Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Wir sind zu ungeduldig – der wirtschaftliche Fortschritt steht schon vor der Tür

| 19 Lesermeinungen

Warum sinkt der Realzins seit Jahrzehnten? Warum steigt die Produktivität so langsam? Auf diese Fragen sind viele Antworten zu hören: Mal ist eine säkulare Stagnation schuld, mal die Geldpolitik, mal eine globale Ersparnisschwemme, mal der Kapitalismus an sich. Alles Unfug, sagt der amerikanische Ökonom Barry Eichengreen. Wir sind einfach zu ungeduldig und vergessen, dass sich technischer Fortschritt nur mit zeitlicher Verzögerung in wirtschaftlichen Wohlstand umsetzt.

Thomas Edisons bahnbrechende Arbeiten zur Stromgewinnung fanden in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts statt – Elektrizität als Produkt für die Massen wurde erst Jahrzehnte später geläufig. Die bahnbrechenden Arbeiten zum Verbrennungsmotor der Herren Daimler und Benz sind ebenfalls im späten 19. Jahrhundert zu verorten – als Massenprodukt wurde das Auto aber erst Jahrzehnte später durch Henry Ford geläufig. Kann es sein, dass wir heute einfach zu ungeduldig sind, wenn wie einerseits bahnbrechende Entwicklungen in der Informationstechnologie sehen, aber deren Auswirkungen für das Wirtschaftswachstum und die Produktivitätsentwicklung noch nicht richtig wahrnehmen Kann es sein, dass es bis zur vollen Ausbreitung von Phänomenen wie der Industrie 4.0 noch Jahrzehnte dauern wird, obgleich die Preise für viele Investitionsgüter in den vergangenen Jahren gefallen sind?

Diese Fragen wirft der bekannte amerikanische Ökonom Barry Eichengreen in einem kürzlich in Tokio gehaltenen Vortrag auf. Eichengreen geht, nicht zum ersten Mal, der Frage nach, warum seit Jahrzehnten der Realzins in den Industrienationen sinkt und viele Ökonomen von einem “Produktivitätsrätsel” sprechen – der Tatsache, dass in den Industrienationen die Produktivität trotz erheblichen Fortschritts so langsam wächst (wenn sie überhaupt wächst).

Eichengreens Ausgangspunkt ist, dass ihn die gängigen Erklärungen zum niedrigen Realzins und der schwachen Produktivitätsentwicklung 1) nicht befriedigen. Dass beide Größen seit Jahrzehnten fallen, ist leicht sichtbar. Dabei wirkt sich die rückläufige Produktivitätsentwicklung auf den Realzins aus. Mithilfe eines einfachen Wachstumsmodells 2) kommt Eichengreen zu dem Ergebnis, dass zur Produktivitätsentwicklung in den vergangenen Jahren ein durchschnittlicher Realzins von 1,4 Prozent in den Industrienationen passt.

Nun unterliegt der Realzins kurzfristig allerlei anderen Einflüssen, die derzeit im Zusammenhang mit der Finanzkrise, vorherigen und seitherigen Regulierungen sowie der Geldpolitik 3)  stammen mögen (wir hatten diese kurzfristigen Einflüsse in einem anderen Beitrag behandelt), aber bei langfristiger Betrachtung ist der Realzins nach den gängigen Theorien güterwirtschaftlich determiniert. Und für einen rund drei Jahrzehnte währenden Rückgang des Realzinses braucht man eine andere Erklärung als eine im Jahre 2007 ausgebrochene Finanzkrise.

Eichengreens erster wesentlicher Punkt ist: Er glaubt nicht, dass sich der langfristige Rückgang des Realzinses alleine auf ein überreichliches Angebot an Ersparnissen zurückführen lässt: “My conclusion for what is worth is, that factors operating on the saving side of the saving-investment balance – the so-called savings glut, changes in demographics, and the level or rate of change of income inequality – do not by themselves provide a compelling explanation for the observed decline in real interest rates in and of themselves.” Die These der vor allem aus Schwellenländern stammenden Ersparnisschwemme wird unter anderem von Ben Bernanke vertreten.

