Deus ex Machina

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So nah und doch so fern – der fremde Freund

Es muß ein jeglich Ding der Menschen Urtheil leiden Und ob es tauglich sey, steht nicht in seiner Macht; Der meiste Theil ist doch auff schmähen nur bedacht...

Es muß ein jeglich Ding der Menschen Urtheil leiden
Und ob es tauglich sey, steht nicht in seiner Macht;
Der meiste Theil ist doch auff schmähen nur bedacht
Und denckt was er nicht kan, dasselbe muß’ er neiden. 

Martin Opitz, An diß Buch

Ich schmökere in meiner Twittertimeline und lege Satz für Satz auf die Couch. Wenn für angewandte Küchenpsychologie niemand auf meinem Sofa oder auf dem nebenstehenden Barhocker sitzt und in Weinlaune zu erzählen beginnt, gilt die Analyse dem ins Netz getippte Wort. Leicht kommen mehr als drei fünfzigminütige Sitzungen pro Woche zusammen. Mehrmals am Tag geben die frei publizierten Assoziationen Auskunft über das Befinden im Damals, hier und morgen der befreundeten Patienten. So erquickt die wohlgenährte Datenbasis das Herz des Analytikers: Fotos, Vorlieben, Freunde und die Bereitschaft laut zu denken, zu planen, zu bangen. Karriereschritte, kleine Flirts und Kinderwünsche – über soziale Netzwerke puzzeln wir die Geständnisse unserer Netzgefährten zu Bildern der einzelnen Protagonisten und zu einer Deutung der gesamten digitalen Sphäre zusammen. Wir haben das Netz durchschaut! Die Wissbegier über das Wesen des digitalen Gegenübers birgt aber vor allem dann Chancen für ein umfassenderes Verständnis von Persönlichkeiten, Beziehungen und Handeln im Internet, wenn man einen wichtigen Schritt vor die Erforschung des Nächsten stellt: kenne dich selbst.

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Das Studium der persönlichen Preisgabe digitaler Bekanntschaften ist nur eine scheinbare Annäherung an die Wirklichkeit ihrer Wesen. Über die genaue Beobachtung der eigenen Begeisterung für ein sanftes Stalking, das Ausmaß der Neugierde für den Alltag der Freunde und die Intensität der Interpretation von Bits und Pieces Unbekannter kann man vor allen Dingen Schlüsse über den eigenen Charakter ziehen. Es ist leicht zu sagen: Herr Müller schrieb im letzten Herbst depressivere Blogs, Fräulein Friedrich gab das Scheitern ihrer Liebschaft nur über Facebook bekannt, um sich den Nächsten zu angeln, betrübte Singles twittern des Nachts gegen die Einsamkeit. Die Wahrheit ist: wir wissen nichts. Doch es scheint kaum erträglich, das Tummeln im Netz zu belauschen, ohne mit Kennerblick zu sagen: „Für wahr, diese Plappermäule im Netz, sie müssen verrückt sein.“ 
Zu glauben, man tauche ein in eine Schar Besessener, in deren Mitte das eigene Tun besonnen und weise erscheint, dient an erster Stelle der Reduktion von eigener Unsicherheit und Zweifeln, die das Bad im Datenmeer in uns auslösen.

Zu viele Informationen, Privates, Selbstdarstellung – ein Verhalten gebündelt unter dem Begriff „Oversharing“ – werden für das lesende Umfeld meist weniger zu einem Störfaktor, wenn ihre reine Menge als nicht verträglich wahrgenommen wird, sondern wenn die Auskünfte den zufälligen Leser unangenehm berühren. Doch was jeder Einzelne als „too much information“, als indiskret oder zudringlich empfindet, liegt selten in der Hand des Absenders. Statusupdates in sozialen Netzwerken lösen beim Leser Unwohlsein aus, nicht, weil sie unverfroren sind; nicht, weil jemand ein rücksichtsloser Rüpel ist oder das Netz nicht versteht. Eine stark ablehnende Reaktion auf digitale Kurzmitteilungen in der Öffentlichkeit eines Netzwerkes tritt dann auf, wenn Gefühle, Wertesystem und Lebenswelt des Publikums unmittelbar angestoßen und in Frage gestellt werden. Notizen aus dem Alltag anderer können eigene Defizite aufdecken, den Wunsch nach Änderung wecken oder ungebetener Gast im heilen Weltbild sein. Für manche Nutzer mag dies über #beischlaftweets geschehen, Parteibekenntnisse mit bekehrendem Anspruch, suizidale Gedanken oder eine selbstherrliche Dokumentation des beruflichen Erfolges.

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Menschen gruppieren sich im Web nicht nur entlang tatsächlich bestehender Bekanntschaften und Interessensgebieten, sondern auch entlang empathischer Fähigkeiten, Besonnenheit und Toleranz. Beziehungen gewinnen auf diese Weise an Komplexität und persönlicher Bedeutung, die letztlich die Qualität eines Netzwerkes definieren, und den Stellenwert der Quantität verringern. Diese Ausdifferenzierung von Netzwerken ist weitaus spannender als ihr Wachstum. Deutlich wird, dass Einfluss sich nicht aus der reinen Größe eines Netzwerkes ergibt, sondern ihr Wert für eine Gemeinschaft dann steigt, wenn die geschaffenen Bindungen über wechselseitigen Informationsaustausch voneinander profitieren und die Beziehungen über ihre bewusste Auswahl belastbar werden. Über die Größe eines Freundeskreises oder einer passiven Twittergefolgschaft einen Platz in der Highscore zu erreichen, ist kein Zeichen für Talent und Charme, sondern Ausdruck einer milden Spielsucht.

