Die Empirie lehrt: Steigende Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen trägt zu den niedrigen Zinsen bei
Der Rückgang der Zinsen in den vergangenen Jahrzehnten ist in einem starken Maße langfristigen fundamentalen Kräften wie dem demographischen Wandel, dem Übergang kapitalintensiver Industriegesellschaften zu dienstleistungsorientierten Wissensökonomien, einer zunehmenden ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie einem schwachen Wachstum von Produktivität und Wirtschaft geschuldet. Die Geldpolitik hat diesen Trend möglicherweise verstärkt, aber überwiegend nachvollzogen.
Diese Erkenntnisse sind heute in der Wirtschaftswissenschaft kaum noch umstritten. Doch über die Gewichtung der einzelnen Einflussfaktoren für den Zinsrückgang herrscht keine Einigkeit. In einer neuen Arbeit haben die Ökonomen Atif Mian, Ludwig Straub und Amir Sufi auf der Basis von Daten für die Vereinigten Staaten die verbreitete These herausgefordert, der demographische Wandel habe den Zinsrückgang erheblich befördert. Sie erkennen einen deutlich stärkeren Einfluss der Verteilung der Einkommen.
Das auf der Demographie basierende Argument klingt eingängig: Es besagt, dass die sich allmählich dem Ruhestand nähernde Generation der Babyboomer in der letzten Phase ihres Arbeitslebens besonders viel spart, um sich auf ein finanziell sorgenfreies Leben im Ruhestand vorzubereiten. Dieser hohen Ersparnis steht in einer Welt, in der zunehmend Wissen mehr zählt als physisches Sachkapital, eine nicht ausreichende Nachfrage nach Investitionen entgegen. Das hohe Sparangebot drückt damit den Zinssatz.
Mian, Straub und Sufi haben sich das Sparverhalten der Amerikaner genauer angesehen und sind zu einem Befund gelangt, der die Bedeutung dieser Argumentation relativiert. Das Sparverhalten der im Arbeitsleben befindlichen Bevölkerung unterscheidet sich beim Blick auf die einzelnen Altersgruppen gar nicht so sehr. Das Demographie-Argument beruht aber gerade darauf, dass ältere Arbeitnehmer deutlich mehr sparen als jüngere. Die Daten zeigen etwas anderes: Die Unterschiede in der Neigung zum Sparen sind in den einzelnen Altersgruppen zwischen Arbeitnehmern mit hohen und niedrigen Einkommen viel größer als zwischen den Altersgruppen.
Größerer Reichtum, weniger Konsum
Die Erkenntnis, dass mit zunehmenden Einkommen der Anteil der Ersparnis wächst und der Anteil der Konsumausgaben sinkt, ist nicht neu, sondern ein Evergreen in der ökonomischen Literatur. In John Maynard Keynes’ Theorie taucht er als „fundamental-psychologisches Gesetz“ auf. Es dient Keynes wie vielen anderen Denkern ökonomischer Stagnation als Begründung für ein Nachlassen der wirtschaftlichen Dynamik: Mit zunehmendem Reichtum konsumieren die Menschen weniger. Weil sich dann auch Investitionen in die Zukunft weniger lohnen, verliert die Wirtschaft an Schwung.
In der zeitgenössischen Debatte um eine „säkulare Stagnation“ ist dieser Topos wieder aufgetaucht. Auch die zunehmende Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen in den vergangenen Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten ist seit Jahren ein häufig diskutiertes Thema. Mian, Straub und Sufi haben nun die bedeutende Rolle der Änderungen in der Einkommensverteilung für den Rückgang des Zinses empirisch herausgearbeitet.
An ihre Arbeit schließen sich Fragen an. Zunächst einmal: Gelten die Resultate aus einem Land, in dem sich die Einkommensverteilung sehr stark verändert hat, auch für andere Länder? Und was folgt daraus für die Wirtschaftspolitik? Auf Twitter hat Michael Pettis, einer der besten Kenner Chinas unter den Ökonomen, interessante Beobachtungen beigesteuert. Den Befund einer durch Verteilungsänderungen bewirkten hohen Sparneigung erkennt er auch für China. Aber er unterscheidet zwischen China und den traditionellen Industrienationen.
