Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Der Staat, die Macht und das Virus

| 8 Lesermeinungen

Die Politik hat noch keine Krise als Chance ausgelassen, um ihren Einfluss auf das Leben der Bürger zu weiten. Mit dem Coronavirus droht eine neue Sperrklinke. 

Mit gro­ßer Wucht haben die Re­gie­run­gen Eu­ro­pas und Ame­ri­kas in das Leben ihrer Bür­ger ein­ge­grif­fen, um die Aus­brei­tung des neuen Co­ro­na­vi­rus zu ver­lang­sa­men: Aus­gangs­sper­ren, Schlie­ßun­gen von Ge­schäf­ten, Ein­rei­se­ver­bo­te. Die An­ord­nun­gen er­in­nern an Kriegs­zei­ten. Nicht um­sonst be­mü­hen man­che Po­li­ti­ker mar­tia­li­sches Vo­ka­bu­lar, um die Ein­grif­fe zu recht­fer­ti­gen. 

Trotz vie­ler Un­ter­schie­de fol­gen Po­li­tik und staat­li­che Bü­ro­kra­tie über­all im Kern den Emp­feh­lun­gen von Epi­de­mie­for­schern. Diese lau­fen ver­ein­facht ge­sagt dar­auf her­aus, durch so­zia­le Di­stanz und eine zeit­wei­se Aus­trock­nung des ge­sell­schaft­li­chen Le­bens die Aus­brei­tung des Virus zu ver­lang­sa­men. Ziel ist es, das Ge­sund­heits­sys­tem nicht zu über­las­ten und Zeit zu ge­win­nen, um Me­di­ka­men­te oder einen schüt­zen­den Impf­stoff zu fin­den und zu ent­wi­ckeln. Die Emp­feh­lun­gen set­zen viel Ver­trau­en in die Fä­hig­kei­ten der For­scher und der Po­li­tik vor­aus, als quasi wohl­mei­nen­de Dik­ta­to­ren Ri­si­ken zu er­ken­nen und rich­tig ein­zu­schät­zen.

Vom Angebots- zum Nachfrageschock

Öko­no­men waren auf die Pan­de­mie we­ni­ger gut vor­be­rei­tet, doch erste Ana­ly­sen wer­den ver­öf­fent­licht. So­lan­ge das Virus über­wie­gend noch in China wü­te­te, wurde die Krise vor allem als An­ge­bots­schock wahr­ge­nom­men. Die Zer­brech­lich­keit der glo­ba­len Lie­fer­ket­ten stand im Vor­der­grund der Sor­gen. Mit der aus­grei­fen­den Po­li­tik der Ab­schot­tung und so­zia­len Di­stan­zie­rung ste­hen die Län­der nun vor einem An­ge­bots- und vor einem Nach­fra­ge­schock, wie die Öko­no­men Ei­chen­baum, Re­be­lo und Tra­bandt be­to­nen. Die drei Öko­no­men gehen davon aus, dass es immer einen Ge­gen­satz geben werde zwi­schen Pan­de­mie­be­kämp­fung und wirt­schaft­li­cher Ent­wick­lung. Der Ge­dan­ken­gang ist leicht nach­zu­voll­zie­hen. Kom­men immer mehr Men­schen aus Angst vor dem Virus immer sel­te­ner zu­sam­men, dann gibt es we­ni­ger In­fek­tio­nen. Doch zu­gleich schrumpft die Pro­duk­ti­on, und es sinkt die Nach­fra­ge nach Gü­tern.

Einen Kon­tra­punkt da­ge­gen setz­ten die drei Öko­no­men Cor­reia, Luck und Ver­ner in einer his­to­ri­schen, da­ten­ba­sier­ten Ana­ly­se. Sie bli­cken zu­rück auf die Spa­ni­sche Grip­pe, die von 1918 bis 1920 schät­zungs­wei­se zu mehr als 50 Mil­lio­nen To­des­fäl­len welt­weit führ­te. In den Ver­ei­nig­ten Staa­ten brei­te­te sich die Grip­pe grob ge­sagt von Ost nach West aus. Die Städ­te im Wes­ten sahen, was auf sie zukam, und re­agier­ten schnel­ler und ag­gres­si­ver mit Ge­schäfts­schlie­ßun­gen und so­zia­ler Di­stanz auf die Epi­de­mie. Im Ver­gleich der Städ­te zeigt sich, dass das schnel­le Ein­grei­fen gegen das Grip­pe­vi­rus die Wirt­schaft nicht stär­ker be­las­te­te. Im Ge­gen­teil zeig­ten die Städ­te, die sich der Epi­de­mie ent­schlos­sen ent­ge­gen­stell­ten, eine bes­se­re wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung nach dem Ende der Grip­pe­wel­le als die an­de­ren. Den Grund muss man wohl darin ver­mu­ten, dass ein schnel­les Ein­grei­fen we­ni­ger Men­schen­le­ben kos­te­te und so spä­ter eine schnel­le­re Wie­der­be­le­bung der Wirt­schaft er­mög­lich­te.

