Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Lob der Lieferkette

Was Toyota aus der Tsunami-Katastrophe 2011 lernte. Und was Europas Chip-Subventionierer, die wirtschaftliche Souveränität anstreben, von Toyota lernen können.

Als im März 2011 ein schweres Erdbeben den Nordosten Japans erschütterte und ein Tsunami große Teile der Küste verwüstete, starben fast 19 000 Menschen. Die Katastrophe war auch ein wirtschaftlicher Schlag, weil wichtige Unternehmen in der Region schwer beschädigt wurden. Einer der bedeutendsten Zulieferer von Mikrochips für die Automobilwirtschaft, Renesas Electronics, brauchte drei Monate, um eine wichtige Produktionsstätte wieder zum Laufen zu bringen. Der Angebotsschock lief durch die globalen Lieferketten. Nach Schätzungen resultierten 90 Prozent der wirtschaftlichen Schäden der Katastrophe aus den beschädigten Lieferketten und nicht aus der direkten Zerstörung. Toyota Motor kämpfte gut ein halbes Jahr, bis es seine Zulieferer und die Produktion einigermaßen stabilisiert hatte.

Dann aber geschah etwas, was in einer Marktwirtschaft eigentlich ganz natürlich ist, was sich Verfechter der staatlichen Krisenvorsorge aber nur schwer vorstellen können. Toyota lernte.

Unternehmen lernen und sorgen vor

Das Unternehmen analysierte die durch das Erdbeben gerissenen Lieferketten und sorgte vor. Eine Lehre aus der Katastrophe war, dass Toyota die Kommunikation mit seinen Zulieferern verstärkte. Seit 2011 blickt das Unternehmen in Zusammenarbeit mit den großen Zulieferern weit tiefer in die vielstufigen Lieferketten hinein als zuvor, um mögliche Engpässe an Teilen frühzeitig zu erkennen. Toyota kann in seiner Datenbank zum Beispiel die Hersteller des Materials identifizieren, das für die Oberflächenbehandlung der Linsen verwendet wird, die in den Autoscheinwerfern das Licht bündeln.

Eine andere Lehre war, dass Toyota rund 1500 Vorprodukte, darunter Mikrochips, als besonders wichtig einstufte. Für diese Teile hat das Unternehmen seit dem Erdbeben 2011 alternative Bezugsquellen gesichert oder die Lagerhaltung erhöht. Der Wert der Vorräte, die das Unternehmen vorhält, hat sich fast verdoppelt. Die Vorsorge gehört zu den wichtigsten Gründen, warum das Unternehmen den Halbleitermangel in der Pandemie weit besser überstanden hat als andere Autohersteller.

Das lehrreiche Beispiel wirft ein Schlaglicht auf den in Deutschland und Europa wabernden neuen Merkantilismus, wonach die wirtschaftliche Sicherheit eine nationale Produktion relevanter Güter bedinge. Die Vorschläge der Europäischen Union zur milliardenschweren Subventionierung von Halbleitern und anderen „sicherheitsrelevanten“ Gütern und die faktische Ablehnung der Übernahme des deutschen Tech-Unternehmens Siltronic durch Taiwans Globalwafers gründen in der Sorge, im Ernstfall von der Zulieferung von Vorprodukten abgeschnitten zu werden. Es ist die Furcht des Kindes in der Nacht, dass am nächsten Tag die Sonne nicht mehr scheine.

Lieferketten im ökonomischen Dreiklang

Ökonomen diskutieren die Vor- und Nachteile globaler Lieferketten in Form eines Dreiklangs. Erstens ermöglicht die Einbindung in die internationale Arbeitsteilung Spezialisierungsgewinne und damit höheren Wohlstand. Unternehmen produzieren das, was sie vergleichsweise am besten können, und lassen sich den Rest zuliefern. Das nutzt allen, weil jeder seine besonderen Vorteile so am besten ausschöpfen kann. Zweitens birgt aber der internationale Handel das Risiko, dass Katastrophen wie das Erdbeben im Nordosten Japans sich über die Lieferketten global ausbreiten und die Wirtschaft etwa im weit entfernten Europa schädigen. Drittens eröffnen die globalen Lieferketten die Chance, Waren etwa aus Amerika zu beziehen, falls Japan wegen eines Erdbebens nicht liefern kann. Das verringert die wirtschaftlichen Risiken für Europa.