Nein, der Realzins sinkt, weil den Ersparnissen keine sehr große Nachfrage nach Investitionen entgegen steht. Auch hier sieht Eichengreen einen säkularen Trend, auf den sich in den vergangenen Jahren die Finanzkrise, politische Unsicherheit und “andere Nacheffekte der Finanzkrise” oben draufgesetzt haben. Ein Grund für die – in Geld ausgedrückte – nachlassende Investitionsnachfrage könnte in rückläufigen Preisen für Investitionsgüter liegen, der sich nicht nur bei der Informationstechnologie beobachten lässt. Dieses Argument wird unter anderem von den amerikanischen Ökonomen Robert J. Gordon und Larry Summers vertreten.

Eichengreen ist von dieser These nicht überzeugt, unter anderem, weil eine empirische Untersuchung sehr hohe Investitionsquoten in Ländern mit fallenden Preisen für Investitionsgüter gezeigt hat. (Eichengreen räumt aber ein, dass mehr Empirie gut wäre.). Für mindestens umstritten hält Eichengreen auch die These von Reinhart/Rogoff, nach der sich die Wirtschaft nach von Finanzkrisen begleiteten Rezessionen oft nur sehr langsam erholt. Das Gegenargument, und auch dafür gibt es Empirie, lautet, dass gerade in solchen Krisen Unternehmen Anreize besitzen, produktivitätsfördernde Maßnahmen zu ergreifen.

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1) Gemeint ist die Totale Faktorproduktivität (TFP). Das ist jener Produktivitätszuwachs, der sich nicht durch zusätzliche Mengen der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital erklärt, sondern durch eine effizientere Kombination der Produktionsfaktoren zum Beispiel als Folge technischen Fortschritts oder leistungsfähigerer Institutionen.

2) Eichengreen benutzt ein einfaches Ramsey-Wachstumsmodell.

3) Der Einfluss der Geldpolitik auf den Realzins ist umstritten, wie zwei kürzliche FAZIT-Beiträge zeigen. In diesem Beitrag spielt die Geldpolitik keine bedeutende Rolle, nach Ansicht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich schon eher. Dieses spannende und wichtige Thema verdient weitere Forschungen.

 

 


19 Lesermeinungen

  1. vcaspari sagt:

    @ Sophia Orti
    “Steigen oder sinken die Preise der Staatsanleihen? Man könnte Sinken sagen, weil es mehr Papiere gibt und mehr davon angeboten wird, oder Steigen, weil es weniger zur Verfügung vom Ertrag der Wirtschaft gibt und daher die Zinsen niedriger sein sollen. Was passiert eigentlich?”
    Hallo Frau Orti!
    Hier sollte man sich zunächst klar machen, wie die Angebotsseite und wie die Nachfrageseite aussieht. Die Nachfrager von Staatspapieren bestehen aus zwei Gruppen: Eine Gruppe versucht ihre neuen Ersparnisse anzulegen, eine zweite Gruppe hält schon Vermögen (Immobilien, Aktien, Pfandbriefe, Gold) und möchte umschichten und nun auch einen Teil in Staatsanleihen anlegen. Dazu müssen sie auf anderen Vermögensmärkten verkaufen, d.h. anbieten. Auf der Angebotsseite des Marktes für Staatsanleihen finden wir den Staat, der neue Bonds ausgeben kann und wiederum Vermögensbesitzer, die alte Staatsanleihen besitzen und verkaufen möchten, um z.B. Gold, Aktien oder Immobilien zu erwerben (nachzufragen). Die Kurse (Preise) der Staatsanleihen können in der Tat fallen oder steigen. Das hängt nur von den Relationen zwischen Angebot und Nachfrage ab.

    Nun zu GPK = r. Die Kapitalakkumulation wird von Unternehmen dezentral entschieden. Wenn Unternehmen ihre Gewinne maximieren, dann führen sie solange reale Investitionen (Maschinen, Anlagen, etc.) durch, bis eine Investition nicht mehr “bringt” (GPK) als sie real “kostet” (r). Auf die GPK hat die Geldpolitik (Zinspolitik) keinen Einfluß, weil sie (GPK) durch den Stand der gerade herrschenden Technologie und der Totalen Faktorproduktivität (TFP) bestimmt wird. Die Technologie und die Totale Faktorproduktivität werden von den Ingenieuren und den Naturwissenschaftlern (F&E) einerseits und von den Arbeitsorganisatoren andererseits bestimmt.