Die Spanische Grippe im Vergleich

Die Ana­ly­se lässt hof­fen, dass die heu­ti­gen dras­ti­schen Ein­grif­fe we­ni­ger schäd­li­che Ne­ben­wir­kun­gen auf die Wirt­schaft haben wer­den als be­fürch­tet. Doch mah­nen die Au­to­ren vor zu weit rei­chen­den Schlüs­sen. Die Spa­ni­sche Grip­pe ver­lief er­heb­lich töd­li­cher, als es die Ster­be­da­ten für das neue Co­ro­na­vi­rus an­zei­gen. Der ver­mu­te­te wirt­schaft­li­che Vor­teil einer um­fas­sen­den Kon­takt­sper­re schwin­det aber dahin, wenn das Virus ge­ra­de in den Jahr­gän­gen im ar­beits­fä­hi­gen Alter nicht oder nur wenig mit der Sense wütet.

Zu­gleich dürf­ten die wirt­schaft­li­chen Kos­ten der Ab­schot­tung heute unter an­de­rem wegen der glo­ba­len Lie­fer­ket­ten grö­ßer sein als zur Zeit der Spa­ni­schen Grip­pe. Frei­lich sind die Volks­wirt­schaf­ten heute stär­ker als da­mals von Dienst­leis­tun­gen ab­hän­gig, die auch über das In­ter­net aus der Ferne aus­ge­übt wer­den kön­nen. Das min­dert im Ver­gleich zu vor 100 Jah­ren die wirt­schaft­li­chen Kos­ten einer Pan­de­mie­be­kämp­fung durch so­zia­le Di­stanz. Alles in allem sind die Un­ter­schie­de zwi­schen Spa­ni­scher Grip­pe da­mals und Co­ro­na­vi­rus heute wohl zu groß, um die Er­geb­nis­se der his­to­ri­schen Ana­ly­se eins zu eins zu über­tra­gen.

Das Virus als politische Sperrklinke

Viele Öko­no­men fo­kus­sie­ren auf sol­che kurz- und mit­tel­fris­ti­gen Fol­gen der Pan­de­mie und der Ge­gen­maß­nah­men. Min­des­tens so wich­tig sind indes die lang­fris­ti­gen Fol­gen. Po­li­tik und Bü­ro­kra­tie in de­mo­kra­ti­schen Staa­ten haben noch keine Krise als Chan­ce aus­ge­las­sen, um ihren Ein­fluss auf das Leben der Bür­ger zu wei­ten. Der ame­ri­ka­ni­sche Öko­nom und His­to­ri­ker Ro­bert Higgs be­schrieb das vor mehr als drei­ßig Jah­ren in sei­ner Stu­die „Krise und Leviathan“ als Sperr­klin­ken­ef­fekt: Der Staat ge­winnt in der Krise Macht hinzu, die er da­nach nur noch zum Teil wie­der ab­gibt.

Diese Ge­fahr droht auch jetzt. Wenn Öf­fent­lich­keit und Bü­ro­kra­tie sich erst ein­mal an die schein­bar faire und effektive Pan­de­mie­be­wirt­schaf­tung von Ge­sichts­mas­ken, me­di­zi­ni­schem Gerät und viel­leicht gar Le­bens­mit­teln ge­wöhnt haben, wer­den sie dann nach der Krise wie­der der frei­en Markt­wirt­schaft Vor­rang geben? Wer­den Par­la­men­ta­ri­er dem Druck von In­ter­es­sen­grup­pen wi­der­ste­hen, wenn es nach der Krise darum geht, be­fris­te­te Fi­nanz­hil­fen wie­der zu­rück­zu­neh­men? Stem­men Po­li­ti­ker sich künf­tig gegen den Wunsch nach mehr Schul­den, wenn sie heute fis­ka­li­sche Hilfs­pa­ke­te der Son­der­klas­se ge­neh­mi­gen? Mit einem kla­ren und über­zeu­gen­den Ja lässt sich keine die­ser Fra­gen be­ant­wor­ten. Das ist bei allen schein­bar un­ab­ding­ba­ren Kri­sen­maß­nah­men zu be­den­ken.

