Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Vom Versuch, Kriege zu quantifizieren

Die Konfliktforschung hat eine lange Tradition - sowohl mit statistischen als auch mit modelltheoretischen Methoden. Viele Fragen allerdings sind immer noch ungelöst.

Zu den bekanntesten Mythen der Politikwissenschaften gehört die Geschichte vom demokratischen Frieden: demokratische Staaten führen demzufolge keinen Krieg gegeneinander. Die Idee ist sehr schön, und man muß etwas überlegen, um Gegenbeispiele zu finden, aber es gibt sie. Die kontinuierlichen Konflikte zwischen Indien und Pakistan zum Beispiel, oder die türkische Invasion Zyperns 1974. Die Mehrzahl der bewaffneten Konflikte hingegen finden tatsächlich zwischen nicht-demokratischen Staaten statt. Die Unsicherheit beginnt bereits bei den Definitionen: was ist eine Demokratie? Was ist keine? Und was ist ein Krieg? Die meisten  modernen Datensätze definieren Konflikte über die Anzahl der Toten – wobei die Bandbreite von minimal 25 bis 1.000 reicht.

Grundsätzlich ist es nicht leicht, Zahlen aus den vergangenen Jahren zu finden. Für Afghanistan und den Irak gibt es Zahlen, für Syrien schwanken die Schätzungen enorm, und überhaupt ist die Unsicherheit groß. Neben den direkt im Gefecht umgekommenen Menschen gibt es noch die getöteten Zivilisten. Hinzukommen all jene, die durch Hunger, Krankheiten oder auf der Flucht ums Leben kommen. Mit all unserer modernen Technik lassen sich diese Unsicherheiten doch nicht überwinden – umso beeidnruckender ist die Leistung von Lewis P. Richardson, der 1948 Zahlen zu den Kriegstoten seit 1820 aufzustellen versuchte. Mit den von ihm gesammelten Daten zeigte er, daß Konflikte – ebenso wie viele andere Phänomene – Potenzgesetzen gehorchen. Genauer gesagt, verhält sich die Größe eines Ereignisses (hier Konflikttote) invers proportional zur Häufigkeit eines solchen Ereignisses. Das heißt es gibt viele kleine Konflikte mit wenigen Toten, und einige sehr seltene, katastrophale Konflikte mit außerordentlich vielen Toten.

Die Schwierigkeiten beginnen für Konfliktforscher bereits damit festzulegen, wann ein Konflikt kein Krieg mehr ist. Da Richardson sich auch für die sehr kleinen Ereignisse interessiert, entfiel diese zusätzliche Komplikation für ihn. Er sammelte Daten zu allen Konflikten, vom kleinen Mord über Meutereien und Aufstände bis hin zum Weltkrieg für den Zeitraum von 1820 bis 1945. Im ersten Schritt kategorisierte er die möglichen Größenordnungen nach Konflikttoten von 0 Toten bis zu den etwa 40 Millionen Opfern des zweiten Weltkriegs. Um Erhebungsfehler und Ungenauigkeiten auszugleichen logarithmierte er sämtliche Werte und erhielt acht Kategorien (0-0,5; 0,5-1,5;…6,5-7,5).

Vergleicht man seine Werte mit dem Wissen von Wikipedia, so waren die historischen Zahlen offenbar etwas zu niedrig, aber wie eingangs bereits vermerkt: Ungenauigkeiten sind kaum zu vermeiden. Im nächsten Schritt war sein Ziel, sämtliche Konflikte gewissermaßen als Strichliste in diese Kategorien einzuordnen und zu zählen, wie häufig größere und kleinere Konflikte waren.

Die Datensuche gestaltete sich offenbar mühsam, vor allem für die mittelgroßen Konflikte. Große Kriege (>2.5, d.h. mit mehr als 300 Toten) waren auch für ihn bereits aus Geschichtsbüchern gut nachvollziehbar , sehr kleine Zahlen (d.h. einzelne Mord- und Totschlagsdelikte) konnte er aus den Kriminalstatistiken verschiedener Länder hochrechnen. Dabei errechnete er einen Durchschnitt von 32 Konflikten mit Todesfolgen pro Million Einwohner für Länder mit brauchbaren Statistiken, und rechnete diese Zahl auf die ungefähre Weltbevölkerung von 1,5 Milliarden (um 1900) hoch. Der Einfachheit halber wurde das als konstanter Wert  für den gesamten Zeitraum von 126 Jahren angenommen. Und so kommt er auf 6 Millionen Mordfälle. Diese grobe Näherung korrigierte er im nächsten Schritt mit Daten aus der britischen Kriminalstatistik, um zu berücksichtigen, daß in manchen dieser Konflikte mehr als ein Mensch zu Tode kam, mit einem Gesamtergebnis von 9 Millionen Toten aus Kleinstkonflikten über den gesamten Zeitraum. Zwar handelt es sich bei dieser Zahl um eine sehr grobe Schätzung, aber für die Zwecke völlig ausreichend – auch bei Abweichungen nach oben oder unten würden sich die Gesamtergebnisse am Ende kaum ändern.