    Eine Zentralbank kann die Entwicklung der GPK und der TFP zur Kenntnis nehmen aber nicht beeinflussen oder gar steuern.

    • rum sagt:

      "Das hängt nur von den Relationen zwischen Angebot und Nachfrage ab"
      Lieber Herr Caspari, wahrscheinlich habe ich meine Frage nicht richtig gestellt. Da der Preis auf dem Markt bestimmt wird, ist Ihre obige Antwort eine Selbstverständlichkeit. Es ging aber um die längerfristige Entwicklung, im Zusammenhang der Diskussion hier und im Beitrag vom 24.06.2015. Ich zitiere aus dem Kommentar von André Kühnlenz da: „Zinsen werden auf lange Sicht bestimmt durch die Höhe der Finanzanlagen im Verhältnis zum Einkommen“. Verstehen Sie jetzt das logische Argument meiner mehr oder weniger rhetorischen Frage? Die Frage wirft viele andere interessante, mehr oder weniger rhetorische Fragen.

    • vcaspari sagt:

      @ Sophia Orti: Die Behauptung von Herrn Kühnlenz verstehe ich leider nicht.
      Grund: Kapitalwerte (Finanzwerte) sind nicht vom Einkommmen, sondern von erwarteten Gewinnen abhängig. Bei niedrigen Zinsen sind die immer hoch und übersteigen i.d.R. die laufenden Gewinne und auch das Volkseinkommen bzw. das BIP.

      Also, den Zusammenhang zwischen Einkommen und Kapitalwerten hätte ich gerne mal erklärt gesehen.

    • Gerald Braunberger sagt:

      Lieber Herr Caspary,
      ich verstehe die Argumentation von André Kühnlenz so: Er geht vom Volkseinkommen aus, das als Kapital- und Arbeitseinkommen ausgeschüttet wird. Wenn sich nun endogen der Finanzsektor aufbläht (à la Minsky?), entstehen daraus wachsende Ansprüche auf laufende Kapitaleinkommen vor allem aus Fremdkapital. Da die aber aus dem langsamer wachsenden BIP befriedigt werden müssen, kann dies nur durch einen sinkenden Zinssatz geschehen. Der Zins ist die abhängige Variable, die Kapitaleinkommen aus dem BIP und laufende Kapitalansprüche aus Finanzkontrakten ausgleicht. Dabei drücken hohe Ausschüttungen auf Eigenkapital zusätzlich auf den Zins.

    • rum sagt:

      "Wenn sich nun endogen der Finanzsektor aufbläht (à la Minsky?)"
      Und laut Caspari: “Anderseits haben die Ersparnisse zugenommen (warum auch immer)”. Das sind jetzt die Fragen. Eine Bank kann eine Staatsanleihe kaufen oder zeichnen, um sie als Sicherheit für ein Kredit bei der EZB zu benutzen. Mit dem Geld kann sie wieder und wieder dassselbe tun. Das bringt Inflation, teilweise durch das leiden der Wirtschaft dabei gehemmt, aber solange die Inflation unter 2% bleibt, ist es für die EZB alles OK. Riskantes Geschäft mit Fristtransfromation, aber das Kreditvolumen zu jeder Zeit wird von der Zentralbank als rechtfertigt gesehen. Die Kredite der EZB sind immer lockerer und längerfristiger geworden. Das ist nur ein Beispiel einer möglichen mehr oder weniger langfristige Entwicklung. Vielleicht etwas ähnliches durch Umwege ist möglich. à la Minsky? Wie geht das?

