Der Kapitalismus verstößt nach Ansicht seiner Kritiker gegen fast alle Werte. Das Urteil ist unfair. Von Jürgen Kaube
Der Kapitalismus kann es seinen Kritikern nicht recht machen. Nicht nur ist er an schlechterdings allem schuld: am Klimawandel, der Lage Afrikas, den Allergien, der Gewalt in Familien und dem Niedergang des guten alten Fußballs. Er ist auch für das eine und sein Gegenteil verantwortlich. So wurde beispielsweise jahrzehntelang an ihm kritisiert, er entfremde die Arbeiter durch die Stupidität der Abläufe, in die er sie zwinge. Beispielhaft dafür waren das Fließband, der Akkord oder die bürokratische Einengung. Heute lautet die Kritik genau umgekehrt. Der Kapitalismus zwinge die Leute in Ich-AGs, er propagiere mit Projektarbeit eine flexible Individualität und stachele im Grunde jede Person an, eine Unternehmerin ihrer selbst zu sein.
Diese argumentative Vorgehensweise ist nicht untypisch. Ein Wert – beispielsweise Abwechslung – wird hochgehalten, und es wird beklagt, dass er zu wenig Beachtung findet. Kurz darauf wird der Gegenwert – beispielsweise Verlässlichkeit – hochgehalten, an dessen Verwirklichung es natürlich auch mangelt. Dieses Spiel lässt sich mit allen Werten spielen: Freiheit und Gleichheit, Tradition und Innovation, Familie und Karriere, Risikobereitschaft und Vorsicht – und so weiter. Sich gesellschaftskritisch in diesem Hin und Her zu bewegen geht leicht, hat aber hohe intellektuelle Kosten.
Der amerikanische Soziologe Erik Olin Wright hat in einem Buch, das sich mit denkbaren Wegen aus dem Kapitalismus heraus beschäftigt, die Frage gestellt: Was ist so schlimm an ihm? Seine umfassende Antwort hält dem Kapitalismus von der Umweltzerstörung über Ungerechtigkeit bis zur Ineffizienz und der Begünstigung von Konsum Verstöße gegen so gut wie alle Werte der modernen Welt vor. Der Vorwurf lautet aber nicht, dass der Kapitalismus keine Verbesserung der menschlichen Lage im Vergleich zu früheren Epochen hervorgebracht habe. Der Wirtschaftsordnung wird vielmehr vorgehalten, sie bleibe unterhalb der heutigen Möglichkeiten, was die Verringerung von Leid angehe. Der Kapitalismus behindere die vollständige Verwirklichung der Werte, die er selbst propagiere.
Der Kapitalismus ist daher auch für Wright ein stetiges “einerseits-andererseits”. Einerseits schleift er Bastionen des sozialen Status. Andererseits erzeugt der Wettbewerb Gewinner und Verlierer, also neue Statuspositionen. Einerseits ist die Effizienz einer aus Eigeninteresse durchkalkulierten Produktion hoch. Andererseits sind es auch die Kontrollkosten, die anfallen, weil die Beschäftigten nicht richtig, nämlich durch Arbeitsfreude, gemeinsame Erträge und kooperativen Geist motiviert sind, sondern ihre Motive am Firmentor zugunsten derjenigen des Eigentümers und gegen Entlohnung abgegeben haben. Einerseits steigert der Kapitalismus so die Produktivität. Andererseits führt er zu gesteigertem Konsum und nicht zu mehr Freizeit. Die Nachteile einer solchen “Einerseits-andererseits”-Argumentation liegen auf der Hand. Sie suggeriert zum einen, man könne das eine – guten Fußball – haben und auf das andere – Kommerzialisierung des Sports – verzichten. Und sie rechnet dem Kapitalismus Weltübel zu, an deren Hervorbringung sich, um es vorsichtig zu sagen, auch noch ganz andere gesellschaftliche Kräfte als die wirtschaftlichen beteiligen.
