Deus ex Machina

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Von Banken, Punkten und Ungerechtigkeiten

Worin sich die Autorin in Demut gegenüber der Mathematik übet und aufzeiget die Greuel der computerisierten Ungerechtigkeiten, wie auch die wohltätigen Effekte der oftmals verteufelten Scoring-Modelle.

Worin sich die Autorin in Demut gegenüber der Mathematik übet und aufzeiget die Greuel der computerisierten Ungerechtigkeiten, wie auch die wohltätigen Effekte der oftmals verteufelten Scoring-Modelle.

 

In manchen Ländern funktioniert die Kreditvergabe noch heute so wie bei uns vor ein paar hundert Jahren. Gehört man weder zur verschwindend kleinen, schwerreichen Elite eines zentralafrikanischen Elendslandes, noch zur gleichermaßen unbedeutenden Mittelschicht mit regelmäßigem Einkommen, stehen die Chancen schlecht, Gnade vor den Augen eines Bankbeamten zu finden.

Ohne Status und vorzeigbare Sicherheiten (deren rechtmäßigen Besitz man belegen können sollte), bleiben allenfalls noch die unzähligen Mikrofinanzinstitutionen, an die sich der kreditsuchende Afrikaner wenden könnte. Natürlich ist der Kunde in den meisten Fällen abhängig von der Einschätzung des Bankbeamten. Wortreich, aber letztlich hilflos, kann man versuchen, ihn von der Rendite eines geplanten Projektes zu überzeugen, und wenn man ein – egal wie klappriges – Auto sein eigen nennen kann, kommt der Beamte auch schon mal mit, fotografiert das verpfändbare Hab und Gut und nimmt die Fotos als Beweis für die gestellten Sicherheiten in die Kreditmappe auf. Das ist aufwendig, bestimmt nicht immer gerecht, oftmals willkürlich, aber immerhin kennt man sein Gegenüber, man verhandelt mit einem Menschen, von Angesicht zu Angesicht und könnte notfalls sogar mit dem Fuß aufstampfen, um seinem Anliegen Nachdruck zu verleihen.

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Bei uns hingegen wird das zunehmend seltener. Mein Großvater war noch Mitglied im Aufsichtsrat seiner Volksbank, meine Eltern sind selbstverständlich Zeit ihres Lebens ihrer Hausbank treu geblieben, ich hingegen habe ebenso selbstverständlich schon in jungen Jahren mehr Lebensabschnittsbankbeziehungen geführt, als ich zählen kann. In jeder neuen Stadt suche ich nach allerlei strategischen Gesichtspunkten die beste Bank aus: Nähe der Filiale, Kundenfreundlichkeit, Anzahl der Geldautomaten, Konditionen und Auslandsverfügbarkeit. Das ist mir prinzipiell nicht schlecht bekommen, hat aber auch eine Kehrseite: man kennt mich nicht. Nie habe ich mich langfristig gebunden und folglich fehlt die über Jahre gewachsene Vertrauensbasis. Man mag davon halten was man will, aber mit meinem kapriziösen Bankkundenverhalten stehe ich nicht allein da, und so hat die Bank andere Mittel gefunden, sollte ich dereinst einen Kredit wünschen, mich einzuschätzen: das Kreditscoring.

Entwickelt wurden die ersten Scoringsysteme bereits Anfang des vergangenen Jahrhunderts, aber elektronisch wurde das Verfahren erst in den 1950er Jahren – und damit massenkompatibel. Scoring-Methoden werden in vielen Bereichen eingesetzt, man kann damit die Effektivität von Werbung messen, medizinische Diagnosen klassifizieren, oder eben das Kreditrisiko von Bankkunden. Wir alle sind vermutlich einer der über 66 Millionen Einträge der Schufa, die einen der größten Datensammeltöpfe des Landes hütet. In dieser Funktion heißen wir übrigens „Scoreobjekt” – nicht sehr schmeichelhaft. Allerdings haben wir in die Objektivierung unserer Person und Speicherung unserer Daten alle irgendwann eingewilligt. Wobei die Freiwilligkeit natürlich nur theoretisch existiert: ohne Einwilligung keine Teilnahme an den finanziellen Annehmlichkeiten der Moderne. Neben dem, was wir freiwillig in unseren Konto- und Kreditanträgen der Bank anvertrauen, werden auch allerlei andere Dinge archiviert. Die Wohnorte, vergangene wie aktuelle, Anzahl der Umzüge und Konten, Nationalität und was sonst noch zu haben ist auf dem Datenmarkt. Es soll auch Fälle gegeben haben, wo “playboyhaftes Verhalten” sich auf die Kundenklassifizierung auswirkte, aber das mag ein wildes Gerücht sein. In vielen Fällen jedenfalls läßt die Transparenz zu wünschen übrig, denn die Details der Auswertungsmethoden werden von den vielen Auskunfteien sorgfältiger behütet, als Staatsgeheimnisse in unseren parlamentarischen Ausschüssen.

