Immer im Juni eines Jahres veranstaltet die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) eine Konferenz in Luzern. Am nordwestlichen Ende des Vierwaldstätter Sees sprechen international angesehene Ökonomen über den Zustand des globalen Finanzsystems und über die Rolle der Geld- und der Finanzpolitik. Dies sind Themen, mit denen sich die in Basel (Fotoquelle: Reuters) ansässige BIZ, Bank der Zentralbanken und Denkfabrik in einem, seit ihrer Gründung im Jahre 1930 befasst. In diesem Jahr zog der scheidende Chefökonom der BIZ, der Amerikanischer Stephen Cecchetti, eine persönliche Bilanz seiner Erfahrungen der vergangenen Krisenjahre.
Cecchettis Fazit seiner fünf Jahre als Chefökonom in Basel lautete: Geldpolitiker sollten stärker auf die Entwicklung von Geld- und Kreditmengen achten; sie müssten sich hüten, in Abhängigkeiten von Regierungen und Geschäftsbanken zu geraten; sie müssten über nationalen Gartenzaun schauen und auf internationale Wirkungen ihrer Politik achten und schließlich sollten Geldpolitiker nicht zu sehr auf die Rationalität der Teilnehmer an den Finanzmärkten vertrauen. All dies klingt nachvollziehbar, logisch und richtig. Der Clou lautet: In einem um das Jahr 1975 erschienenen Lehrbuch dürften sich diese Erkenntnisse allesamt finden. In der Zwischenzeit wurden diese alten Erkenntnisse verdrängt und abgelegt. Nunmehr, in der kompliziertesten Wirtschafts- und Finanzkrise, hat die Geldpolitik einerseits eine im historischen Vergleich vermutlich einmalig große Bedeutung erhalten. Gleichzeitig war sie sich ihres Wissens und ihrer Fähigkeit selten so unsicher wie heute.
Eine verbreitete allgemeine Kritik an Politik lautet, sie lasse sich von den persönlichen Interessen ihres Personals leiten und höre zu wenig auch fachlichen Rat. Auf die Geldpolitik lässt sich diese Kritik kaum anwenden. Im Gegenteil: Wohl kein anderer Politikbereich ist so stark durch wissenschaftlichen Rat und Expertise geprägt. Nicht nur haben es einige Professoren an die Spitze bedeutender Notenbanken gebracht wie Ben Bernanke in den Vereinigten Staaten und, bis vor wenigen Jahren, Axel Weber in Deutschland. EZB-Präsident Mario Draghi trägt einen Doktorhut des angesehenen Massachusetts Institute of Technology in Boston. Der gerade ausgeschiedene Gouverneur der Bank of England, Mervyn King, studierte in Cambridge und Harvard. Sein Nachfolger Mark Carney besuchte Harvard und Oxford. Bundesbankpräsident Jens Weidmann machte seinen Doktor an der Universität Bonn und arbeitete anschließend unter anderem als Generalsekretär des Sachverständigenrats, einer bewährten Karriereposition für junge deutsche Ökonomen. Fachleute finden sich aber nicht nur in den Notenbanken, sondern in ihrem engsten Umfeld.
Ob in Jackson Hole in den Rocky Mountains, ob in Luzern in der Schweiz, in Eltville am Rhein, in Konferenzsälen großer Hotels in Boston oder auf der Insel Reichenau im Bodensee – vielerorts finden regelmäßig Konferenzen statt, auf denen sich akademische Ökonomen mit Geldpolitik befassen und ihre Kenntnisse den Geldpolitikern zu Verfügung stellen. Derart von Fachwissen eingehegt, müssten die Geldpolitiker zielbewusst auch in dieser Krise ihren Weg gehen und Vertrauen erzeugen. Statt dessen ist das Vertrauen in die Geldpolitik fragil geworden; ihre führenden Vertreter befinden sich in der Gefahr, als überforderte und unwissende Magier wahr genommen zu werden. Kein Trost darf sein, dass sie immer noch ein größeres Vertrauen genießen als Regierungen und Bankmanager.