Die größte Herausforderung waren offenbar die mittelgroßen Konflikte mit 5-300 Toten, die in keiner Kriminalstatistik systematisch erfasst sind – aber auch in keinem Geschichtsbuch umfassend verzeichnet. Diesen Teil der Daten leitet er mit einigermaßen komplizierten Berechnungen aus den existierenden Daten ab, und kommt insgesamt zu dem Ergebnis, daß seit 1820, gemessen an der gesamten Sterberate nur 1.6% der Toten auf Konflikte entfielen. Lapidar konstatiert er “Those who enjoy wars can excuse their taste by saying that wars after all are much less deadly than disease” – er war übrigens überzeugter Pazifist. In absoluten Zahlen entsprechen diesen 1,6 % immerhin 59 Millionen Tote über 126 Jahre – wobei das noch unter den heutigen Maximalschätzungen für den zweiten Weltkrieg allein liegt, also vermutlich wirklich deutlich zu niedrig ist. Seine Analysen zeigen jedoch, daß die Mehrzahl dieser Opfer entweder durch ordinäre Morde oder aber durch die beiden Weltkriege zu Tode kam.

Mit weiteren mathematischen Analysen zeigt Richardson abschließend, daß Ausmaß und Häufigkeit der Ereignisse tatsächlich in einem regelmäßigen statistischen Zusammenhang stehen, und zwar sowohl für die von ihm gesammelten weltweiten Daten wie auch für einzelne, kleinere Phänomene, zum Beispiel bei Gangs und Konflikten in Chicago. Seither wurde diese Besonderheit auch in anderen Kontexten untersucht, insbesondere für terroristische Anschläge scheint Ähnliches zu gelten, ebenso wie für aktuellere Datensätze, die die quantitativ orientierten Sozialwissenschaften natürlich längst zusammengetragen haben.

Bleibt jedoch die Frage, wie ein solches Muster entstehen kann, bzw. welche Mechanismen dahinterstehen. In bester interdisziplinärer Manier suchte ein Forscher daher in der Physik nach Erklärungen und wurde fündig bei der selbstorganisierten Kritikalität, die sich bereits für alle möglichen ähnlichen Phänomene (zum Beispiel Lawinenabgänge, Erdbeben etc.) als nützlich erwiesen hat. Der fragliche Forscher schafft es, die Grundidee von selbstorganisierter Kritikalität auch ohne Fachbegriffe wie “Skaleninvarianz” und “Attraktoren” zu erklären, indem er auf ein illustrierendes Beispiel zurückgreift: läßt man Sand auf einen Haufen rieseln, so rutschen die Seiten des entstehenden Sandberges immer mal wieder, plötzlich, in größere Mengen ab. Die permanente (=lineare) Berieselung baut Spannungen auf, die sich ruckartig (und nicht-linear) entladen.

Der Zusammenhang mit Konflikten springt einem dabei nicht sofort ins Auge, aber bei näherer Überlegung: die Ausbreitung von Kriegen in Raum und Zeit und Größe sind gar nicht so unähnlich, wobei zum Beispiel technologische Neuerungen (Transportmittel zur räumlichen Ausbreitung) eine ähnliche Wirkung wie permanente Sandberieselung im o.g. Beispiel haben können. Auf dieser Grundidee konstruiert er ein mathematisches Modell mit Agenten (Staaten) auf einer (geographischen) Rasterfläche, die miteinander und über viele Zeitperioden hinweg in Beziehungen, ausgedrückt durch Gleichungen, die die Beziehungen mathematisch beschreiben, verbunden sind. Die Beschreibung dieses dynamischen Gleichungssystems erinnert entfernt an Computerspiele, und ganz ähnlich kann das System danach verschiedene Situationen simulieren.

Der Autor zeigt, daß sein Modell tatsächlich potenzgesetzmäßige Konflikte generiert – und vor allem, welche Faktoren dazu beitragen, namentlich technologischer Fortschritt und Entscheidungsregeln, die vielfältige Interdependenzen und Dimensionen zwischen den Akteuren berücksichtigen, wie etwa Konflikte an mehreren Fronten und deren Wechselwirkungen. Spannend, aber vermutlich für die Realpolitik wenig interessant – dafür jedoch ein weiteres Anzeichen dafür, daß die traditionell eher statischen modelltheoretischen Fundamente der Sozialwissenschaften pragmatisch betrachtet möglicherweise nicht der Weisheit letzter Schluß sind.