Sperr­klin­ken­ef­fek­te sind auch ge­ge­ben, wenn die Krise miss­braucht wird, um an­hän­gi­ge Wün­sche be­stimm­ter Grup­pen nach einer in­sti­tu­tio­nel­len Neu­ord­nung durch­zu­set­zen. Braucht es wie be­haup­tet Eu­ro­an­lei­hen, damit Eu­ro­pa eine an­ge­mes­se­ne Ant­wort auf die Pan­de­mie geben kann? Na­tür­lich nicht. Stimm­te die Logik der Be­für­wor­ter, müss­te man für Welt­an­lei­hen, nicht aber für Eu­ro­an­lei­hen ein­tre­ten. Doch der Ruf nach der eu­ro­päi­schen So­li­da­ri­tät in der Krise ist mäch­tig. 

Der deut­sche Öko­nom Hans-Wer­ner Sinn hat vor­ge­schla­gen, dass Deutsch­land dem vom Co­ro­na­vi­rus schwer ge­trof­fe­nen Nach­bar­land Ita­li­en ein­fach und ohne Auf­la­gen 20 Mil­li­ar­den Euro spen­den solle. Das wäre ge­leb­te So­li­darität in Eu­ro­pa, ohne dass die Sperrklin­ke eines wei­te­ren Um­ver­tei­lungs­pro­gramms in den Fän­gen eu­ro­päi­scher Bü­ro­kra­ten droht.

 

Ser­gio Cor­reia, Ste­phan Luck und Emil Ver­ner (26.3.2020): Pan­de­mics De­press the Eco­no­my, Pu­blic Health In­ter­ventions Do Not: Evi­dence from the 1918 Flu.

Mar­tin Ei­chen­baum, Ser­gio Re­be­lo und Ma­thi­as Tra­bandt (2020): The Ma­cro­eco­no­mics of Epi­de­mics, www.nber.org/ papers/w26882.

Ro­bert Higgs (1987): Cri­sis and Le­via­than. Ox­ford Uni­ver­si­ty Press.

Dieser „Sonntagsökonom” erschien am 29. März in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Der Autor auf Twitter und  Facebook.

 

 


8 Lesermeinungen

  1. haraldsteuff sagt:

    Die Illusion der eigenen Unverletzbarkeit...
    …ist ein Thema in vielen Sicherheitsseminaren! “Mir passiert das nicht” ist nun einmal die gängige Philosophie mit Gefahren umzugehen. Und nun der Virus – allgegenwärtig! Ängste werden geschürt und jeden Tag gibt es neue Zahlen von Verstorbenen Mitmenschen. Grauenvoll! Also muß der Staat – oder aufgrund einer Dynamik – müssen alle Staaten nun reagieren! Ausgangsbeschränkungen, Strafen, Reisefreiheit und Grundrechte ade…. Um Leben zu retten! Natürlich – denn das gebietet die Menschlichkeit. Oder? Sicherlich könnten wir mit sehr strikten Maßnahmen täglich 3.700 Menschenleben zusätzlich retten! Wenn nämlich niemand mehr auf die Straße darf – denn 3.700 Menschen sterben statistisch gesehen täglich im Straßenverkehr. Und wenn wir dann noch verbieten würden,außerhalb des Homeoffice zu arbeiten, ja dann könnten wir weitere 6.000 Menschen täglich von einem zu frühen Tod durch Arbeitsunfälle bewahren. Also zusammen fast 10.000 Menschen jeden Tag… Doch da dürfen wir selbst bestimmen – beim Virus sagt uns der Staat, was wir dürfen und was nicht. Wieso eigentlich?

    • Gerald Braunberger sagt:

      Sie schreiben. “Also zusammen fast 10.000 Menschen jeden Tag… Doch da dürfen wir selbst bestimmen – beim Virus sagt uns der Staat, was wir dürfen und was nicht. Wieso eigentlich?”

