opfer aus? Forscherin Gajek unterscheidet drei Opfergruppen. Zuallererst die Namensträger großer Unternehmerfamilien: Aldi, Oetker, Springer und Schlecker. Über die Eigentümer oder Erben der Großunternehmen war öffentlich oft kaum etwas bekannt. Die Täter – und damit wohl auch die sonstige Öffentlichkeit – schufen sich eigene Vorstellungen von Luxus und Lebensstil der Superreichen. Mit der Realität, die oft erst durch die Verbrechen und Gerichtsverfahren publik wurde, hatte das häufig wenig zu tun. Der Oetker-Entführer etwa sei überrascht gewesen, dass der Sohn eines der reichsten deutschen Männer in einer einfachen Wohnung gelebt habe.
Zur zweiten Gruppe zählt die Historikerin Menschen, die keine Milliarden besaßen, aber regional oder lokal als “reich” bekannt waren: “die Tochter des Transportunternehmers Putz aus München, der Möbelkönig Franz Vogt aus Gießen”. Diese Regionalgrößen seien Opfer von Entführern geworden, die aus denselben Städten oder Orten kamen und “die sich von einer lokalen sozialen Ordnungsstruktur in ihrer Auswahl leiten ließen”.
Die dritte Gruppe bezeichnet Gajek als die interessanteste. Zu ihr zählen Menschen, von denen gar nicht bekannt war, wie hoch ihr Vermögen war, die aber einfach für reich gehalten wurden – zum Beispiel, weil sie in einem Villenviertel lebten. Mehrere Entführer gaben nach ihrer Verhaftung an, in einem solchen Wohngebiet zugeschlagen zu haben, weil Menschen die dort wohnten, schließlich reich sein müssten. Das konnte schiefgehen: In München wurde in einem noblen Wohnviertel ein Kind aus einem einfachen Beamtenhaushalt entführt; in Köln schnappte sich ein Verbrecher ein Kind, das im Villenviertel Hahnwald lebte, dessen Vater allerdings verschuldet war und in Untersuchungshaft saß. Forscherin Gajek folgert: “Hieran lässt sich die Abstraktheit der sozialen Gruppe ,die Reichen’ ausgesprochen gut verdeutlichen.”
Auffällig sind zwei weitere Beobachtungen der Historikerin: Zum einen sei es nicht die materielle Not gewesen, die Täter kriminell werden ließ. Zum anderen sei das Mitgefühl mit den reichen Opfern in den Siebzigerjahren zunehmend verschwunden. In den Motiven der Täter erkannten Kriminalisten in den Sechzigerjahren noch ein “neues Phänomen der Wohlstandskriminalität”. Sie erpressten Geld, um sich teure Dinge zu leisten oder um die Freundin zu überzeugen, dass sie eine gute Partie seien. In den Siebzigerjahren, als vermehrt über soziale Ungleichheit diskutiert wurde, beriefen sich Täter zunehmend auf vermeintliche Ungerechtigkeiten. Im Bekennerschreiben der Theo-Albrecht-Entführer, die sich mit dem Titel “Verein zur Vermögensverteilung” schmückten, hieß es 1971, dass sie mit den erpressten 7 Millionen Mark “die soziale Ungleichheit in dieser Welt ausgleichen” wollten. Die Absicht sei gewesen, aus einem Millionär sieben Millionäre zu machen.
Zu selben Zeit kippte die Stimmung mehr und mehr zugunsten der Täter. Journalisten hoben hervor, wie gut Theo Albrecht von den Entführern behandelt wurde und welche Privilegien er genoss. Selbst bei Richard Oetker, der schwer verletzt überlebte, sei auffällig, dass ihm eine kritische Haltung entgegenschlug: “Viele Journalistinnen zweifeln sogar an seinen Aussagen”, sagte Gajek. Über einen Achtjährigen, der unmittelbar nach seiner Entführung ein Fernsehinterview gegeben hatte, hieß es in der Süddeutschen Zeitung, er habe “ausgesehen, als ob er gerade vom Tennis käme”.
Die Untersuchung der Forscherin reicht bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Auch danach gab es Entführungen. 2002 brachte Magnus Gäfgen den Frankfurter Bankierssohn Jakob von Metzler um. Und für das Jahr 2019 listet die Kriminalitätsstatistik 65 Fälle von räuberischer Erpressung in Deutschland auf.
Eva Maria Gajek hält am 7. Juli um 17 Uhr am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln einen Onlinevortrag zum Thema. Anmeldung unter: info@mpifg.de.