Welcher der Effekte überwiegt, hängt davon ab, in welchem Ausmaß die Güter und Vorprodukte austauschbar sind. Doch selbst extrem spezialisierte Hightech-Halbleiter neuerer Generation lassen sich heute in der Regel zumindest aus Taiwan, Südkorea oder Amerika beziehen. China spielt in dem Geschäft wohl noch auf Jahre hinaus keine große Rolle.

Aktuelle Studien deuten darauf hin, dass die politischen Ängste vor wirtschaftlicher Abhängigkeit übertrieben sind. Ökonomen der Bank von England kamen im Jahr 2021 zu dem Schluss, dass eine Entflechtung globaler Lieferketten wirtschaftliche Kosten mit sich bringe, ohne die Risiken wirtschaftlicher Störungen notwendigerweise oder in signifikantem Ausmaß zu verringern. Francesco Caselli von der London School of Economics zeigte mit seinen Ko-Autoren im Jahr 2020 in einer breit angelegten Studie, dass in den vergangenen Jahrzehnten der internationale Handel für die meisten Länder wirtschaftliche Störungen reduziert habe. Der Wert von Lieferketten zeigt sich auch im Einzelfall. Yasuyuki Todo und Mitstreiter analysierten im Jahr 2013 die Erdbeben- und Tsunamikatastrophe in Japan und resümierten, dass die Vorteile der weit geworfenen Liefer- und Kundennetze in der Erholung nach der Katastrophe die unmittelbaren Nachteile überwogen hätten.

Wirtschaftliche Souveränität wie in Nordkorea?

Trotz solcher Analysen hat mit den globalen Lieferschwierigkeiten in der Pandemie gerade in Europa die Idee der wirtschaftlichen Souveränität Fahrt aufgenommen. Im Kern heißt das, globale Lieferketten abzuschneiden und Schlüsseltechnologien im eigenen Land subventioniert herzustellen. Es ist eine abgeschwächte Form der nordkoreanischen Juche-Ideologie, welche die nationale Selbstversorgung beschwört und die nordkoreanische Bevölkerung teuer zu stehen kommt.

Die Ökonomen der Bank von England verweisen nüchtern auf den Trugschluss, dass die Pandemie lehre, die Produktion aus dem Ausland zurückzuholen. Einem globalen Schock wie in der Pandemie, in dem überall die Nachfrage nach bestimmten Gütern drastisch steigt und das Angebot wegbricht, lässt sich auch mit heimischer Produktion nicht ausweichen. Im Gegenteil: Das Kappen globaler Lieferketten verschärft die Lage, weil Lieferungen aus dem Ausland ausbleiben.

Die Formel der wirtschaftlichen Souveränität gegenüber den globalen Lieferketten hat aus Sicht von Regierungen den Vorteil, dass sie sich im scheinbaren wirtschaftlichen Kampf der Nationen auf dem Feldherrenhügel präsentieren können. Der Marktwirtschaft, auch der sozialen, ist dieser Gedanke der zentralen Lenkung fremd. Sie setzt darauf, dass Unternehmen wie Toyota im Wettbewerb und im Eigeninteresse lernen, die Widerstandskraft gegen Lieferschwierigkeiten zu steigern. Bislang hat das gut funktioniert. Der Beweis eines Marktversagens, das vielleicht staatliches Handeln wider die globalen Lieferketten rechtfertigen könnte, muss erst noch geführt werden.

 

Literatur
Francesco Caselli et al. (2020): Diversification through trade. The Quarterly Journal of Economics, Bd. 135(1), S. 449-502.

Lucio D’Aguanno et al. (2021): Global Value Chains, volatility and safe openness: Is trade a double-edged sword? Bank of England Financial Stability Paper, Nr. 46.

Yasuyuki Todo, Kentaro Nakajima und Petr Matous (2013): How Do Supply Chain Networks Affect the Resilience of Firms to Natural Disasters? Evidence from the Great East Japan Earthquake. RIETI Discussion Paper 13-E-028.


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