Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Die Vermessung der Welt

Ein Junge fragt einen Übergewichtigen im Apple Store nach einem Fitness-Armband. 24 Stunden später schickt meine Mutter GPS-Koordinaten ihrer letzten Radtour. Wir, die bestvermessene Generation.

Mit einem Kollegen unterhielt ich mich letztens auf dem Weg zurück in die Stadt über Strava. Strava ist ein soziales Netzwerk für Sportler, genauer: Für Läufer und Radfahrer. Eine der Funktionen, wegen der man sich bei Strava anmeldet, sind sogenannte Segmente: Festgelegte Streckenabschnitte, für die Ranglisten gebildet werden von jenen Sportlern, die diese Segmente bereits absolviert haben. Wenn man beispielsweise vor zwei Jahren eine nicht so umwerfende Leistung den Jaufenpass bergauf erbracht hat, kann man im Jahr darauf diese publikumswirksam verbessern (oder sich von der Zeit des Erstplatzierten in diesem Segment deutlich gedemütigt fühlen). Dabei fährt man nicht nur gegen andere Strava-Nutzer, sondern auch um seine persönliche Bestzeit. Kurz: Das kompetitive Element motiviert zahlreiche Läufer und Radler, alles für den Sieg in einzelnen Segmenten zu geben. Natürlich übertreiben es manche: In den USA kam ein Radfahrer bei dem Versuch zu Tode, seine Bestzeit zu verteidigen. Seine Familie hat daraufhin Strava verklagt, scheiterte aber vor Gericht.

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Das Sich-Messen-Wollen mit anderen ist nur ein Resultat eines in den letzten Jahren aufkommenden Trends: Selbstvermessung. Vor einigen Jahren ging Apple mit Nike eine Kollaboration ein, um die vom Träger der Turnschuhe des Herstellers zurückgelegten Schritte zu zählen und dies auf iPhones auszuwerten. Schon damals gab es eine Seite, auf der die Teilnehmer des Nike+ getauften Programms ihre Leistungen miteinander vergleichen und herausfinden konnten, ob sie die gesteckten persönlichen Ziele erreichten. Zu Beginn des Programms musste der Sportler noch einen etwas klobig wirkenden Sensor in die Aussparung seines Nike+-Turnschuhs stecken, mittlerweile bietet Nike einen Sensor in Form eines Armbandes an, der die Bewegungen auch dann misst, wenn der Sportler statt Plastik- Lederschuhe trägt und statt im Englischen Garten durch Büroflure läuft.

Wir in Digitalien sind bereits weiter: Vor einigen Tagen fragte jemand in meiner Twitter-Timeline herum, für welches Fitness-Armband er sich entscheiden solle und welches Vorteile gegenüber den anderen hätte. Statt der erhofften konstruktiven Vorschläge erntete er Unverständnis; nicht jedoch, weil er überhaupt über die Anschaffung eines solchen Selbstvermessers nachdachte, vielmehr wegen der Tatsache, dass er noch keines besaß. Er ist einer der letzten Ahnungslosen in einer Gruppe Wissender, die die Anzahl ihrer täglich zurückgelegten Schritte kennen und um die Erreichbarkeit ihrer Tagesziele wissen.

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Der Nachteil bei dieser Art von Messgerät ist, dass es bestenfalls weiß, wie viele Schritte der Träger gemacht hat oder welche Anzahl einer bestimmten Bewegung, der Standort ist ihnen jedoch vollkommen unbekannt. In diese Bresche springen Uhren mit GPS-Empfänger oder Apps für das Smartphone, wie die Anfang des Jahres von Facebook gekaufte App Moves. Im Gegensatz zu Armbändern und Sensoren greifen diese Apps auf die Ortungsdienste des Smartphones zurück und sind in der Lage, anhand der zurückgelegten Entfernungen nicht nur die Anzahl der Schritte zu berechnen, sondern auch aufgrund der Geschwindigkeit und des Profils der Bewegung zu erraten, ob der Smartphonebesitzer gegangen, gelaufen, Rad oder Auto gefahren ist oder ob er öffentliche Verkehrsmittel benutzt hat. Auf den ersten Blick beeindruckend, wenn die App die Bewegungen richtig erkennt, auf den zweiten Schritt demotivierend, wenn die App nach einer Stunde Jogging behauptet, man käme zurück von einem Spaziergang.

