Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Geldpolitik in der Vierten Industriellen Revolution

Künstliche Intelligenz, Big Data und maschinelles Lernen verändern Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig. Aus den drei Industriellen Revolutionen der Vergangenheit lässt sich erahnen, was auf uns zukommt – auch für die Geldpolitik.

 

In einem sehr interessanten Vortrag hat Stephen Poloz, der Gouverneur der Bank of Canada, die drei früheren sowie die in Gang gekommene Vierte Industrielle Revolution auf Muster untersucht. Nicht nur für die Geldpolitik, aber auch für sie stellen Phasen starken technischen Wandels eine Herausforderung dar.

Seine Ausführungen weisen weit in die Zukunft und stellen einen willkommenen Kontrapunkt zu der kuriosen Debatte über eine vermeintliche “Zombifizierung” der Wirtschaft dar, die einige Ökonomen in Deutschland derzeit führen – so, als hätten sie bis heute nicht mitbekommen, wie stark die primär technologisch motivierten Umwälzungsprozesse die Wirtschaft verändern.

Erscheinungsformen der Industriellen Revolutionen

Poloz unterscheidet realwirtschaftliche und finanzwirtschaftliche Begleiterscheinungen Industrieller Revolutionen, die natürlich miteinander verbunden sind. Zu den realwirtschaftlichen Effekten zählen:

  • Neue Technologien zerstören existierende Berufsbilder und Arbeitsplätze. Das sorgt für Unruhe unter den Menschen, die davon unmittelbar betroffen sind und bei jenen, die sich bedroht fühlen.
  • Mit den neuen Technologien entstehen neue Berufsbilder und Arbeitsplätze. Dieser Prozess benötigt allerdings häufig Zeit und ist zu Beginn nicht erkennbar.
  • Die neuen Technologien führen längerfristig zu einem deutlichen Anstieg der Produktivität und, ceteris paribus, zu einem zunehmenden Potentialwachstum. Auch dies ist am Anfang einer Industriellen Revolution häufig noch nicht erkennbar.
  • Stattdessen profitieren von neuen Technologien zunächst nicht selten nur wenige Unternehmen, die eine hohe Marktmacht erlangen. In dieser Phase ist technischer Fortschritt erkennbar, aber er schlägt sich noch nicht in gesamtwirtschaftlichen Kennziffern nieder, weil sich der Fortschritt erst in der Wirtschaft ausbreiten muss. Es kommt zum sogenannten “Produktivitätsparadoxon.”

Auf die Dauer bewirkt der technologische Fortschritt aber sinkende Preise für viele Güter und Dienstleistungen. Dies drückt die Inflationsrate und kann sogar zu einer Deflation führen.

Das führt uns zu den finanzwirtschaftlichen Effekten:

  • Starker technischer Fortschritt sorgt für Euphorie an den Aktienmärkten, an denen die Kurse kräftig steigen. Es entsteht die Gefahr eines finanziellen Exzesses, der zum Börsenkrach führen kann. Dies ist unabhängig von der Geldordnung.
  •  Eine Deflation steigert die reale Last der Schulden. Das kann nach einem Börsenkrach in einer anschließenden Rezession die Krise verschärfen.

Industrielle Revolutionen

Wirtschaftshistoriker unterscheiden mehrere Industrielle Revolutionen.

Die Erste Industrielle Revolution begann mit der Erfindung der Dampfmaschine und erstreckte sich vom Ende des 18. Jahrhunderts bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die Mechanisierung veränderte die Welt nachhaltig, hatte aber auch negative Begleiterscheinungen, zum Beispiel Börsencrashs nach 1870 und eine längere Phase der Deflation (“Viktorianische Deflation”). Das war in der  Zeit der Goldwährung.

Mit der Zweiten Industriellen Revolution, die vom Ende des 19. Jahrhunderts bis etwa zum Jahre 1970 währte, verbinden sich die Elektrifizierung und die industrielle Herstellung von Gütern für die breite Masse wie Kühlschränke und Autos. In dieser Zeit nahmen Produktivität und wirtschaftlicher Wohlstand insgesamt deutlich zu, aber nach dem Börsenkrach von 1929 war eine längere Phase der Rezession und der Deflation zu überwinden. Damals erlangte der mit dem Namen John Maynard Keynes verbundene Gedanke, mit aktiver Geld- und Finanzpolitik gegen Krisen vorzugehen, große Popularität.

Mit der Dritten Revolution, die sich auf die Zeit von der Mitte der siebziger Jahre bis kurz nach der Jahrtausendwende veranschlagen lässt, verbinden sich Begriffe wie Speicherchips, Informationstechnologie sowie die Entstehung globaler Lieferketten in einer sich integrierenden Weltwirtschaft, in der Asien eine zunehmend wichtige Rolle spielt. Zwar kam es um das Jahr 2000 wieder zu einem Boom und einem anschließenden Krach an der Börse, aber eine lange währende und schwere Depression blieb auch nach der Finanzkrise des Jahres 2008 aus. “Die Politik war dieses Mal deutlich besser”, schreibt Poloz. Die Geldpolitik und die Finanzpolitik (einschließlich der sozialen Netze) hätten dieses Mal für eine raschere Erholung aus der Krise gesorgt.

Die lange Zeit expansive Geldpolitik hält Poloz so lange für richtig, wie die Inflationsrate niedrig bleibt und die Geldpolitik ein auf steigender Produktivität gestütztes Wirtschaftswachstum finanziert. Das ist die Gegenthese zur Ansicht der “Zombifizierungs”-Adepten: Großzügige Geldversorgung erleichtert Schumpeters schöpferische Zerstörung. (Wer Schumpeter gelesen hat, weiß, dass auch bei ihm monetäre Expansion den schöpferischen Zerstörungsprozess begleitet.)

