Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

1000 Blumen gegen die Armut

Der wirtschaftswissenschaftliche Preis in Erinnerung an Alfred Nobel ehrt in diesem Jahr entwicklungspolitische Forschung. Die drei Preisträger ver­zich­ten auf gro­ße Theo­ri­en. Das ist kein Scha­den.

Die Fra­ge, war­um man­che Län­der wirt­schaft­lich bes­ser ent­wi­ckelt sind als an­de­re, ani­miert Öko­no­men und Ent­wick­lungs­po­li­ti­ker oft zum gro­ßen Wurf. Da gibt es schö­ne Ta­bleaus der Ent­wick­lungs­stu­fen, die ein Land na­he­zu na­tur­ge­setz­lich durch­schrei­ten müs­se. Es gibt aus­ufern­de Er­klä­run­gen, war­um das re­gio­na­le Kli­ma die Ent­wick­lung för­de­re oder ver­hin­de­re. Und es gibt ei­ne Viel­zahl von Aus­beu­tungs­theo­ri­en, wo­nach der bö­se und ka­pi­ta­lis­ti­sche Wes­ten den Ar­men in Afri­ka, Asi­en und La­tein­ame­ri­ka kei­ne Chan­ce las­se.

Geht es um prak­ti­sche Fra­gen der Ent­wick­lungs­po­li­tik, wer­den die gro­ßen Wür­fe zu mo­di­schen Wel­len. Mal be­ton­ten Ent­wick­lungs­po­li­ti­ker die Be­deu­tung von In­ves­ti­tio­nen und der Schwer­in­dus­trie. Afri­ka be­kam die Stahl­wer­ke, die Eu­ro­pa nicht mehr brauch­te. Dann galt das Hu­man­ka­pi­tal als ent­schei­dend, das Wis­sen, die Aus­bil­dung und die Fä­hig­kei­ten der Men­schen vor Ort. Die Bil­dung wur­de zu ei­nem Schwer­punkt der Ent­wick­lungs­po­li­tik. Spä­ter ent­deck­ten die Öko­no­men die Be­deu­tung des wirt­schafts­po­li­ti­schen Rah­mens, des Un­ter­neh­mers und der An­rei­ze, die mensch­li­ches Han­deln len­ken. Es wur­de mo­dern, man­gel­haf­te Ent­wick­lung als Er­geb­nis von fal­schen, feh­len­den oder von zu vie­len Re­gu­lie­run­gen zu ana­ly­sie­ren.

Rückenschmerzen oder Entwicklung?

Die­se gro­ßen Wür­fe kol­li­die­ren oft mit der Er­fah­rung von Ent­wick­lungs­hel­fern vor Ort. „Die Frau­en kom­men vom Feld und kla­gen über Rü­cken­schmer­zen“, be­rich­te­te vor Jahr­zehn­ten Bru­der Jo­han­nes, ein Mis­sio­nar in Tan­sa­nia. Die Agrar­hel­fer zeig­ten den Frau­en, dass die Rü­cken­schmer­zen aus­blie­ben, wenn man nicht tief ge­bückt mit ei­ner kur­zen Ha­cke, son­dern auf­ge­rich­tet mit ei­ner lan­gen Ha­cke den Bo­den be­ar­bei­te. Das sei ei­ne gu­te Idee, mein­ten die Frau­en in der Er­zäh­lung des Mis­sio­nars: „Dann ge­hen sie nach Hau­se, neh­men ih­re kur­ze Ha­cke und ma­chen wei­ter.“

Die drei Öko­no­men, die in die­sem Jahr den wirt­schafts­wis­sen­schaft­li­chen Preis der Schwe­di­schen Reichs­bank in Er­in­ne­rung an Al­fred No­bel zu­er­kannt be­kom­men ha­ben, ver­bin­den in ih­rer For­schung die Öko­no­mik mit sol­chen Er­fah­run­gen vor Ort. Sie su­chen nicht den gro­ßen ent­wick­lungs­po­li­ti­schen Wurf, son­dern die Er­fol­ge und das wis­sen­schaft­li­che Ver­ste­hen im Klei­nen. 