    • rum sagt:

      Kleiner Nachschlag
      Oben beschreibe ich eine mögliche Entwicklung, in der allmählich das Kreditvolumen wächst, die Anzahl der Staatsanleihen wächst, die Wirtschaft sich abkühlt und die Inflation damit gehemmt wird, die Zentralbank arbeitet weiter, als alles in Ordnung wäre. Durch weitere Entwicklungen können sich weitere Teile des Finanzsektors aufblähen. Der Ankauf der Staatsanleihen durch die Zentralbank und die ELA Krediten beschleunigen eine solche Entwicklung stark sie sind aber eine Ausnahme (die immer weniger Ausnahme werden). Es ist ein deutlicher Fehler des Systems. Auch die Gold-Devisenwährung der 1920er war fehlerhaft, mit ihr war beliebige Geldschöpfung und Hyperinflation möglich, endete aber nicht mit Inflation, sondern mit der Krise der 1930er. Kann man etwas ähnliches über das heutige System sagen? Es hat doch eine Weile gut funktioniert? Ein Unterschied liegt darin, dass der Fehler der Gold-Devisenwährung bewusst ausgenutzt werden sollte, um zur beliebigen Geldschöpfung zu kommen. Der Fehler im heutigen System benötigt aber nicht ein bewusstes Handeln, um zu wirken.

    • vcaspari sagt:

      @G.Braunberger: Zur "Theorie von der Aufblähung" des Finanzsektors,
      Fogende Überlegung: Gehen wir von einem “golden age” steady state Wachstumsprozess aus. Hier gilt r=g; realer Kapitalzins gleich Wachstumsrate des BIP. Nun wissen wir, auch r>g ist wegen eines positiven “Kapitalisten”konsums möglich. (Kaldor-Pasinetti Theorem). Nehmen wir an, dieser Teil des Gewinns, der nicht akkumuliert wird, wird über den Kapitalmarkt an die Kapitalistenhaushalte verteilt. Dann ist r-g was über den Kapitalmarkt umverteilt wird und r bildet die obere Schranke für den realen Kapitalmarktzins. Wenn aber r>g, dann kann auch i kleiner gleich r > g sein. Wenn allerding i > r wird, was in der realen Welt wohl gelegentlich passiert, dann bestehen zwei grundsätzlich Möglichkeiten: (1) Weitere Senkung der Löhne und damit Anstieg von r – um das davon laufende i einzuholen, oder (2) die Luft entweicht, weil die erwarteten Gewinnen den realen Gewinnen nicht entsprechen.

      Natürlich gilt das erst mal für die geschlossene Volkswirtsschaft ohne staatliche Aktivität.

    • Gerald Braunberger sagt:

      @VolkerCaspari
      Danke für den Hinweis auf das Kaldor-Pasinetti-Theorem! Wieder etwas gelernt. Postkeynesianische Wachstumstheorie ist nicht mein Spezialgebiet. Der These, dass ein (wie auch immer definiert) “aufgeblähter Finanzsektor” schließlich schrumpft, weil die dort erwarteten Renditen real nicht erwirtschaftet werden können, würde ich sofort zustimmen. Das gilt von John Law (da gab es die versprochenen Reichtümer in Louisiana gar nicht) über die Technologieblase (viele Jungunternehmen hatten gar kein Geschäftsmodell) bis zur Subprimekrise (wo Sozialhilfempfängern Hausfinanzierungen aufgeschwatzt wurden). Minsky hatte die Mechanismen, wie sich solche Blase aufpumpen, sehr schön beschrieben, nicht zuletzt das Verhalten der Banken. Allerdings kann es sehr lange dauern, bis eine solche Schrumpfung eintritt und wenn wir den Staat vor allem in Gestalt der Zentralbank ins Modell einführen, kann es sehr, sehr, sehr lange dauern.
      Gruß
      gb

  2. vcaspari sagt:

    Zur Strukturierung der Debatte einfach mal die wichtigen Gleichungen aus der
    ökonomischen Theorie Revue passieren lassen:

    (1) GPK = r bedeutet, aus der Gewinnmaximierung folgt, dass im Maximum die Grenzproduktivität des Kapitals dem Realzins gleich sein muß.
    (2) r = i – п bedeutet, der Realzins ist Nominalzins i abzüglich Inflationsrate п. Das ist die Näherungsformel für kleine i und п (nach I. Fisher).
    Im langfristigen Gleichgewicht muß GPK = r = i – п gelten. Die Zentralbank wirkt indirekt über den Geldmarkt auf i ein. Mit dem Blick auf r (gegeben) versucht sie, die Inflationserwartungen zu steuern. Keinen Einfluß hat die Zentralbank auf die GPK. Und damit steuert die Zentralbank bei gegebenem r mit Hilfe von i die Inflationserwartungen п.
    In der gegenwärtigen ökonomischen Lage ist i nahe Null und п ist leicht über Null, so dass der Realzins leicht negativ ist. Wäre nun die GPK positiv und groß, müsste die Investitionstätigkeit geradezu explodieren. Tut sie aber nicht. Ergo: Auch die GPK ist ziemlich niedrig. Warum ist das so? Altmodisch einfache Antwort: Die Kapitalakkumulation war bislang sehr hoch, abnehmende Erträge führen eben zu einem Fall der GPK und damit hängen wir in der Stagnation. Das ist die schittmusterartige Argumentationsline der neoklassischen Theorie. Aus Keynesianischer Perspektive ist es nicht wesentlich anders und auch aus der Marxschen Perspektive hat die Zentralbank keinen Einfluß auf die Profitrare r. Die Profitrate r ist gesungen weil durch Kapitalakkumulation die “organische Zusammensetzung des Kapitals” gestiegen ist. Den Laien mag es irritieren, denn hier wären sich unterschiedliche Ansätze der ökonomischen Theorie ganz einig.

    Dies alles heiß nicht, dass die Geldpolitik keinen Einfluß auf die Wirtschaft, sondern nur, dass sie keinen Einfluß auf die Kapitalakkumulation hat. Und der Stand der Kapitalakkumulation beeinflußt nun die Investitionsnachfrage derart, dass die Nettoinvestitionen bei wachsender Kapitalakkumulation gedämpft werden.
    Anderseits haben die Ersparnisse zugenommen (warum auch immer). Damit sind die Ersparnisse tendenziell größer als die Investitionen. Die Absorbtion der Ersparnisse erfolgt durch steigende Vermögenspreise. Gesamtwirrtschaftlich ist der Kauf einer Immobilie oder eines existierenden Wertpapiers keine Nettoinvestition, weil durch die Nachfrage nach diesem Gut nur sein Preis, nicht jedoch die Menge steigt. Die Immobilie ist die gleiche, nur ihr Wert (Preis) ist gestiegen. Das zirkulierende Finanzvermögen ist nichts anderes als der erwartete diskontierte Gewinn einer Anlage- bzw. Investitionsentscheidung. Diskontiere ich eine Zahlungsreihe mit einem hohen Nominalzins, ist der Kapitalwert klein, diskontiere ich mit einem niedrigen Nominalzins, wie gegenwärtig, entstehen gewaltige Kapitalwerte. Damit sind die hohen Werte der Finanzaktiva nichts anderes als die Kehrseite extrem niedriger Nominalzinsen. Wie bei allen Vermögenswerten gilt: Wenn sie alle gleichzeitig auf den Markt veräussert würden, wäre der Marktpreis dafür weit unterhalb des Kapitalwerts.

    • Gerald Braunberger sagt:

      Danke!

    • rum sagt:

      Auch ich danke, dass Sie versuchen, Ordnung zu bringen.
      >>
      Die Absorbtion der Ersparnisse erfolgt durch steigende Vermögenspreise. Gesamtwirrtschaftlich ist der Kauf einer Immobilie oder eines existierenden Wertpapiers keine Nettoinvestition, weil durch die Nachfrage nach diesem Gut nur sein Preis, nicht jedoch die Menge steigt.
      <<

      Was passiert aber langfristig, wenn es zum Beispiel immer mehr Staatsanleihen gibt, also nur Papiere, die ein Anspruch auf ein Teil des Ertrags der Wirtschaft verbriefen, vom Staat eingezogen und dem Gläubiger serviert, ohne dass es wirklich mehr Produktionsanlagen gibt. Steigen oder sinken die Preise der Staatsanleihen? Man könnte Sinken sagen, weil es mehr Papiere gibt und mehr davon angeboten wird, oder Steigen, weil es weniger zur Verfügung vom Ertrag der Wirtschaft gibt und daher die Zinsen niedriger sein sollen. Was passiert eigentlich?