      Aus einem offensichtlichen Grund, der seit Ausbruch der Krise eigentlich auch häufig genug ausgesprochen worden ist: Im Straßenverkehr und bei Arbeitsunfällen existiert keine Ansteckungsgefahr – beim Coronavirus schon. Und im Unterschied zur gewöhnlichen Grippe gibt es gegen das aktuelle Virus keinen Impfstoff.

      Gruß
      gb

    • Antesde sagt:

      Umgang mit Zahlen?
      Es sterben jährlich 3700 Personen im Straßenverkehr, nicht täglich. Tödliche Arbeitsunfälle: Ca. 500 pro Jahr. Desinformation ist momentan wirklich nicht notwendig.

      Mit Covid-19 steht es einen Tick komplizierter, als man auf den allerersten Blick erkennen kann: Bisher sind ca. 1600 Personen gestorben in Deutschland. Die Dunkelziffer wird auf den Faktor 10 geschätzt. Bei 100.000 bekannten Infizierten müsste man von 1 Million infizierten Menschen ausgehen. Würde man die Durchseuchung der Gesamtbevölkerung zulassen, würden foglich 80×1600 Personen sterben = 128.000.

      Das stimmt jedoch nicht, da das Gesundheitssystem in Kürze aufhören würde, zu funktionieren. Es ist für die Dämpfung der Sterblichkeitsrate aber der entscheidende Faktor. Diese wäre folgend ca. um den Faktor 10 höher, man käme ungefähr auf 1,3 Millionen Tote. Vergleichbar mit den Kriegstoten eines Jahres Zweiter Weltkrieg. Zudem wäre die Auflösung der sozialen Ordnung und der totale Kollaps der Wirtschaft anschließend so gut wie sicher, was die Zahlen nochmals weit nach oben treiben würde. Es würde dann so ungefähr gemütlich werden wie der dreißigjährige Krieg, nur dass es viel schneller ginge.

  2. tea4two sagt:

    Wer reitet den toten Gaul?
    Das fragt man sich, wenn man die Corona Krise mal sachlich verfolgen möchte. Wer schaut sich denn wirklich mal die Zahlen an, die der “Krise” zugrunde liegen. Wo sind die klugen Köpfe, die nicht nur hinter, sondern bei der Zeitung arbeiten sollten. Getreu dem Motto “Glaube keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast”, würde ich doch meinen, es sollte Menschen geben, die Statistiken lesen können. Die Wirtschaft anzuhalten wegen einer Grippe Epidemie ist in meinen Augen unverhältnismäßig. Ich möchte mich nicht zu den Verschwörungstheoretikern zählen, aber bitte recherchieren Sie doch in einschlägigen Dokumenten (dazu zähle ich nicht youtube, wobei dort seltsamerweise alle kritischen Berichte innerhalb kürzester Zeit verschwinden – Zensur?), sondern das English Journal of Medicine, Euromoma, die Regierungsseite von UK, https://www.gov.uk/guidance/high-consequence-infectious-diseases-hcid und viele andere Quellen und Ärzte, die die Krise wesentlich entspannter sehen, als die aufgeschreckte Regierung. 35 000 Anträge auf Kurzarbeit in Hessen, bei 21 Todesfällen bei uns? Ich erkenne keine Maß und keine Verhältnismäßigkeit. Ich fürche die Selbstmordrate wird in Kürze die Todesrate an Corona um Einiges toppen. Ein grausames und trauriges Bild. Ich wünsche mir Reporter, die ihre Arbeit machen und den Tatsachen auf den Grund gehen. Und Leser, die selbst mal Ihren Kopf anstrengen. Im Moment habe ich das Gefühl, es wird ungefiltert wiederholt, was einige Wenige vorplappern.
    Wir sind noch nicht in China, wo Informationen sorgfältig verschlossen bleiben, erhalten wir uns eine Demokratie und die Freiheit…die gerade verloren geht bei immer mehr Einflußnahme des Staates.
    Traurige Wahrheiten… leider.

    • Gerald Braunberger sagt:

      In den vergangenen zwei Wochen sind in der F.A.Z. eine große Zahl von Artikel erschienen, die sich mit dem Thema Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen befassen. Haben Sie davon rein gar nichts mitbekommen?
      Gruß
      gb

    • Heismann sagt:

      Titel eingeben
      Im Gegensatz zu Verkehrsunfällen, deren Zahl sich von Jahr zu Jahr nicht grundlegend ändert, nehmen hochansteckende Seuchen gemeinhin einen exponentiellen Verlauf. Bei Covid-19 würde sich die Zahl der Todesopfer etwa alle drei bis fünf Tage verdoppeln, wenn die Politik nicht eingreifen würde.