Wie kann man die Schul­aus­bil­dung von Kin­dern ver­bes­sern, wenn Schü­ler und Leh­rer oft nicht zum Un­ter­richt er­schei­nen und das Geld für Schul­bü­cher fehlt, ist ei­ne sol­cher Fra­gen. Mi­cha­el Kre­mer, der 54 Jah­re al­te ame­ri­ka­ni­sche Har­vard-Öko­nom, hat sie in Dör­fern in Ke­nia un­ter­sucht und kam zu dem nüch­ter­nen Er­geb­nis, dass mehr nicht im­mer mehr ist: Die schu­li­sche Aus­bil­dung in den Dör­fern wur­de nicht bes­ser, wenn es mehr Schul­bü­cher gab. Sie hing auch nicht da­von ab, ob die Schul­kin­der ein kos­ten­lo­ses Mit­tag­es­sen als An­reiz zum Schul­be­such er­hiel­ten. Wenn Schul­bü­cher ei­nen po­si­ti­ven Ef­fekt hat­ten, dann zeig­te er sich nur bei den bes­ten Schü­lern.

Probieren geht über studieren

Die bei­den an­de­ren Preis­trä­ger, die 46 Jah­re al­te ge­bür­ti­ge Fran­zö­sin Es­ther Duf­lo und ihr Mann Ab­hi­jit Ba­ner­jee, ein 58 Jah­re al­ter Ame­ri­ka­ner in­di­scher Her­kunft, fan­den in ver­gleich­ba­ren Feld­ver­su­chen in In­di­en Ähn­li­ches her­aus. Die schu­li­schen Er­fol­ge ver­bes­ser­ten sich nicht, wenn Leh­rer we­ni­ger Schü­ler be­treu­ten, analysierte das For­scher­paar vom Mas­sa­chu­setts In­sti­tu­te of Tech­no­lo­gy in Bos­ton. Es half da­ge­gen, wenn Leh­rer sich mit Zu­satz­stun­den und Nach­hil­fe be­son­ders um die Pro­blem­schü­ler küm­mer­ten. Es half auch, wenn Leh­rer be­fris­te­te Ver­trä­ge er­hiel­ten, de­ren Ver­län­ge­rung vom schu­li­schen Er­folg der Schü­ler ab­hängt. Sol­che Stu­di­en deu­ten dar­auf hin, dass es in der Ent­wick­lungs­po­li­tik we­ni­ger auf das Aus­maß der Fi­nanz­hil­fen an­kommt, son­dern dar­auf, wofür und wie das Geld ver­wen­det wird.

Wie fin­det man so et­was her­aus? Man pro­biert es aus. Kre­mer, Duf­lo und Ba­ner­jee be­trei­ben oft in Zu­sam­men­ar­beit mit pri­va­ten Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen kon­trol­lier­te Feld­ver­su­che. Man­che Schu­len et­wa be­ka­men Lehr­bü­cher, an­de­re frei­es Mit­tag­es­sen und wei­te­re gar nichts. Sol­che Ex­pe­ri­men­te kön­nen meh­re­re Jah­re dau­ern und Tau­sen­de Schü­ler um­fas­sen. So lässt sich nach ei­ni­ger Zeit im Ver­gleich er­ken­nen, was wirk­lich wirkt. Feld­ver­su­che er­lau­ben, Gren­zen der öko­no­mi­schen Theo­rie zu über­win­den. Theo­re­ti­ker kön­nen un­ter­schied­li­che und ge­gen­läu­fi­ge An­rei­ze be­schrei­ben und ana­ly­sie­ren. Wel­che An­rei­ze stär­ker als an­de­re sind, zeigt aber nur der Blick in die Pra­xis.