„In sich entwickelnden Ländern wie dem China in den 1980er und 1990er Jahren übertreffen die erwünschten Investitionen die tatsächlichen Investitionen“, schreibt Pettis. „In diesem Fall führen die höheren Ersparnisse der Reichen in der Tat zu zusätzlichen Investitionen.“ In den Industrienationen würden die Investitionen allerdings durch eine niedrige Konsumnachfrage beschränkt: „In diesem Falle sorgt eine zunehmend ungleiche Einkommensverteilung nicht nur für eine höhere Ersparnis; sie kann auch die erwünschten Investitionen senken.“
Wo ein Überschuss ist, da ist auch ein Defizit
Wie kommt man aus einer solchen Situation heraus? Eine für Deutschland seit vielen Jahren gültige Antwort besteht im massiven Export von Ersparnissen ins Ausland, der sich unter anderem als Überschuss der Leistungsbilanz niederschlägt. Nun können allerdings nicht alle Länder Ersparnisse exportieren; es muss auch Länder wie die Vereinigten Staaten geben, die diese Ersparnisse aufnehmen und im Gegenzug ein Defizit in ihrer Leistungsbilanz aufweisen.
Falls der wegen der hohen Sparneigung der Reichen sinkende Zins nicht reicht, um heimische Investitionen anzuregen, bleiben neben einer Wirtschaftskrise nicht viele Möglichkeiten. Eine aus den Vereinigten Staaten bekannte Möglichkeit besteht in einer höheren Verschuldung ärmerer privater Haushalte. Falls sich die Haushalte damit allerdings übernehmen, wie das Beispiel der hohen Immobilienkredite vor der Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 belegt, ist das problematisch. Doch selbst wenn die hohe private Verschuldung nicht direkt in eine schwere Finanzkrise führt, mögen die langfristigen Folgen ungünstig sein.
Mian und Sufi haben in einer weiteren aktuellen Arbeit gezeigt, wie eine hohe Ersparnis von Reichen über eine schwache Konsumnachfrage zu sehr niedrigen Zinsen führt, die ihrerseits die Finanzierung von Fusionen und Übernahmen in der Wirtschaft erleichtert. Gerade in den Vereinigten Staaten hat in den vergangenen Jahren in vielen Wirtschaftszweigen die Konzentration durch Zusammenschlüsse von Unternehmen zugenommen. Marktmacht führt allerdings im Laufe der Zeit zu einer unterdurchschnittlichen Entwicklung von Produktivität und Wirtschaftswachstum.
Von vielen Ökonomen wird als Heilmittel gegen einen Ersparnisüberschuss daher lieber eine höhere Staatsverschuldung empfohlen. Doch im Übermaß kann sich auch Staatsverschuldung als eine nachteilige wirtschaftspolitische Strategie erweisen.
„Die Einkommensungleichheit bleibt heute im Vergleich zu den Niveaus vor 1980 extrem hoch, und es ist nicht zu sehen, dass sich dieser Trend in einer nahen Zukunft umkehrt“, schreiben die Autoren mit Blick auf die Vereinigten Staaten. Daher sei es nicht erstaunlich, wenn die Zinsen weiterhin sehr niedrig bleiben würden. Wer weder exorbitante Kapitalexporte noch eine stark steigende Verschuldung von Staaten oder privaten Haushalten für eine nachhaltige Strategie hält, wird sich mit der Frage befassen müssen, wie es durch gute Wirtschaftspolitik gelingen kann, die privaten Investitionen anzuregen.
Detailergebnisse hochinteressant. Bestätigen sie Thünen´s Grabsteinformel?
