In den vergangenen fünf Jahren waren die Prognosen der EZB zur Entwicklung der Inflationsrate und der Arbeitslosigkeit schlecht. Das hat Einfluss auf die Geldpolitik. Spätestens nach den Personalwechseln im kommenden Jahr müssen die Strategie und der Instrumenteneinsatz der EZB auf den Prüfstand.
Am kommenden Donnerstag wird die EZB anlässlich der Tagung ihres Zentralbankrats Schätzungen für die Entwicklung wichtiger Wirtschaftsdaten wie des Wirtschaftswachstums, der Inflationsrate und der Arbeitslosigkeit in den kommenden Jahren veröffentlichen. Sie spielen eine wichtige Rolle, weil der Zentralbankrat seine politischen Entscheidungen üblicherweise mit Blick auf die absehbare wirtschaftliche Entwicklung begründet.
Das Problem ist: Auch wenn man berücksichtigt, dass Prognosen der Zukunft immer fehlerbehaftet sein müssen, weil niemand die Zukunft kennt, sind die Prognosen der EZB besonders mit Blick auf die Inflationsrate und die Arbeitslosigkeit zuletzt sehr schlecht gewesen. Darauf weist der Ökonom Zsolt Darvas in einem Blogbeitrag für das in Brüssel ansässige Bruegel-Institut hin. Und auch wenn man akzeptieren muss, dass Konjunkturprognosen nicht perfekt sein können, sollten die jüngsten Erfahrungen der EZB Anlass geben, ihre Strategie, ihre Arbeitsweise und ihren Instrumenteneinsatz grundlegend zu überprüfen – spätestens, wenn im kommenden Jahr die noch nicht bekannten Nachfolger für Präsident Mario Draghi und das für die Volkswirtschaft zuständige Direktoriumsmitglied Peter Praet an Bord sein werden. Solche grundsätzlichen Überprüfungen sind nichts Schlimmes und in allen Notenbanken von Zeit zu Zeit üblich. Kürzlich hat der Fed-Vorsitzende Jerome Powell eine solche Überprüfung für sein Haus angekündigt.
Wie Darvas zeigt, haben die EZB-Ökonomen in den vergangenen fünf Jahren die Inflationsentwicklung systematisch überschätzt und den Rückgang der Arbeitslosigkeit systematisch unterschätzt. Aus ökonomischer Sicht ist dies interessant, weil diese Prognosefehler völlig inkonsistent sind, wenn man die bisher der Geldpolitik in vielen Ländern zugrunde liegende Phillips-Kurve akzeptiert, die einen gegenläufigen Zusammenhang von Inflation und Unterbeschäftigung postuliert. Nach der Phillips-Kurve müsse ein unter den Erwartungen liegender Anstieg der Inflationsrate mit einem unter den Erwartungen liegenden Rückgang der Arbeitslosigkeit einhergehen. Tatsächlich ist, gemessen an den Prognosen der EZB, das genaue Gegenteil der Fall gewesen.
In seinem Blogbeitrag zeigt dies Darvas anhand der sogenannten Kerninflationsrate. Das ist die übliche Inflationsrate, aus der die sehr schwankungsanfälligen und für die Geldpolitik kaum beeinflussbaren Preise für Energie und Nahrungsmittel herausgerechnet werden. Diese Kerninflationsrate ist nicht die offizielle Zielrate der EZB, aber sie wird von Fachleuten stark beachtet. Und in der Tat: Es sind die Energie und die Nahrungsmittel, die in den vergangenen Monaten die offizielle Inflationsrate der EZB knapp über die Marke von 2 Prozent steigen ließen. Die Kerninflationsrate verharrt dagegen bei rund 1 Prozent. Angesichts des starken Rückgangs des Ölpreises in den vergangenen Wochen dürfte in den kommenden Monaten auch die offizielle Inflationsrate der EZB wieder unter 2 Prozent fallen.
Nun haben in den vergangenen Jahren in der akademischen Welt wie in der Welt der Zentralbanken die Zweifel an der Tauglichkeit der Phillips-Kurve zugenommen, und wir haben darüber mehrfach in FAZIT – zum Beispiel hier und hier – geschrieben. Im Falle der EZB ist es, wie auch Darvas vermutet, wohl so, dass die Arbeitslosigkeit kein guter Indikator für den Zustand des Arbeitsmarktes ist und das Angebot an Arbeit, unter anderem als Ergebnis der Migration, in der Eurozone viel größer ist als vermutet. Daher steigen die Löhne nicht so stark wie angenommen. Das ist vermutlich eine Begründung für die Fehlprognosen der EZB, wenn auch sicherlich nicht die einzige.
Wenn aber wie in Japan selbst eine jahrelang sehr expansive Geldpolitik nicht in der Lage scheint, die Kerninflation in Richtung 2 Prozent zu heben, was bedeutet das für die strategische Ausrichtung der Geldpolitik?
Über die Antworten kann und sollte man ausführlich diskutieren. Für die EZB wäre es wichtig, im kommenden Jahr eine solche Debatte zu beginnen.