Die wirtschaftliche Belebung ist in diesem Jahr in Gang gekommen, aber ausgerechnet in diesem Moment leidet die Automobilindustrie unter einem Mangel an Chips, weil die globalen Lieferketten nicht mehr so gut funktionieren wie vor der Pandemie. Hohe Frachtraten und Lieferengpässe sind Ausdruck dieser Malaise. Wäre es daher nicht sinnvoll, die EU-Kommission in ihrem Bestreben zu unterstützen, die Produktion von Chips in Europa zu fördern, um die Abhängigkeit der hiesigen Industrie von Lieferungen aus Asien zu reduzieren? Vertreter einer aktiven Klimapolitik verweisen gerne auf klimaschädliche Begleiterscheinungen der Globalisierung, etwa durch die Förderung und den Transport fossiler Energieträger und anderer Rohstoffe. Wäre es daher nicht sinnvoll, in Europa eine Wirtschafts- und Klimapolitik zu betreiben, die Abhängigkeit der hiesigen Wirtschaft von solchen Einfuhren zu reduzieren? Die Globalisierung hat zur Abwanderung traditioneller Wirtschaftszweige aus den Industrienationen in Schwellenländer beigetragen. Wäre es nicht sinnvoll zu versuchen, diese Jobs durch eine mit Zollpolitik begleitete Ansiedlung von Unternehmen aus traditionellen Branchen wieder heimzuholen?
Die Globalisierung hat, getragen von einer multilateralen Welthandelsordnung, über Jahrzehnte zum wirtschaftlichen Wohlstand in armen wie in reichen Ländern beigetragen, unter anderem, indem sie die Eingliederung ehemals sozialistischer Staaten in die Weltwirtschaft ermöglichte. Das ist unter Fachleuten unbestritten. Die Globalisierung kannte allerdings nicht nur Gewinner, sie ist auch mit sozialen und ökologischen Kosten einhergegangen. Doch auch wenn der Saldo deutlich positiv sein mag, ist die Globalisierung schon vor der Pandemie Stichwortgeber für populistische Politiker gewesen, die ihre Schattenseiten in den Mittelpunkt stellten und eine Renationalisierung der Wirtschaftspolitik befürworteten.
Auch wenn der Populismus zumindest bisher nicht von der Pandemie profitiert hat, haben das Virus, etwa in Gestalt brüchiger Lieferketten, und die geopolitischen Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und China weitere Zweifel an der Globalisierung gesät. Die Vereinigten Staaten erscheinen unter Präsident Joe Biden nicht weniger von protektionistischem Geist erfüllt als unter Präsident Donald Trump; eine grundsätzliche Abkehr von Trumps Zollpolitik ist jedenfalls bisher nicht erkennbar. Angesichts der Vorbehalte gegenüber dem Freihandel in seiner Partei ist das auch nicht erstaunlich. Biden und die Vereinigten Staaten stehen aber weiß Gott nicht allein: Auch in anderen Ländern finden protektionistische Konzepte, die vermeintlich der jeweiligen nationalen Wirtschaft nützen, zunehmend Verbreitung.
Was dieser Debatte fehlt, ist eine Vorstellung der wirtschaftlichen Kosten eines Verzichts auf globale Wertschöpfungsketten und ihren Ersatz durch eine heimische Produktion, die bisher unterblieb, weil sie als unwirtschaftlich angesehen wurde. Es lassen sich ja durchaus Gründe finden, warum zumindest Elemente der bisher üblichen globalen Arbeitsteilung hinterfragt werden können. So beruhten die Geschäftsmodelle der vergangenen Jahrzehnte auf der Annahme einer geringen Verletzlichkeit der Lieferketten, was Unternehmen davon abhielt, hohe Lagerbestände zu halten, die Geld kosteten. Wenn die Lieferketten auch künftig brüchig bleiben sollten, besäßen Unternehmen einen Anreiz, trotz der damit verbundenen Kosten größere Lagerbestände als früher zu halten. Das Modell der globalen Lieferketten würde damit teurer als bisher.