Nehmen wir zur Illustration die Behauptung, der Kapitalismus steigere den Konsum eher als die Freizeit, er habe, wenn es um die Frage gehe, wie sich höhere Produktivität auswirken soll, “eine Schlagseite in Richtung Output”. Anstatt mit weniger Inputs (etwa an Zeit) das Gleiche herzustellen, werde die Herstellung von mehr Gütern mit den gleichen Inputs vorgezogen. Die Entwicklung der Freizeit in den vergangenen einhundertfünfzig Jahren spricht jedoch nicht dafür, dass ihr Wert, wie Wright behauptet, für das Wirtschaftswachstum bei null liegt. Das Urteil, ein Land mit einer kürzeren Arbeitswoche und längeren Urlaubszeiten erscheine ärmer als ein arbeitsfreudigeres, setzt ein großes Desinteresse an wirtschaftshistorischer Empirie und auch wenig Weltkenntnis voraus. Vor allem aber fragt man sich, in welcher Zeit denn der gesteigerte Konsum stattfindet, den Wright gegen die Freizeit aufrechnet. Die Wachstumsraten des weltweiten Tourismus, der Sportindustrie und der Filmwirtschaft, um nur drei Branchen zu nennen, setzen Freizeit in erheblichem Maße voraus. Könnte es sein, dass der Kritiker eigentlich nicht meint, es werde zu viel konsumiert, sondern das Falsche?
Der zweite Nachteil der Kapitalismuskritik entlang von Werten lässt sich an Wrights Behauptung verdeutlichen, der Kapitalismus sei mit Chancengleichheit unvereinbar. Das sei so, weil Kinder, die unter materiell weniger günstigen Umständen aufwüchsen, auch ganz unterschiedliche Chancen hätten, sich zu bilden und “Humankapital” aufzubauen. Dass allgemeine Schulpflicht besteht, kommt in diesem Argument vielleicht nicht vor, weil sie tatsächlich ein Beispiel dafür ist, dass etwas, die schulische Bildung, zum Nutzen aller weitgehend vom Markt ausgenommen wird.
Weniger einleuchtend ist hingegen, dass Wright nicht fragt, wovon Bildungsanstrengungen abhängen. Schließlich kann man ja nur Bücher und Nachhilfestunden, aber nicht Humankapital kaufen, es muss angeeignet werden. Dass es Aufstieg durch Bildung nicht für ganze Schichten gibt, liegt unter anderem an dieser Notwendigkeit, die jeweilige Kombination aus Begabung und Lernen individuell zu verwirklichen. Die Schule selbst ist angehalten, Individuen zu erziehen, nicht Schichten. Die Voraussetzungen dafür sind in den Familien tatsächlich ungleich, aber nicht linear entlang des Wohlstands der Familien. Vorlesen ist eine vergleichsweise günstige Technologie. Wenn also in armen Familien weniger vorgelesen werden sollte als in solchen der Mittelschicht, reproduziert sich Ungleichheit nicht allein ökonomisch.
Selbst dann allerdings, wenn man wie Wright die Chancenungleichheit fast ausschließlich auf ungleiche Einkommensverteilungen zurückführt, entsteht ein Problem. Da die vorgeschlagene Bildungsgleichheit durch starke Umverteilung ein langwieriger Prozess wäre, müsste die erste Maßnahme darin bestehen, den Eltern, die nicht bildungsadäquat erziehen, ihre Kinder wegzunehmen, um sie einer chancengerechteren Erziehung zuzuführen. Das erste Opfer einer an Gleichheit als höchstem Wert orientierten Politik wäre nicht der Kapitalismus, sondern die Ungleichheit erzeugende Familie. Man kann das wollen, aber dann sollte man es auch sagen. Es würde die Diskussion darüber, was am Kapitalismus schrecklich ist, versachlichen.
Erik Olin Wright: Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus, Berlin 2017