      Genau dies ist in Italien geschehen, wo die Zahl der Sterbefälle bis auf fast 1.000 pro Tag anstieg, bis endlich die drakonischen Kontaktsperren griffen, die die Regierung verhängt hatte. Ohne diese drakonischen Maßnahmen wären jetzt vermutlich pro Tag 2.000, 4.000 oder gar 8.000 Todesopfer zu beklagen. Zum Vergleich: Insgesamt sterben in Italien pro Tag im Durchschnitt etwa 2.000 Menschen.

      Welche katastrophalen Folgen eine ungebremste Ausbreitung des Coronavirus haben könnte, beleuchtet ein Artikel, der am 12. März im New England Journal of Medicine erschien, eine der angesehensten medizinischen Fachzeitschriften der Welt. Der Autor ist David S. Jones, Professor an der Harvard Medical School.

      „Some experts warn that half the world’s population will be infected by year’s end, an incidence that could result in more than 100 million deaths“, schreibt der Verfasser. Das wäre, wenn ich dies richtig sehe, vermutlich das tödlichste Ereignis der gesamten Menschheitsgeschichte.

      Professor Jones hält ein solches Szenario zwar für ziemlich unwahrscheinlich. Er stellt aber auch fest: „But it is, regrettably, a possibility.“ Wenn die Pandemie solche Ausmaße annehmen würde, hätte sie soziale, ökonomische und politische Folgen, die wir uns gar nicht ausmalen können.

      Derzeit wissen wir einfach zu wenig, um eine solche Menschheitskatstrophe definitiv ausschließen zu können. Vielleicht beträgt die Mortalität von Covid-19 ein Prozent, vielleicht auch nur 0,05 Prozent, möglicherweise liegt sie aber auch erheblich höher. Kein Experte kann dies heute mit Bestimmtheit sagen.

      Belastbare Erkenntnisse über Infektionsraten und Letalität liegen hoffentlich in den nächsten Wochen vor, wenn die angekündigten repräsentativen Stichproben durchgeführt worden sind. Bis dahin müssen wir die tiefen Einschnitte in die Bürgerrechte m. E. wohl oder übel hinnehmen.

  3. Heismann sagt:

    Cholera 1892
    Wenn die Corona-Seuche hoffentlich eines Tages besiegt ist, werden wir vermutlich in der Tat sehen, dass der Staat seine Befugnisse kräftig erweitert hat, wie der Autor des Blog-Beitrags mutmaßt.

    Doch wären größere Kompetenzen der Regierung (und damit zwangsläufig verbunden eine größere Macht über die Bürger) nun grundsätzlich falsch – oder doch vielleicht dringend geboten? Aufklärung gibt m. E. ein kleiner Blick zurück in die Geschichte.

    Im Jahr 1892 wurde Europa von einer furchtbaren Cholera-Epidemie heimgesucht. Besonders schlimm wütete die Seuche in Hamburg, wo 8.600 Menschen ums Leben kamen.

    Ein Hauptgrund für die hohe Zahl an Todesopfern waren die katastrophalen hygienischen Verhältnisse in der Hansestadt. Zehntausende von Arbeitern mussten in versifften Kellerwohnungen in den berüchtigten Gänge-Vierteln leben.

    Obendrein gewann Hamburg sein Trinkwasser damals weitgehend ungefiltert aus der Elbe; bei Flut kamen Trinkwasser und Abwässer regelmäßig in physischen Kontakt.

    In Altona, seinerzeit noch eine eigenständige Stadt unter preußischer Verwaltung, wurde das Trinkwasser damals hingegen längst mit Sandfiltern gereinigt; folglich gab es dort weit, weit weniger Todesfälle als in Hamburg.

    Der Senat, überwiegend besetzt mit geldbewussten Kaufleuten, Bankiers und Reedern, hatte es nicht für notwendig gehalten, die hygienischen Verhältnisse zu verbessern. Nach Ausbruch der Cholera-Epidemie versuchten die Pfeffersäcke obendrein, das Ausmaß der Seuche zu vertuschen, um Handel und Schifffahrt nicht zu gefährden.

    Die Reichsregierung sah sich zum Eingreifen gezwungen und entsandte einen Reichskommissar nach Hamburg, der die Bekämpfung der Cholera koordinieren sollte. Er wurde unterstützt von Robert Koch, dem zuvor der Nachweis gelungen war, dass Cholera-Bazillen sich über kontaminiertes Wasser verbreiten.