Laut Studie sinken die Ersparnisse der unteren Einkommensgruppen bei sinkendem Zins selbst bei sukzessive zunehmender Lebenswartung. Stellt das nicht die die Sparschwemme-aufgrund-zunehmender-Lebenserwartung in Frage? Hocheinkommensbezieher und Vermögensbesitzer sind wesentlich weniger auf ein Vorsorgesparen angewiesen als Mittel- und Geringverdiener, sparen aber wesentlich mehr, während die Ersparnisse letzterer sich nach der Studie verringern. Die hier dargestellten empirischen Ergebnisse passen weit besser auf Thünen´s Kapitalbildungstheorie und seinen kapitallosen Arbeiter als Grenzproduzenten des Kapitalangebots. Bei sinkendem Zinssatz sinkt sein Kapitalangebot sukzessive bzw. entfällt ganz. Weiter (aus seinen unveröffentlichten Manuskripten): “Anders verhält sich dies mit den Wohlhabenden und Reichen. Manche ihrer Genüsse dienen oft nicht zur Erhöhung des wirklichen Lebensglücks, sondern nur noch zur Befriedigung der Eitelkeit und zur Freude über die Erweckung des Neides bei ihren Nachbarn. Das Aufgeben dieser letzten Genüße erfordert kein großes Opfer und dieses kann durch die Aussicht auf eine ihren Kindern zu hinterlassende größere Rente leicht überwogen werden. Die Schätzung, bei welcher Höhe des Zinsfußes die Kapitalansammlung des dazu erforderlichen Opfers wert ist, muss also bei den Arbeitern anders ausfallen als bei den Kapitalisten. Wir finden deshalb auch, dass die Ansammlung von Kapital selten von den Arbeitern, gewöhnlich aber von den Gewerbsunternehmern und Kapitalisten ausgeht. Die größere oder geringere Ungleichheit in der Verteilung des Eigentums hat also einen wesentlichen Anteil auf die Ansammlung des Kapitals und damit auch auf die Höhe des in einem Lande sich bildenden Zinsfusses. So ist in Holland, wo sich neben größerer Armut sehr viele reiche Leute befinden, der Zinsfuß lang Zeit sehr niedrig gewesen.” (Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie, Band 115/XXIX; Berlin 2014).
Thünen hat bekanntlich den auf seinem Grabstein eingravierten naturgemäßen Lohn und den korrespondierenden naturgemäßen natürlichen Zins mittels Maximierung der Kapitalrente eines besitzlosen Arbeiters (als “Grenzproduzent” des Kapitals) und dessen Kapitalertragsfunktion ermittelt und seine errechneten Ergebnisse unter den von ihm formulierten Annahmen (frei verfügbaren Agrarlandes!) im damaligen Nordamerika empirisch bestätigt gefunden. Die dabei zugrundeliegende Zielfunktion – subjektive Präferenzen bleiben bei ihm außer acht – lässt sich in heutiger Terminologie als Maximierung der Haushaltsbudgetgerade t+1 des in t ausschließlich Arbeitseinkommen beziehenden Landarbeiter-Haushalts interpretieren. Sein theoretischer Ansatz besitzt darüber hinaus den Charme, dass Kapital nicht als monetärer Wert, sondern in physischen Einheiten gemessen wird und daher nicht den Fallstricken der CC-Kapitalkontroverse ausgesetzt ist.
Politmarketing
Es steht beides im Programm, vermutlich dem Politmarketing geschuldet: Vermögenssteuer wird vom Publikum verstanden ( “Vermögen” bedeutet immer “reich” – es trifft also die Richtigen ; “Erbschaft” bedeutet das “Häuschen der Oma” – es trifft also die Falschen ). Sie haben natürlich recht, steuermethodisch ist eine substanzielle Erbschaftsteuer natürlich einer Vermögenssteuer vorzuziehen: es wird keine “Substanz” besteuert, sondern ein leistungsloses Einkommen, man kann der Erbschaftsteuer keine “Doppelbesteuerung” vorwerfen, die Einmaligkeit der Erbschaft vermindert auch die akribische methodische Suche nach raffinierten Steuervermeidungskonstruktionen und man ärgert sich über diese Steuer nur einmal und nicht jedes Jahr.
Fun Fact zum “Häuschen der Oma, das weggesteuert wird: Zwei Drittel der Deutschen, die 2018 über 100 Mio € geerbt haben, haben Null € Erbschaftssteuer gezahlt.
Verteilung und Wachstumsschwäche, Gini als Verteilungsmaß
In D. liegt der Gini seit 10 Jahren zwischen 29 und 30%. In den USA liegt er bei etwa 46 – 49%. Wächst die USA schneller oder langsamer als D? Und wie steht es mit der Kapitalakkumulation, also den Nettoinvestitionen? Da krebst D. seit Jahren gewaltig. Moderne Volkswirtschaften (nicht China!!!!) wachsen durch einen Anstieg der Totalen Faktorproduktivität (TFP) und weniger durch Kapitalakkumulation, weil diese Volkswirtschaften sich schon sehr nahe an ihrem eigenen steady state befinden.