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Möchte man daher etwas über diese Methoden sagen, begibt man sich auf unsicheres Terrain. Sicher ist immerhin, daß die meisten Scoring Verfahren auf der Annahme beruhen, daß das menschliche Verhalten Gesetzmäßigkeiten folgt, die man aus bestehenden Daten herauslesen kann. Im Computerzeitalter ist Rechenkapazität keine Beschränkung mehr und Datenunmengen aus der Vergangenheit sind ebenfalls reichlich verfügbar. Auf dieser Basis ist es spielend einfach, die Korrelation bestimmter Kundeneigenschaften mit der Ausfallwahrscheinlichkeit zu errechnen, wobei die Kausalität ziemlich irrelevant ist. Intuitiv nachvollziehbar ist zum Beispiel, daß Menschen mit vielen Kontowechseln seltener Kredite zurückzahlen, denn hat man nur genug Konten und Karten, kann man die Schulden wie beim Hütchenspiel verschieben. Der Computer kann aus den vielen einzelnen Datenpunkten der Vergangenheit einen Trend herausrechnen und die Korrelation zwischen Kartenanzahl und Ausfallwahrscheinlichkeit beziffern. Was im eindimensionalen Raum mit nur zwei Größen funktioniert, läßt sich mit Mathematik und Computern auch auf fast beliebig viele Variablen ausdehnen, auch wenn die Berücksichtigung von Querabhängigkeiten immer größere Komplexität bedeutet. Und am Ende kann man anhand der bekannten Merkmale auch unbekannten Kunden ein vermutetes Risiko zuschreiben – das Scoring.

Ganz sicher gibt es Fälle die dem oben genannten Klischee entsprechen und die Bank ist gut bedient, den Nutzer von 10 verschiedenen Kreditkarten mit Vorsicht zu prüfen. Unrecht tut sie natürlich jenen, die zum Beispiel viel auf Reisen gehen und daher für verschiedene Regionen die jeweils günstigste Karte beantragt haben. Das mathematische Prinzip ist hervorragend geeignet, den allgemeinen Zusammenhang im Durchschnitt zu erkennen und mit roten Fähnchen anzuprangern, der sprichwörtlichen Ausnahme von der Regel hingegen wird sie selten gerecht. Wobei es genau genommen natürlich nicht die Maschine ist: wir selbst, in Person von Statistikern und Soziologen, unterstellen das jeweilige Verhalten, basteln uns die Gesetzmäßigkeit, wohlwissend, daß das Prinzip Gießkanne dem Einzelnen nie gerecht wird.

Farbenprächtige Beispiele für das Versagen der Scoring-Modelle finden sich reichlich. Der Berufspendler, der wegen des Wohnsitzes in einer anrüchigen Bahnhofsgegend als Risiko klassifiziert wird, obwohl der arme Tropf lediglich auf die Zuganbindung angewiesen ist. Die alleinerziehende Hausfrau, die die im Versandhandel bestellte Ware zurückgehen läßt, weil sie die rosa Leggings doch nicht so kleidsam fand, aber während der Auseinandersetzung über die Rechtmäßigkeit der Rückgabe als säumige Schuldnerin geführt wird. Schrecklich vielen Menschen, wenn man es so bedenkt, werden die Mathematik und Scoring-Modelle nicht gerecht.

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Der Preis für die schnellere und effizientere Abfertigung des Massengeschäfts ist die Vernachlässigung des Einzelnen – der Druck zu mehr Effizienz wird aber nicht von den Banken, sondern von unserer Gesellschaft insgesamt aufgebaut. Banken – auch wenn man manche in den letzten Jahren für ein Casino hätte halten können – haben eine strategische Gewinnerzielungsabsicht und müssen die Risiken der ausgereichten Kredite effizient beurteilen. Und effizient, bei aller berechtigten Kritik, sind Scoring-Modelle durchaus. Infrastruktur und Rechenkapazität sind ohnehin vorhanden und kein Mitarbeiter könnte so zuverlässig und schnell den durchschnittlichen Kreditnehmer als solchen beurteilen. Die nicht-durchschnittlichen Fälle haben leider Pech gehabt, sie fallen durchs mathematische Netz. Falls sie nicht ganz unzeitgemäß eine langfristige Hausbankbeziehung kultiviert haben.

Das wäre also – gerade wenn man undurchschnittliche Lebensgewohnheiten pflegt – durchaus erwägenswert, damit man seine Eigenarten einem menschlichen Bankberater erklären kann und nicht mit 150 Zeichen ins Feld „Sonstiges” bei der Online-Kreditvergabe der Direktbank zusammenfassen muß. Insgesamt jedoch, so scheint mir, ist all das immer noch um Lichtjahre besser als die Zustände in Schwarzafrika, wo überhaupt nur jeder zehnte oder oder dreihundertste Bürger ein Bankkonto hat – von Krediten gar nicht zu reden. Wir können uns also glücklich schätzen, in der Moderne mit all ihren Segnungen schon ein paar Jahre früher angekommen zu sein.