    • rum sagt:

      Eine Bemerkung zur Theorie
      Mein voriger Beitrag war im Kontext der Debatte, die hoffentlich weiter geht. Trotz großer Versuchung, wollte ich dabei nicht nachfolgende Bemerkungen über Herrn Casparis Beitrag einfügen: die gehen teilweise an das Thema vorbei. Ich bin der letzte, der Theorie und Praxis trennen würde: das machen in der Regel die ahnungslosesten. Die Theorie ist wichtig, um ein Modell zu haben, um Begriffe festzulegen, ohne sie gibt es keine Praxis. In dieser Hinsicht war Herrn Casparis Beitrag sehr wichtig, über manche Begriffe muss ich selbst nachholen. Modell und Wirklichkeit sollen übereinstimmen, entweder weil der Wissenschaftler sein Modell an die Wirklichkeit anpasst, oder weil der Politiker (auch Gelpolitiker) die Wirklichkeit an das Modell anpasst. Das Modell bleibt aber eine Abstraktion, eine Abschätzung der Wirklichkeit, das immer angepasst werden soll. Manche Größen im Modell werden als gegeben, bestimmt und bestimmbar vorausgesetzt und in Gleichungen eingebettet: die Größen sind oft unbestimmbar und die Gleichungen lediglich eine Tautologie unter sehr eingeschränkten Bedingungen. So sagt Herr Caspari, dass GPK=r gegeben und von der Zentralbank bekannt sei dass sie mit der Kapitalakummulation von der Geldpolitik unabhängig sei. Stimmt das wirklich? Ist es nicht eher, dass zuerst i aus Marktbeobachtungen und п mit Statistiken ermittelt werden, um dann GPK=r=i – п zu berechnen? Und setzt diese Unabhängigkeit von der Geldpolitik nicht die Neutralität des Geldes, die wiederum von der Geldpolitik abhängig und heute nicht mehr gegeben ist? Und zu behaupten, dass langfristig die Geldpolitik keine Wirkung dabei hat, obwohl kurzfristig große Wirkungen hat, ist meiner Meinung nach verwegen: das Thema hatten wir beim Blog-Eintrag vom 24.06.2015.

    • Gerald Braunberger sagt:

      Ein kleiner Tipp: Die These der langfristigen Neutralität des Geldes verbindet sich in der Fachwelt mit dem Begriff “Superneutralität”. Wenn Sie die Begriffe “superneutrality” und “money” zusammen in eine Suchmaschine eingeben, finden Sie eine Menge Material zum Einlesen in die Materie – und auch Erklärungen, warum die in der herrschenden Theorie verbreitete Annahme, dass Geld kurzfristig real wirken kann und langfristig nicht, keineswegs verwegen, sondern unter einigermaßne realistischen Annahmen recht plausibel ist. Inwieweit die kurzfristige theoretische Wirksamkeit der Geldpolitik in der Praxis genutzt werden kann, ist eine andere Frage.
      Anfang des Jahres hatte ich einen längeren Artikel verfasst, wie die gegenwärtig dominierende geldpolitische Lehre in die Welt gekommen ist: https://blogs.faz.net/fazit/2015/01/19/die-mit-connection-boston-gegen-die-bundesbank-5247/
      Gruß
      gb

  3. […] Fazit: Wir sind zu ungeduldig – der wirtschaftliche Fortschritt steht schon vor der Tür […]

  4. rum sagt:

    "Warum sinkt der Realzins seit Jahrzehnten? Warum steigt die Produktivität so langsam?"
    Gibt das Kommentar von André Kühnlenz zu dem Fazit-Beitrag vom 24.06.2015 nicht eine Antwort? Eine These: wegen einer Inflation von Finanzanlagen, wahrscheinlich durch die künstliche, nicht an der Wirtschaft gekoppelte Aufblähung des Kreditvolumens verursacht, wobei die Geldpolitik eine ganz besondere Rolle spielt. Weil am Ende weniger aus der Produktion zu teilen bleibt (daher niedrigere Zinsen) und/oder weniger den direkt an der Produktion beteiligten bleibt (daher weniger Anreiz zu produzieren). Wir arbeiten unter anderem, damit der Staat seine Schulden an dritte durch unsere Steuer bedienen kann. Sozialversicherung ohne Maß ist dasselbe. Ist da nicht auch ein Teufelskreis? Es geht um das Verhältnis der Produktion zu den Finanzanlagen, weniger Produktion oder mehr Anlagen verringert das Verhältnis, führt zu niedrigeren Zinsen und/oder weniger Produktion.

