Wie politische Kampfbegriffe instrumentalisiert werden – vom Kapitalismus bis zur Technokratie. Von Jürgen Kaube
Wir beschreiben die Gesellschaft, in der wir leben, meist mittels Begriffen, die älteren Datums sind. Deswegen begleitet sie die Frage, ob die Wirklichkeiten, auf die sie sich einst bezogen, noch dieselben sind. Kapitalismus ist solch ein Begriff. Er kam in den Jahren nach 1830 in England und Frankreich auf. Damals gab es weder den Wohlfahrtsstaat noch eine Informationsökonomie, wie wir sie kennen. Dreißig Jahre später sprachen deutsche Ökonomen erstmals vom Kapitalismus als einem sozialen System und verglichen ihn mit dem Sozialismus, der damals allerdings keine Wirklichkeit, sondern ein politisches Programm war, das sich allmählich Parteien aneigneten.
Das ist das zweite Merkmal vieler Begriffe, die wir heute verwenden, um die Gesellschaft zu beschreiben. Sie stammen oft nicht nur aus vergangenen Zeiten. Es sind auch viele Begriffe darunter, die einst mehr als politische Waffe denn als wissenschaftliches Instrument eingesetzt wurden. Nehmen wir “Technokratie” und folgen wir dem angloamerikanischen Wirtschaftshistoriker Harold James aus Princeton, der gerade ein gedankenanregendes “Glossar der Globalisierung” vorgelegt hat. Darin untersucht er die Geschichte und den gegenwärtigen Gebrauch zentraler politischer Kampfbegriffe.
Die Technokratie hatte dabei einen benennbaren Erfinder, den amerikanischen Ingenieur William H. Smyth. In einem 1919 publizierten Aufsatz forderte er eine Befreiung der Wirtschaftspolitik aus demokratischen Fesseln. Denn Demokratie, so der Ingenieur, führe doch nur zur Herrschaft der “unintelligenten” Mehrheit. Demgegenüber sollte allein auf der Grundlage von technischer und wissenschaftlicher Erkenntnis entschieden werden, was gut für die Nation sei. Smyth hielt offenbar, wie immer noch viele, die Wissenschaft für eine Angelegenheit, die stets zu eindeutigen Empfehlungen führt.
Das war nicht nur eine phantasievolle Ansicht, sondern auch ein Gedanke aus dem Erfahrungsraum des Ersten Weltkriegs mit seinen Versuchen einer zentralisierten Unterordnung des nationalen Wirtschaftslebens unter eindeutige Kriegszwecke. Der Krieg simplifiziert die Gesellschaft. Im nachfolgenden Zweiten Weltkrieg entstand in den Vereinigten Staaten der Begriff “Big Science”, um den engen Kontakt zwischen Forschung und politischer Planung zu beschreiben. Harold James notiert, in den Jahren 1944 und 1945 sei das Budget des “Manhattan Project”, das die Atombombe hervorbrachte, größer gewesen als das des Verteidigungsministeriums. Gleichzeitig stiegen Disziplinen wie Ökonomie und Soziologie auf. 1945 wählte der Philosoph Karl Popper für seinen Vorschlag, an die Stelle großer Ideale als Taktgeber der Politik nun schrittweise und begrenzte Reformen zu setzen, den Begriff “social engineering”.
Damit kommen wir zu einem dritten Merkmal vieler Stichworte, die verwendet werden, um unsere Gesellschaft zu beschreiben. Sie können positiv und negativ besetzt werden, und es scheint geradezu ihr Sinn, in einem “Krieg der Worte” eingesetzt zu werden. Niemand würde sich heute als Technokrat vorstellen. Man betreibt vielmehr “governance” oder arbeitet im Management. Begleitet war der Aufstieg der Experten und Manager stets von der Kritik ihrer Fehlbarkeit, ihrer falschen Prognosen und übertriebenen Vorstellungen von sozialer Kausalität. Wer heute von Technokratie spricht, meint die Schattenseite dessen, was dem Begriffserfinder vorschwebte: regieren im Zeichen eindeutig überlegener Lösungen.