Ein zweiter wirtschaftlicher Grund, der das Lieferkettenmodell herausfordert, ist ein wachsender Bedarf an Produktdifferenzierung, weil sich die Bedürfnisse von Kunden immer stärker unterscheiden. Das aus Kostengründen naheliegende Prinzip, möglichst weit standardisierte Güter an billigen Standorten zu produzieren und dann quer über den Globus an Kunden zu verkaufen, stößt damit an Grenzen. Ein dritter Grund, der für heimische Produktion zumindest in ausgewählten Wirtschaftszweigen spricht, sind Nebeneffekte in einer durch zunehmende geopolitische Spannungen geprägten Welt. Man kann durchaus die Ansicht vertreten, dass Europa nicht nur bei Militärgütern, sondern auch in der modernen Informationstechnologie seine strategische Unabhängigkeit durch eigene Kapazitäten unterstützen sollte.
Vier Ökonomen, darunter der scheidende Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Gabriel Felbermayr, haben nun einen Versuch unternommen, die wirtschaftlichen Kosten eines Verzichts auf globale Lieferketten zu schätzen. Sie untersuchen den Fall, in dem Zwischengüter – das sind Güter wie Chips, die als Vorprodukte in die Fertigung von Endprodukten eingehen – nur mehr durch heimische Produktion hergestellt werden. Sie stellen zwei Fragen: Macht der Ersatz globaler Wertschöpfungsketten durch heimische Produktion von Zwischengütern Länder weniger anfällig für internationale Verwerfungen wie geopolitische Spannungen oder eine Pandemie? Und um welchen Preis findet eine solche Entkoppelung von der Weltwirtschaft statt?
Ein erstes Ergebnis ist eindrücklich: Ein Verzicht auf internationale Lieferketten für Zwischengüter führt in normalen Zeiten in allen Ländern zu Wohlfahrtsverlusten. Sie fallen unterschiedlich groß aus. Am bedeutendsten sind sie in kleinen, mit der Weltwirtschaft eng verflochtenen Staaten, die aber kaum in der Lage wären, eigene Produktionskapazitäten aufzubauen. Beispiele für solche Länder sind Luxemburg, Malta oder Estland. Aber auch große Länder mit bedeutenden Binnenmärkten wie die Vereinigten Staaten erleiden in diesem Szenario – wenn auch deutlich kleinere – Wohlfahrtsverluste, obgleich sie eher in der Lage wären, eine eigene Produktion von Zwischengütern zu etablieren.
In einem weiteren Schritt untersuchen die Autoren, wie sich eine schwere Krise in einem Land, zum Beispiel eine Pandemie in China, in einer Welt mit und ohne Lieferketten auswirkt. Hier fallen die Ergebnisse unterschiedlich aus. Viele Länder erleiden Wohlfahrtsverluste, andere aber nicht, weil sie als alternative Lieferanten von Zwischengütern zu China in Betracht kommen. In keinem Fall aber lohnt es sich, in Erwartung von Krisen in einzelnen Ländern generell auf globale Lieferketten zu verzichten, denn jenseits schwerer Krisen nützt dieser Verzicht niemandem. Die beste Politik bestehe in der Aufrechterhaltung der Lieferketten, auch wenn dies bedeute, in schweren Krisen dadurch vorübergehende Nachteile zu erleiden, schreiben Felbermayr und seine Kollegen. Freihandel ist nicht in jeder Situation für jedermann perfekt, aber er zeigt sich als Handelsordnung dem Protektionismus deutlich überlegen.
Literatur:
Eppinger, Peter, Gabriel Felbermayr, Oliver Krebs, and Bohdan Kukharskyy (2021): Decoupling Global Value Chains, CESifo Arbeitspapier Nr. 9079. Eine Zusammenfassung findet sich auf voxeu.org