Fokus auf heute, nicht morgen 

Die Me­tho­de lässt sich er­folg­reich für an­de­re Fra­gen ver­wen­den. Die Preis­trä­ger zeig­ten et­wa, dass in ar­men Län­dern selbst nied­ri­ge Prei­se für Me­di­ka­men­te zu hoch sein kön­nen. Dass es bil­li­ger sein kann, ar­me Men­schen auch für kos­ten­lo­se Schutz­imp­fun­gen noch zu­sätz­lich fi­nan­zi­ell zu be­loh­nen. Dass Men­schen in Ent­wick­lungs­län­dern mit dem täg­li­chen Über­le­ben oft voll be­schäf­tigt sind und sich des­halb nicht hin­rei­chend um ih­re Zu­kunft küm­mern. Das hat über­ra­schen­de Fol­gen. Be­fris­te­te Fi­nanz­hil­fen für Dün­ger wir­ken bes­ser als dau­er­haf­te Sub­ven­tio­nen. Die Be­fris­tung mo­ti­viert die Men­schen, das An­ge­bot wirk­lich an­zu­neh­men und die Ent­schei­dung nicht stän­dig zu ver­schie­ben.

Ba­ner­jee und Duf­lo ha­ben auch her­aus­ge­fun­den, dass die viel­fach ge­rühm­ten Mi­kro­kre­di­te in Ent­wick­lungs­län­dern dem Dorf oder der Re­gi­on nicht viel brin­gen, mit Aus­nah­me von be­son­ders mo­ti­vier­ten Un­ter­neh­mern. Das ist ei­ne wich­ti­ge Er­kennt­nis, er­hiel­ten doch im Jahr 2006 der Er­fin­der der Mi­kro­kre­di­te, Mu­ham­mad Yu­nus, und sei­ne Gra­me­en Bank für die ent­wick­lungs­po­li­ti­sche In­no­va­ti­on den Frie­dens­no­bel­preis zu­ge­spro­chen.

Kein großer Wurf

Auf die schwie­rigs­te Fra­ge, die sich bei die­ser Art der For­schung stellt, gibt es kei­ne Ant­wort: Las­sen die Er­geb­nis­se von Feld­ver­su­chen in ei­nem Dorf in Ke­nia sich auf ein Dorf in In­di­en über­tra­gen? „An­de­re Län­der, an­de­re Sit­ten“, fällt ei­nem so­fort als ge­wich­tigs­tes Ge­gen­ar­gu­ment ein. Wahr­schein­lich wird das dau­er­haft ver­hin­dern, dass aus der For­schung der neu­en Preis­trä­ger ein gro­ßer Wurf ent­steht. Das muss kein Scha­den sein. „Lasst tau­send Blu­men blü­hen“, diese Formel ent­spricht eher dem Den­ken der drei Öko­no­men. Die Feld­ver­su­che sol­len klei­ne Pro­ble­me vor Ort lö­sen. Sie ver­bin­den sich mit der Hoff­nung, dass vie­le ge­lös­te Schwie­rig­kei­ten auch ein Land ins­ge­samt vor­an­brin­gen. „Es ist ein Feh­ler zu glau­ben, dass Ar­mut ein ein­zi­ges Pro­blem ist“, sagt Ba­ner­jee.

Die drei Öko­no­men hät­ten mit ih­ren Ar­bei­ten und For­schungs­me­tho­den die wis­sen­schaft­li­che Ent­wick­lungs­po­li­tik um­ge­krem­pelt, be­tont die Schwe­di­sche Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten. Das mag stim­men, kann sich aber wie so vie­le frü­he­re Ide­en der For­schung als Mo­de­wel­le er­wei­sen. Wich­ti­ger ist viel­leicht, dass die Me­tho­de der ver­glei­chen­den Feld­ver­su­che Öko­no­men da­zu zwingt, vor Ort die wirk­li­chen Pro­ble­me und das Klein-Klein der wirt­schaft­li­chen Ent­wick­lung ken­nen­zu­ler­nen. Sol­che Rei­sen bil­den manch­mal mehr als das Nach­den­ken im El­fen­bein­turm.

Mehr über die Preis­trä­ger im In­ter­net un­ter www.​nob​elpr​ize.​org.

Dieser „Sonntagsökonom” erschien am 20. Oktober in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

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