Bei James folgt auf das Kapitel über Technokratie insofern schlüssig das über die entgegengesetzte Illusion: Populismus. Die Ersten, die sich Populisten nannten, waren amerikanische Bauern, die gegen die Ostküste und die Industriegesellschaft protestierten. Hier wird ein Begriff von Demokratie gegen die Technokratie aufgeboten, der sich aus den Träumen einer umfassenden politischen Beteiligung aller an allem nährt sowie an der Vorstellung einer Willensübertragung zwischen Regierten und Regierenden. “Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk”, hatte Abraham Lincoln die Demokratie in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts definiert. Freilich bedurfte auch damals schon das Regieren der Berufspolitiker und anderer Spezialisten.
Populisten hingegen behaupten, das “wirkliche Volk” im Gegensatz zu einer Elite repräsentieren zu können, die sie sich als homogen und nur an sich interessiert vorstellt. Paradox ist nur, dass jene Elite zu großen Teilen durch Wahlen und Arbeitsmärkte dorthin gebracht worden ist, von wo aus sie nun angeblich gegen das Volk regiert. Paradox natürlich auch, dass in der Unterscheidung von Volk und Elite die Trumps, Erdogans und Orbáns dieser Welt aufseiten der Elite zu liegen kämen.
Damit tritt eine letzte Eigenschaft der politisch-ökonomischen Stichworte hervor, die Harold James in sein Glossar aufgenommen hat: Sie sind alle miteinander verbunden, und zwar unordentlich. Was Demokratie bedeutet, hängt davon ab, ob man sie von Monarchie unterscheidet oder von Diktatur oder von Technokratie. Kapitalismus mag ein Gegensatz zu Sozialismus sein, aber was machen wir dann mit China? Populisten wiederum sind dort, wo sie an die Regierung kommen, nachgerade zur Einführung einer “illiberalen Demokratie” gezwungen, um sich im Amt zu halten.
In seinem Kapitel über “Neoliberalismus” führt James besonders deutlich aus, wozu diese Unzulänglichkeiten der Beschreibung unserer Gesellschaft durch wenige farbige Begriffe führen können. Seinen Ursprung hat der Neoliberalismus in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Damals richtete er sich gegen autoritäre Systeme, Nationalismus und radikale politische Bewegungen. Die spätere Wirtschaftspolitik der Ära von Margaret Thatcher und Ronald Reagan wurde noch als “neokonservativ” bezeichnet. In seinen Vorlesungen über Biopolitik von 1979 attackierte der französische Philosoph Michel Foucault dann schon die “Ökonomisierung” aller Lebensbereiche in den Schriften Chicagoer Volkswirte. Und spätestens nach der asiatischen Wirtschaftskrise von 1997/1998 sowie der Weltfinanzkrise von 2007/2008 mit ihrem Echo in der europäischen Schuldenkrise war klar, dass die Schuldigen einen Namen haben: Neoliberale.
Nicht ohne Spott vermerkt Harold James, es sei allerdings nicht ganz einfach, Leute zu finden, die sich selbst als neoliberal bezeichneten. Geschweige denn Leute, die unter diesem Titel dasselbe verstünden. Lange wurden die Monopole als größte Gefahr für die Demokratie und die liberale Gesellschaft gesehen. Oder es galten die Kreditwirtschaft und das Zentralbankgeld den Liberalen als Schwachstellen im marktwirtschaftlichen System. Die Konsumenten und Wähler wiederum, die sowohl am Klimawandel wie an den Finanzkrisen ihren Anteil haben, werden nie als neoliberal angeklagt. Im Krieg der Worte spielen, wie in jedem, Wahrheiten nur eine untergeordnete Rolle.