Doch muss die nach Ansicht Poloz’ Geldpolitik aufpassen, nicht zu lange zu expansiv zu bleiben: “Als der Technologieschock reif wurde und die Geldpolitik locker blieb, stellten sich allerdings unvorhergesehene Nebenwirkungen ein: Finanzielle Ungleichgewichte bauten sich auf, die zur globalen Finanzkrise und zur Rezession führten. Im Ergebnis wurden regulatorische und geldpolitische Rahmenwerke entwickelt, um solche Risiken künftig im Griff zu behalten. Wiederum lernen Politiker aus Fehlern der Vergangenheit.”

In die Vierte Industrielle Revolution

Was heißt dies für die Zukunft? “In der Vierten Industriellen Revolution geht es um die Digitalisierung der Weltwirtschaft”, schreibt Poloz. “Im Kern handelt es sich um maschinelles Lernen, Big Data und um Künstliche Intelligenz, die alle das Potential besitzen, die Leistungsfähigkeit in allen Wirtschaftszweigen zu steigern.”

Für die Geldpolitik bedeutet dies: “Die besonders aus der Dritten Industriellen Revolution gewonnenen Lehren deuten auf eine Notwendigkeit, durch eine lockere Geldpolitik das angebotsgetriebene Wachstum der Wirtschaft zu unterstützen, indem Inflationsziele die Geldpolitik verankern und makroprudentielle Instrumente den Aufbau von finanziellen Ungleichgewichten in Schach halten.” Mit anderen Worten: Angesichts künftiger nachhaltiger Produktionszuwächse aus dem technischen Fortschritt wäre die aktuelle Geldpolitik gar nicht so falsch.

In der Praxis ist es allerdings nicht so einfach, wie Poloz einräumt. Denn von den deutlichen Zuwächsen der Produktivität ist noch nichts zu sehen, wohl aber von den Schwierigkeiten, die am Beginn einer Industriellen Revolution stehen: Viele Menschen sehen ihre Jobs bedroht, sie misstrauen dem Wandel und die frühen Gewinner aus dem Einsatz neuer Technologien bauen starke Marktpositionen auf, die Wettbewerbshüter auf den Plan rufen müssten. (Wachsende Marktmacht in den Vereinigten Staaten ist das Thema eines ausgezeichneten Buchs des Ökonomen Thomas Phillipon: “The Great Reversal”.)

Und so lange das so ist, gerät expansive Geldpolitik unter Rechtfertigungszwang: “Versicherungen, dass eine durch technische Veränderungen getriebenes Wirtschaftswachstum disinflationär wirkt, so dass die Zinsen unverändert bleiben können oder gar sinken können, wird man erst lange nach dem Eintritt des höheren Wirtschaftswachstums nachweisen können.” Geldpolitik findet in einer solchen Situation in einem durch hohes Unsicherheit geprägten Umfeld statt, weil auch Zentralbanken Schwierigkeiten haben, auf technologischen Revolutionen beruhende Veränderungen der Wirtschaft richtig einzuschätzen – nicht zuletzt, weil die Messung von Produktivitätsänderungen schwierig ist. 

Mehr zum Produktivitätsparadoxon

Diese Schwierigkeiten thematisiert ausführlich das aktuelle Jahresgutachten des deutschen Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage.  Darin heißt es: “Der weltweite Rückgang des Produktivitätswachstums scheint im Widerspruch zu der Hoffnung zu stehen, die in die produktivitätssteigernden Wirkungen der zunehmenden Computerisierung sowie die Entwicklung neuer Anwendungen der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), wie Cloud Computing, Maschinelles Lernen oder Künstliche Intelligenz, gesetzt wird. Zwar waren IKT-intensive Industrien für die zeitweise Beschleunigung des Produktivitätswachstums in den USA im Zeitraum von 1995 bis 2005 verantwortlich. Angesichts des weiteren Fortschritts in den IKT über die vergangenen Jahre erscheint die derzeitige schwache Entwicklung allerdings als Produktivitätsparadoxon.”

Als mögliche Ursachen für das Paradoxon werden in dem Gutachten genannt:

  • Adaptionsverzögerungen: Die Ausbreitung von Innovationen in der Wirtschaft kann sich verzögern, wenn sie Humankapitalbildung oder veränderte betriebliche Organisationen voraussetzt. “Beispielsweise dauerte es über 40 Jahre ab der Erfindung des elektrischen Antriebs, bis 25 Prozent der Leistung in amerikanischen Fabriken elektrisch erzeugt wurden und sich dies in höheren Produktivitätsgewinnen zeigte.”
  •  Eine Überschätzung des Innovationspotentials. Vielleicht ist mit neuen Informationstechnologien ein geringeres Wachstumspotential für die Produktivität verbunden als erwartet.
  •  Messprobleme: Möglicherweise erfassen die offiziellen Statistiken nur einen Teil der mit der Vierten Industriellen Revolution verbundenen Wandlungsprozesse.

Poloz ist Technikoptimist. Seine Schlussfolgerung lautet: Es spricht viel für eine Geldpolitik in der Tradition Greenspans: So lange die Inflationsrate niedrig liegt, sollte die Zentralbank Gas geben, um das durch Angebotsveränderungen getriebene Wirtschaftswachstum bestmöglich zu unterstützen – gerade auch im Interesse der Verlierer des Wandels. Anders als zu Zeiten Greenspans allerdings muss die Gefahr finanzieller Ungleichgewichte genau im Blick gehalten und die Möglichkeiten sowie Grenzen von Regulierungspolitik genau analysiert werden. Denn eine weitere große Finanzkrise braucht niemand.