Bei dieser Art Handy-App wird schließlich auch die Zerrissenheit einiger meiner Kollegen deutlich: Beruflich mit den Schwerpunkten Datensicherheit, -schutz und Privatsphäre beschäftigt (von Berufswegen also ungeeignet, eine solche App gut finden zu können), freuen sie sich über die Fähigkeit von Google, Fortbewegungsarten automatisch zu erkennen und darauf aufbauend tatsächlich einen Mehrwert zu bieten: Die automatische Erinnerung, wann man zu einem Termin aufbrechen muss, um noch pünktlich zu sein nebst einiger Vorschläge zum Reiseverlauf; ob man die Strecke mit öffentlichen Verkehrsmitteln schneller schafft als mit dem Leihfahrrad vorn an der Ecke. Ein komisches Gefühl, dann noch zu wissen, dass manche Telefone die gesamte Zeit mit aktivierten Mikrofon alle Gespräche in der Umgebung aufzeichnen und diese auf Nutzereingaben analysieren, um automatisch darauf zu reagieren.

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Doch wir gewöhnen uns mit der Zeit an die Technik (besser: wir werden daran gewöhnt), daran, dass digitale Geräte unsere Bewegungen oder Äußerungen aufzeichnen und automatisch auf Rechnern des jeweiligen Herstellers auswerten. Google macht ein Angebot, für das man sich mit dem Kauf eines bestimmten Telefons oder der Installation einer bestimmten App entscheiden kann. Der Gegenwert für die Bereitstellung dieser Daten ist ein Service, der bereits erahnen lässt, in welche Richtung digitale Assistenten sich in Zukunft entwickeln. Gesetzlich vorgeschrieben hingegen ist das von der Europäischen Union geplante eCall-System, das ab Oktober 2015 in alle Neufahrzeuge eingebaut werden muss. Im Falle eines Unfalls ruft dieses System automatisch eine Notrufnummer an und übermittelt (GPS-)Ort und Zeit des Unfalls sowie eindeutige IDs, über die das Fahrzeug identifiziert werden kann. Auf welche Ideen der Datennutzung konservative (im Wortsinne also das Bestehende erhalten wollende und dem Neuen kritisch gegenüberstehende) Politiker in Zukunft kommen werden, lässt sich an der aktuellen Diskussion rund um die Nutzung der Mautdaten erahnen.

Auch auf dem Fahrrad fallen mir mehrere Situationen ein, in denen ein vernetzter Computer und die Interaktion mit anderen Radfahrern Vorteile hätte gegenüber einem vergleichsweise dummen Gerät, das nur die zurückgelegte Strecke und die Geschwindigkeit anzeigen kann. Auf Kickstarter wurde ein Projekt zum Bau eines vernetzten Fahrrads, dem Vanhawks Valour, Mitte dieses Jahres erfolgreich beendet. Im Rahmen sind neben einem Navigationssystem, das den Fahrer mit LEDs im Lenker darauf hinweist, wann er wohin abbiegen muss, weitere Sensoren integriert, die durch leichtes Vibrieren des Lenkers auf Auto und Fußgänger im toten Winkel aufmerksam machen. Darüber hinaus verbindet sich das Rad mit allen anderen seiner Art: Es tauscht Informationen über Schlaglöcher aus oder meldet sich im Vorbeifahren bei den anderen Rädern, so dass die Position eines Rades (unter anderem dem Besitzer) einigermaßen bekannt ist. Natürlich erfasst es auch Wegstrecke und Geschwindigkeit, berechnet daraus den Kalorienverbrauch und synchronisiert diese Daten mit einer Fitness-Plattform im Netz.

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Gut möglich also, dass uns in Zukunft auf dem Weg hinauf auf den Jaufenpass jedem Gefahrenpunkt ausweichende und lenkervibrierende Fahrräder entgegenkommen, während wir noch in Schlaglöcher fahren und der sich sämtlicher Elektronik am Rad verweigernde Begleiter schwitzend nach den zurückgelegten Höhenmetern fragt. Er weiß, dass ich ihm diese Informationen schon jetzt und nicht erst heute Abend die Fitnessplattform im Netz liefern kann, auf der ich mich mit anderen um die Bestzeit auf dem Anstieg messen werde, um die peinliche Zeit der Auffahrt vor zwei Jahren deutlich zu verbessern. Doch das ist eine andere Geschichte.