    • rum sagt:

      Warum sind die modernen Zentralbanken in der Erfüllung ihrer "Kernaufgabe" konkurrenzlos?
      Weil sie die Wirtschaft zum Beispiel wie oben belasten, anstatt den Zahlungsausgleich zu ermöglichen und erleichtern. Die frühere Geldpolitik war eine Politik des knappen Geldes ohne Deflation, die moderne ist eine der Geldschwemme und Aufblähung des Kreditvolumens mit kontrollierter Inflation. Dass unter diesen Umständen nicht zu großer Inflation kommt, hat einen teuren Preis für die Wirtschaft.

  5. Gerald Braunberger sagt:

    Langfristige reale Wirkungen der Geldpolitik?
    Die Frage, ob Geldpolitik auch langfristig reale Wirkungen hat, ist sehr alt. Umstritten war dies auch schon früher, wie ein Beispiel zeigen soll. Ein früher häufiger als heute gelesener Aufsatz James Tobins aus dem Jahre 1965 über den Zusammenhang von Geld und Wirtschaftswachstum kam mittels eines portfoliotheoretischen Ansatzes zu solchen Wirkungen. (Den Aufsatz hatte auch ich im VWL-Studium an der Goethe-Uni im Schwerpunkt “Geld und Währung” bei P. Bernd Spahn gelesen.)

    Tatsächlich erweisen sich solche Herleitungen aus praktischer Sicht als schwierig, wie Orphanides/Solow im Jahre 1990 zusammenfassten:

    “Tobin’s 1965 paper succeeded in framing the question that has domi-
    nated the literature since: Does the rate of monetary growth have any
    long-run effect on the real rate of interest, capital-intensity, output and
    welfare? He also established the framework within which the question
    would be debated: portfolio choice, where fiat money is one of several
    competing assets. It has turned out to be difficult to assess the “practi-
    cal” relevance of the Tobin effect precisely because equally plausible
    models of portfolio balance can yield quite different answers. . . . Once
    again, we observe that seemingly small variations in a model change
    the conclusion regarding the effect of inflation on capital accumulation.”

    Das Zitat stammt hieraus: https://www.ssc.wisc.edu/econ/Durlauf/includes/pdf/Dimand%20Durlauf%20-%20Tobin.pdf

    • rum sagt:

      "Does the rate of monetary growth have any long-run effect on ..."
      “rate of monetary growth” scheint ein Begriff der Monetaristen zu sein, wonach die Geldmenge wachsen soll und nur wachsen kann, wie auch früher die Menge der Goldmünzen allein durch Bergbauaktivität wachsen sollte, wenigstens in der Vorstellung. Es geht also nicht um Kredit, der sich der Wirtschaft anpasst, sondern um Wachstum der Geldmenge, und die Frage, ob die Wachstumsrate eine Wirkung auf die Wirtschaft hat. Eine sehr wichtige Frage für monetaristische Geldpolitik. Da Monetaristen immer Recht haben und unfehlbar sind (wenigstens aus ihrer Perspektive), hat ihre geldpolitische Handlung langfristig keine schädliche Wirkung. Was sie machen kann ja nur gut sein. Frühere Ausführungen über die Wirkung der Geldpolitik, zum Beispiel das Verwerfen der Indexwährung, spielen keine Rolle mehr. Geldpolitik beginnt ja mit Milton Friedman. Nett aber, dass wir zum Thema des Fazit-Aufsatzes vom 24.06.2015 zurückkehren. Warum sinken die Zinsen und siecht die Wirtschaft? Teilweise wegen der falschen Geldpolitik. Haben Savings Glut, Wachstum von Finanzanlagen, Geldmengenwachstum und Geldpolitik miteinander nichts zu tun?

    • Gerald Braunberger sagt:

      Zum Thema Neutralität der Geldpolitik gibt es ein ziemlich aktuelles Paper von Stefan Homburg, der auch auf Tobins Arbeit Bezug nimmt:

      https://diskussionspapiere.wiwi.uni-hannover.de/pdf_bib/dp-541.pdf

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