Ein großes Netzwerk verwildert zudem in Windeseile, vernachlässigt man Pflege und Frühjahrsputz. Das drückende Gefühl zu vielen Informationen ausgesetzt zu sein, ist kein immanentes Problem sozialer Netzwerke, sondern selbst herbeigeführt. Wer aus Angst etwas zu verpassen den Garten zu dicht bepflanzt, fühlt sich darin nicht mehr zuhause. Das Empfinden, dass andere Menschen zu viele, die falschen oder wenig intelligente Dinge mit mir teilen wollen, lässt kein Urteil darüber zu, welche Art von Kommunikationskultur im Netz herrscht. Es offenbart, dass die eigene Intelligenz nicht zum Einsatz kommt, um ein sinnstiftendes Netz zu weben. Wer sich täglich über Bekundungen entrüstet, hat scheinbar Gefallen an der Qual und verkennt die Möglichkeit, den Aus-Knopf zu drücken und selbst etwas zu initiieren, an dem er Freude hat.

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Mit der Freude an Gesprächen im Netz als Prämisse, ist die Bezeichnung digitaler Beziehungen als „Freunde“ gar nicht so unpassend, wie oft kritisiert wird. Im Gegenteil: wenn wir das Eingehen einer Freundschaft in sozialen Netzwerken als eine „Gemeinschaft des Geistes“ begreifen, in der Sympathie und Wertschätzung sowie ein gewisser Nutzen vorhanden sind und diese die Beteiligten weiterbringt, charakterisiert die Bezeichnung der Netzfreundschaft das Phänomen recht präzise. Diese Definition legt nahe, dass der Aufbau einer Gemeinschaft mit mehr Sorgfalt und immer mit der Fragestellung geschehen sollte, welche meiner Erwartungen sie erfüllen kann. Die Gefahr für Frustration ist groß, wenn „dabei sein ist alles“ der Beweggrund ist. Wer den Nutzern großer Communities zutraut ein Angebot zu gestalten, dass die zahlreichen und sehr verschiedenen Bedürfnisse ihrer Teilnehmer in einem guten Sinne erfüllen kann, wird enttäuscht werden.

„Unser aller Netz soll schöner werden“, ist ein fälschliches Bestreben, das ein arrogantes Beraterwesen als Geschäftsgrundlage missbraucht. Aus dem willkürlichen Ideal eines vorbildlichen Netznutzers leiten so genannte Onlineexperten Regeln und Manifeste ab, die eine hoffnungsvolle Eigenschaft des Netzes verkennen: das Social Web ist ein differenziertes Gesellschaftssystem, dessen Überlegenheit ist, vielfältige Diskussionsräume zu schaffen. Ihre Stärken und Vorzüge kämen durch ein übergreifendes Regelwerk nicht zur Entfaltung. Publikationen, wie etwa „101 Leitlinien für die digitale Welt“ werden der Vielfalt von Persönlichkeiten und Kommunikationstechniken nicht gerecht. Sie sind wie ein Flirtkurs, dessen Ziel es ist, mit einem beliebigen Partner glücklich werden zu können. Doch wer sein Glück nicht in der Beliebigkeit der Liebe sieht, sollte zu schätzen wissen, dass nicht jeder Online-Kontakt ein potenzieller Partner ist.

Dennoch bleibt es verwunderlich, wie leicht das Urteil über andere virtuelle Personen getroffen wird, wissen wir doch, wie grobkörnig die virtuelle Neuschaffung der eigenen Person verglichen mit dem Original stets ausfällt. Zudem ist es kurz gedacht anzunehmen, andere digitale Persönlichkeiten seien weniger bewusst gestaltet, als die eigene. Menschen lernen von Kindesbeinen an die Wahrnehmung ihrer Person in ihrem Sinne zu steuern. Das Impression Management ist dabei eine entscheidende Fertigkeit, die auch im Netz trainiert und verfeinert wird. Dabei ist die Fähigkeit zur Selbstreflexion grundlegend und wird besonders geschult. Wenn mein Anspruch ist, mich selbst gut zu kennen, werden besonders die unbequemen Online-Kontakte dabei eine Hilfe sein. Sind nicht Konfliktfähigkeit und Neugierde zwei treibende Kräfte?

Freunde gewinnt man nicht aus der Beobachtung, sondern im Gespräch. Freundschaft bedeutet auch, leidenschaftlich miteinander zu streiten. Zerrt der Plausch im Netz an den Nerven, doch kann man den Blick nicht vom Treiben wenden, lohnt es sich, sein Glück auf der Party nebenan zu versuchen. Denn das Internet ist nicht per se der falsche Ort. Wenn ich nicht ablassen kann, jede Zusammenkunft zu monieren und über andere zu spotten, ist das womöglich der Grund meines Besuchs. So gesellt sich zum Ärger über das Netz, zumindest die Freude über diese Selbsterkenntnis.