    Unter dem Druck der Regierung in Berlin schuf die Hamburger Stadtverwaltung eine ganze Reihe neuer Institutionen und Gesetze.

    So erließ der Senat Vorschriften, mit denen der Bau unhygienischer Mietskasernen verhindert werden sollte. Die unsäglichen Gänge-Viertel, ein Hotspot der lokalen Epidemie, wurden abgerissen oder saniert.

    Überdies wurde ein Wasserwerk auf dem Stand der Technik gebaut. Kurz darauf folgte eine Müllverbrennungsanlage.

    Ferner schuf die Stadt das neue Amt des Hafenarztes, der die Maßnahmen zur Bekämpfung von Seuchen koordinieren sollte. Parallel wurde ein Institut für Hygiene und Tropenmedizin gegründet.

    Gleichzeitig wurde die medizinische Betreuung und Kontrolle der zahllosen Migranten verbessert, die aus Mittel- und Osteuropa via Hamburg in die USA auswandern wollten. Vor der Abreise wurden sie für mehrere Wochen zur Quarantäne in den Hallen der sogenannten Ballinstadt untergebracht.

    Schließlich wurde die Partizipation der Einwohner im Senat verbessert. Neben den Patriziern kamen dort jetzt auch Kleinbürger und Arbeiter stärker zu Wort.

    Diese zum Teil radikalen Neuerungen, gegen die freilich kein vernünftiger Mensch Einwände haben konnte, wurden großenteils bereits im Jahr nach der verheerenden Cholera-Epidemie umgesetzt. Es war ein grundsätzlicher Wandel – von klassischem Laissez faire zu einem stärker etatistischen Staatsverständnis.

    Ähnliche Entwicklungen dürften infolge von Covid-19 zu erwarten sein. Hätten die betroffenen Regierungen alle rechtzeitig und angemessen auf die „Jahrhundert-Seuche“ reagiert, wäre es womöglich nie zu einer Pandemie gekommen. Sondern nur zu lokalen und regionalen Ausbrüchen, die vermutlich relativ schnell unter Kontrolle hätten gebracht werden können.

    Das Versagen von Politikern und Behörden wird Folgen haben für die internationale Kooperation; nicht zuletzt dürfte die Rolle (und die finanzielle Ausstattung) der WHO gestärkt werden.

    • Antesde sagt:

      Staatsversagen beheben durch mehr Staat?
      https://blogs.faz.net/fazit/2020/03/30/der-staat-die-macht-und-das-virus-11278/

      Danke für hre Beschreibung der Vorgänge in Hamburg 1892, das man heute laut Ihrer Darstellung dem Versagen der Laisser Faire-Haltung zuschreibt.

      Die schnelle Ausbreitung von Corona ist dagegen dem “Versagen von Politikern und Behörden” zuzuschreiben. Da stellt sich schon die Frage, wie eine Verbesserung eintreten soll, wenn versagende Gruppen weiter gestärkt werden. Im Gegensatz zu ihrem Hinweis hat auch die WHO versagt, die sich trotz der alarmierenden Entwicklung in China und der damals schon bekannten hohen Infektiosität des Virus lange geweigert hatte, von einer weltweiten Pandemie auszugehen.

      Ob weltweit eine Entwicklung analog zu Ungarn wahrscheinlicher ist, wo gerade eben die erste Diktatur auf dem Territorium der EU entstanden ist, muss abgewartet werden. Politiker und Vertreter und staatlicher Institutionen könnten natürlich sehr leicht die Krise nutzen, um ihre Machtbefugnisse nahezu unlimitiert auszuweiten.

      Aber dass das überall passiert, ist nicht gesagt. Da Politiker und Institutionen aller Länder unter allen denkbaren Schattierungen von links bis liberal versagt haben, denke ich eher, dass es zu einem gesellschaftlichen Lernprozess kommen wird. Man wird lernen müssen, dass es auch Investitionen gibt, die sich nur indirekt und erst nach sehr langer Zeit lohnen. Für Keynesianer und Wirtschaftsbelebungs-Populisten könnte der Lerneffekt lauten, dass die Fixierung auf das ewige Ankurbeln des Konsums eben auch nur Nonsens ist. Und dass Rezessionen ohnehin nicht vermeidbar sind.

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