Die Produktion von Geld ist auch in einer Zeit, in der der größte Teil des Geldes nur mehr elektronisch, also als Bits und Bytes, existiert, keine Geheimwissenschaft – ebenso wenig die Sicherung eines annähernd stabilen Preisniveaus für Güter und Dienstleistungen. Es ist gerade ihr Erfolg in dem Vierteljahrhundert zwischen 1982 und 2007 gewesen, der die Geldpolitiker und ihre akademischen Berater unvorsichtig werden ließ. Zwar brachten sie die Inflationsraten auf historisch niedrige Niveaus und erfüllten damit ihren offiziellen Auftrag. Gleichzeitig erlaubten sie eine gewaltige Expansion der Mengen umlaufenden Geldes und Kredits, die Banken und andere Finanzmarktteilnehmer risikoreichen Geschäften ermunterten und die Preise für Immobilien und andere Vermögensgüter stark steigen ließen. Gewarnt hatten in den Jahren vor 2007 nur wenige Fachleute, darunter der frühere Chefökonom der BIZ, William White (hier ist seine jüngste Analyse), und einer der bis heute erfindungsreichsten BIZ-Ökonomen, Claudio Borio (hier ein wichtiges Paper aus dem vergangenen Jahr). Die meisten akademischen Berater der Geldpolitik, und hier nicht zuletzt führende amerikanische Ökonomen, hielten das Studium der Entwicklung von Geld und Kredit für vorsintflutlich und das Studium der Finanzmärkte für sinnlos, da diese nach der dominierenden Lehre ohnehin so gut wie immer perfekt funktionieren sollten.
Die Pressekonferenzen des Vorsitzenden der amerikanischen Notenbank Fed finden in einem fensterlosen Raum in Washington statt. Eher wie ein Professor als wie ein Politiker liest Ben Bernanke an einem Mittwoch im Juni 2013 rund 10 Minuten lang stoisch einen langen Text vor, der die vorangegangenen Beratungen des wichtigsten Gremiums der Fed, des von Bernanke geleiteten Offenmarktausschusses, zusammen fasst. Während die zur Pressekonferenz geladenen Journalisten still dem einleitenden Vortrag Bernankes folgen, erläutern über Twitter Ökonomen und Journalisten im Halbminutentakt ihre Wahrnehmung der Äußerungen Bernankes, während in den Handelssälen der Banken und Fondsgesellschaften hektisch Verkaufsaufträge für Staatsanleihen in die Computer eingegeben werden. Bernankes Ankündigung, die Fed erwäge eine Reduzierung ihrer Anleihenkäufe, erzeugt rund um den Globus Nervosität. Die Renditen vor allem für langlaufende Anleihen steigen; der Goldpreis setzt seine Baisse fort; am Devisenmarkt wertet der Dollar auf.
Die Geldpolitik befindet sich in der industrialisierten Welt auf einem Höhepunkt ihres Einflusses: Nicht nur soll sie den Geldwert weiter stabil halten; sie soll auch einen Beitrag zur Belebung des Wirtschaftswachstums leisten, das geplagte Bankensystem stabilisieren und die Erwartungen der Teilnehmer an den Finanzmärkten so lenken, dass es dort nicht zu einer Panik kommt.
“Whatever it takes” – was immer notwendig ist: Dieser Satz verbindet sich mit der Ankündigung Mario Draghis aus dem Sommer 2012, die EZB werde alles im Rahmen ihres Mandates Notwendige tun, um den Euro zu erhalten. Diesen Satz gebrauchte allerdings auch Ben Bernanke und zwar mehrere Jahre vor Draghi: Recht früh in der im Jahre 2007 ausgebrochenen Krise versicherte Bernanke, die Fed werde alles in ihren Möglichkeiten Stehende tun, um eine schwere wirtschaftliche Depression zu verhindern, wie sie die Vereinigten Staaten nach dem Börsenkrach des Jahres 1929 erlebt hatten. Die Geldpolitiker haben die Rolle des Krisenhelfers angenommen – nicht unbedingt, weil sie sich um diese Aufgabe gerissen haben. Anfangs erschien ihr Eingreifen zwingend, weil in einer Welt, in der das Finanzsystem vor dem unmittelbaren Zusammenbruch zu stehen scheint, nichts schneller und zuverlässiger hilft als die unverzügliche Bereitstellung zusätzlichen Geldes durch Notenbanken.
Doch die Nothilfe hat sich in Dauerhilfen verwandelt: Nicht nur haben Notenbanken ihren Leitzins auf Null oder nahe Null gesenkt. Die Fed, die Bank of England und die Bank von Japan kaufen Staats- und andere Anleihen an, um die Wirtschaft anzuregen. Die EZB hat selbst im Vergleich nur wenige Anleihen gekauft, aber dafür die Geschäftsbanken großzügig zu Niedrigzinsen mit Geld ausgestattet, damit diese Anleihen kaufen können. In der Schweiz hat die Nationalbank viel neues Geld geschaffen, um im Interesse der Konjunktur die Aufwertung des Franken zu bremsen. Im Interesse dessen, was sie als großes Ganzes versteht, akzeptiert die Geldpolitik die Nebenwirkungen ihres Handelns: Ihr Markteingriffe verzerren Preise mit der Gefahr der Bildung von Spekulationsblasen, die niedrigen Zinsen entwerten Ersparnisse und alle ihre Handlungen besitzen Verteilungswirkungen.