In D. ist die TFP auf einem historischen Tiefstand und in einigen Sektoren unserer Volkswirtschaft ist die Entwicklung der Arbeitsproduktivität negativ, z.B. Finanzsektor, unternehmensnahe Dienstleistungen und teilweise auch in der Bauindustrie. Der öffentliche Sektor hält sich da tapfer – weitgehend auf der Nulllinie. Da der Anteil der Dienstleistungen zunehmen wird, nimmt auch der Effekt der negativen Arbeitsproduktivität zu. Das warenproduzierende Gewerbe hat nach wie vor eine zunehemende Arbeitsproduktivität, aber der Anteil dieses Sektors wird kleiner.
Die Digitalisierung, d.h. die IKT und KI haben bislang keine positiven Produktivitätseffekte gebracht (siehe Produktivitätsparadoxon). Deshalb muß man sie natürlich fördern – Ibuprofen wirkt ja auch erst ab einer bestimmten Dosis entzündungshemmend und sonst nur analgetisch.
Spaß beiseite!
Investitionsschübe werden erst kommen, wenn die Unternehmen sehen und begreifen, auf welche Technologien sie setzen können und welche dieser Technologien produktiv sind. Hier kann der Staat die Rahmenbedingungen schaffen und für die Infrastruktur sorgen, aber investieren müssen die Unternehmen; denn eigentlich sind sie dazu da! Ein Unternehmer, der nichts unternimmt, gleicht einem Bauern, der nichts anbaut. Er erntet Unkraut.
Wo Wachstum ausbleibt, schwächelt auch der Gewinn und damit auch der Zins, der dem Gewinn entspringt.
Relativ sinnlose Betrachtungen
Welche Aussage lässt sich über das Zinsniveau machen, wenn es staatlich festgesetzt wird? Da muss man nicht einmal auf den Extremfall Griechenland verweisen, das eben noch zum x-ten Mal pleite sich jetzt erlauben kann, 1,3% Verzinsung zu bieten. Was zudem in Griechenlands Geschichte einmalig sein dürfte.
Wenn eine Zentralbank als staatliche Institution Anleihenrisiken methodisch aus dem Markt entfernt und die Zinsen so festsetzt, wie es gerade politisch erwünscht ist, erübrigen sich doch im Grunde sämtliche weiteren Hypothesen. Man kann man sie kaum ernster nehmen als mittelalterliche Scholastik.
Elephant im Raum
Und welcher Elephant steht nach dieser zutreffenden Beschreibung über Investitionsmüdigkeit durch Reichtum und der begrenzten Wirkung von Verschuldung bei Staat und Ärmeren im Raum? Nun, welcher Elephant, der nicht angesprochen wird? – Richtig: Umverteilung und stärkere Besteuerung von Reichen.
Der Matthäus-Effekt
Die Ungleichverteilung senkt nicht nur den Zins, sondern treibt zugleich die Assetinflation an, da die zukünftigen Erträge nun geringer abdiskontiert werden. Die Folgen sind weltweit die gleichen: Der Mittelstand kann sich keine Assets mehr leisten. Der Traum von einer eigenen Immobilie ist für die meisten ausgeträumt, sofern sie nicht das Glück hatten, reich geboren zu sein.
Die privaten Investitionen werden erst dann wieder ansteigen, wenn ZUVOR mindestens folgende Maßnahmen in Angriff genommen werden:
1. Höhere Erbschaftssteuer
2. Massive staatliche Investitionen
3. Stärkung der gesetzlichen Rente
4. Steuerliche Entlastung der mittleren Einkommen (Glättung des Mittelstandbauchs sowie Umstellung des Ehegattensplittings auf ein Familiensplitting)
Findet sich alles nicht in den Wahlprogrammen möglicher Koalitionen. Insofern wird der Teufel auch weiterhin auf den größten Haufen schei… Und CDU, CSU, SPD, FDP & Co. merken nicht einmal, wie sehr dieser biblische Misthaufen zum Himmel stinkt.
LG Michael Stöcker
Wahlporgramme
Koalitionen haben keine Wahlporgramme, Parteien schon. Höhere Erbschaftssteuer, massive staatliche Investitionen und steuerliche Entlastung der mittleren Einkommen sind z.B. Forderungen aus dem Programm von Bündnis 90/ Die Grünen.
Vermögenssteuer vs Erbschaftssteuer
Schon klar, dass Koalitionen keine Wahlprogramme haben. Aber was nicht im Wahlprogramm steht, wird wohl auch kaum Gegenstand von Koalitionsverhandlungen sein. Das bevorzugte Instrument der GRÜNEN ist leider die verwaltungsaufwendige Vermögenssteuer statt der einmaligen Erbschaftssteuer.
LG Michael Stöcker