So sind die Geldpolitiker zu scheinbar allmächtigen Magiern geworden – aber eben auch zu unwissenden Magiern. Gerade jene Politikdisziplin, die auf wissenschaftlichen Rat zu hören pflegt, kann sich auf Rat derzeit kaum stützen. Entgegen mancher Befürchtungen sind die Inflationsraten in den Industrienationen bisher nicht deutlich gestiegen und es sieht auch nicht so aus, als würden sie in naher Zukunft stark steigen. “Inflation ziemlich tot” schreibt der Chefökonom der Commerzbank, Jörg Krämer, in einer aktuellen Analyse der Lage in den Vereinigten Staaten. Die Folgen aktueller Geldpolitik kann nur einschätzen, wer die Bedeutung von Banken und Finanzmärkten für die Gesamtwirtschaft untersucht – eine früher selbstverständliche Disziplin, die von der in den vergangenen Jahrzehnten herrschenden Lehre abgelegt wurde und heute an Plätzen wie Basel oder Princeton wieder entdeckt und weiter entwickelt wird.
Während dessen sind Alchemisten unterwegs. In Deutschland beschwören sie unausweichliche hohe Inflation und damit die Misere als Folge der aktuellen Geldpolitik – und stützen sich dabei auf eine Lehre, die anderswo vor Jahrzehnten wegen ihrer Unzuverlässigkeit längst abgelegt wurde. In Amerika fürchten sie die Deflation und beschwören höhere Inflationsraten als Heilmittel – und stützen sich dabei auf eine wenig ausgegoren wirkende Lehre, für die keine zuverlässigen Erfahrungen aus der Praxis vorliegen.*) Die seit der frühen Neuzeit entstandenen Hunderte Regalmeter geldpolitischer Literatur ändern nichts daran, dass die Folgen der heutigen Geldpolitik für Preis- und Finanzstabilität sowie für das Wirtschaftswachstum schlichtweg nicht zuverlässig kalkulierbar sind. Es ist die Stunde der Forscher, nicht der scheinbar allwissenden Ratgeber.
In diesem Juni 2013 ist Jens Weidmann nach München gekommen. Der Bundesbankpräsident hält vor dem Almuni-Club der Münchener Volkswirte einen Vortrag zum Thema „Krisenökonomik – die Krise als Herausforderung für Ökonomen“. Weidmann thematisiert das Grundproblem der aktuellen Geldpolitik: Es ist die Gefahr der Überfrachtung der Notenbanken mit Kompetenzen, die eigentlich einer gewählten Regierung zustehen, nicht den von den Regierungen unabhängigen Herren der Geldpolitik. Weidmanns Widerstand gegen das geplante Anleihenkaufprogramm der EZB ist nur ein Ausdruck eines Unbehagens über eine Entwicklung, die Notenbanken in die ihre traditionellen Rollen überschreitende Funktion eines Versicherers gegen gesamtwirtschaftliche Großrisiken drängt und die Regierungen scheinbar von der Verpflichtung befreit, unangenehme Entscheidungen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik zu treffen.
Die Geldpolitiker drohen zu Gefangenen ihrer eigenen Erfolge in der Bekämpfung der Inflation und in der Gewährleistung der Stabilität des Finanzsystems zu werden. Weidmann akzeptiert, dass als Folge der Krisenerfahrungen die Bedeutung einer klugen Regulierung der Finanzmärkte gewachsen ist, auch in Europa: „Die Notwendigkeit einer Bankenunion zu erkennen und anzuerkennen gehört zweifellos zu den großen Lerneffekten der Krise im Euroraum.“ Aber Weidmann sieht auch die großen Themen, die keinen Paradigmenwechsel vertragen: die Unabhängigkeit der Notenbank, ihr Fokus auf Sicherung der Geldwertstabilität und ihr Verzicht auf Vereinnahmung durch Regierungen und das Finanzgewerbe. Es ist ja nicht so, dass eine Notenbank nicht in der Lage wäre, die Inflationsrate niedrig zu halten. Aber wenn sie gleichzeitig andere Prioritäten verfolgt, kann sie die Sicherung der Geldwertstabilität vernachlässigen – und wenn Verbraucher und Unternehmer dies mitbekommen, kann Inflation tatsächlich zu einem Problem werden. Es sind sehr alte Themen, und hier würden Cecchetti und Bernanke dem Bundesbankpräsidenten fraglos zustimmen, die in dieser Krise wieder modern geworden sind.
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*) Es ist kein Zufall, dass die Vertreter dieser Ansicht die jüngsten Appelle der BIZ für ein geldpolitisches Maßhalten (“Monetary policy at the crossraods“) hart kritisieren.
Eine kürzere Version dieses Beitrags ist am 29. Juni 2013 als “Lounge” im Wirtschaftsteil der F.A.Z. erschienen.