Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Bücherkiste (12): Das geheime Erbe Ludwig Erhards

Es ist wieder chic geworden, sich auf Ludwig Erhard und seine Soziale Marktwirtschaft zu berufen. Das tut sogar Sahra Wagenknecht. Ein neues Buch vertritt jedoch die These: Wer sich heute als Erhard-Fan outet, schmückt sich leicht mit fremden Federn und dies umso mehr, als Erhards wirtschaftspolitische Konzeption in Deutschland niemals richtig verstanden worden ist.

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Diese provozierende These stammt von Horst Friedrich Wünsche, und sie verdient Aufmerksamkeit. Denn Wünsche ist vom Fach: Er war der letzte wissenschaftliche Mitarbeiter Erhards und er ist der wahrscheinlich beste Kenner der Veröffentlichungen und des schriftlichen Nachlasses des “Vaters des Wirtschaftswunders”.

Wünsches Buch ist ambitiös, interessant und aufrührend, aber auch bemüht. Der Autor will Erhards wirtschaftspolitische Konzeption  jenseits aller Vereinnahmungen herleiten und revitalisieren. Zu diesem Zweck wendet er sich nicht nur entschieden gegen seit langem in Deutschland betriebene Wirtschaftspolitik, die er als Kombination aus Marktwirtschaft, makroökonomischer Globalsteuerung und “sozialem Bürokratismus” mit einer Vielzahl konzeptionsloser undschädlicher Interventionen des Staates beschreibt. Als Symbol der Abkehr vom Geiste Erhards bezeichnet er das 1967 verabschiedete Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, mit dem die Tür zur Staatsverschuldung und zu einer kurzatmigen Wirtschaftspolitik geöffnet worden sei. Wünsche beklagt zudem eine gewachsene materielle Ungleichheit, mit der die Vorstellung eines “Wohlstands für alle” an Strahlkraft verloren habe.

Kritik an der heute und seit langem betriebenen Wirtschaftspolitik darf man von einem Erhard-Anhänger erwarten. Wünsche wendet sich aber auch mit großer Wucht und geradezu verächtlich gegen die Vereinnahmung Erhards durch deutsche Liberale.

 

Erhard und die Historische Schule

Statt dessen stellt der Autor Erhard in die Tradition der Ökonomen der deutschen Historischen Schule – und das ist, jedenfalls aus liberaler Sicht, eine Provokation. Damit dieses kühne Unterfangen gelingt, muss Wünsche zwei Hürden nehmen: Erstens muss er den Nachweis führen, dass die häufig als “Kathedersozialisten” gescholtenen Vertreter der Historischen Schule in Wirklichkeit Vertreter einer freiheitlichen Wirtschafts- und Sozialordnung waren. Zweitens muss er herleiten, dass Erhard tatsächlich in der Tradition der Historischen Schule stand. Die erste Hürde nimmt Wünsche, aber mit der zweiten hat er schwer zu kämpfen.

Lassen wir zunächst Wünsche sprechen: “Erhard hat jedoch genau das unter Sozialer Marktwirtschaft verstanden: eine freiheitliche und zugleich sozial orientierte Politik; eine marktwirtschaftliche Politik, die das wirtschaftliche Handeln nicht stört, die also die Wirtschaftsfreiheit achtet, und zugleich eine soziale Politik, die dafür sorgt, dass das wirtschaftliche Handeln auch für Dritte – besser gesagt: prinzipiell für alle – nützlich ist.” Und: “Wenn Erhard seine Politik ‘sozialer als jede andere Sozialpolitik’ genannt hat, meinte er folglich nicht, dass dank seiner Wirtschaftspolitik staatliche Sozialleistungen zügig erhöht werden können. Aus seiner Sicht ging es vielmehr darum, dass die Erfolge der Wirtschaftspolitik es immer mehr Einzelnen ermöglichen, ihre soziale Sicherheit in eigener Initiative zu verbessern.” Die Idee, dass Wirtschafts- und Sozialpolitik eine Einheit bilden und eine leistungsfähige Wirtschaft die beste Voraussetzung für die Erreichung sozialer Ziele darstellt, findet sich in der Tat in der Historischen Schule: So hatte Werner Sombart im Jahre 1897 in einem Aufsatz Sozialpolitik als “Wirtschaftspolitik erster Klasse” bezeichnet und geschrieben: “Das Ideal der Sozialpolitik ist das wirtschaftlich Vollkommene; dieses wird dargestellt von dem jeweils höchstentwickelten Wirtschaftssystem, das heißt, dem Wirtschaftssystem höchster Produktivität.”

Die Historische Schule, die lange Zeit auf das Bild der “Kathedersozialisten” reduziert war, wird seit rund 25 Jahren von einer neuen Generation von Wissenschaftlern untersucht und heute weitaus differenzierter betrachtet. Sie wird heute eher als eine Art historische Institutionenlehre betrachtet. Der Dogmenhistoriker Bertram Schefold meint, “dass die grundsätzliche Intention der Historischen Schule, die Nationalökonomie in eine wirkliche Sozialwissenschaft zu verwandeln, in der historische, kulturelle und institutionelle Aspekte ihren Platz haben, berechtigt ist und eine neue Aufmerksamkeit verdienen.” Die Forschung hat auch gezeigt, dass die Historische Schule und der deutsche Ordoliberalismus keineswegs nur Antipoden, sondern auch miteinander verbunden sind.

Was suchte Erhard in der Historischen Schule und als Vorläufer in Adam Smiths “Theorie der ethischen Gefühle”? Eine ethisch verpflichtete Sozialwissenschaft, der ökonomische Gewinnmaximierung um jeden Preis fern steht, die aber das Freiheitsrecht des Individuums hoch hält, antwortet Wünsche: “Im Gegensatz zur modernen Nationalökonomie ging es der Historischen Schule vorzugsweise um die sozialen Konsequenzen des Wirtschaftens und in politischer Hinsicht um die Frage, wie sich der soziale Frieden in prosperierenden und sich wandelnden Gesellschaften erreichen und wahren lässt.” Erhard selbst schrieb einmal: „Nicht die freie Marktwirtschaft des liberalistischen Freibeutertums einer vergangenen Ära, auch nicht das ,freie Spiel der Kräfte‘ und dergleichen Phrasen, mit denen man hausieren geht, sondern die sozial verpflichtete Marktwirtschaft, die das einzelne Individuum wieder zur Geltung kommen lässt, die den Wert der Persönlichkeit obenan stellt und der Leistung den verdienten Ertrag zugute kommen lässt, das ist die Marktwirtschaft moderner Prägung.”

 

Erhard und seine akademischen Lehrer

Den Nachweis, dass sich Erhard über seine akademischen Lehrer der Historischen Schule annäherte, kann Wünsche mangels handfester Quellen bestenfalls indirekt herleiten und an dieser Stelle wirkt das Buch besonders bemüht. Erhard hatte nicht mit Begeisterung Wirtschaft studiert, die Handelshochschule Nürnberg war keine erstrangige wissenschaftliche Adresse und Erhard besaß trotz einer in Frankfurt bei Franz Oppenheimer geschriebenen Dissertation keine ausgeprägten wissenschaftlichen Neigungen. Es existieren auch keine schriftlichen Belege für den konkreten Einfluss der sieben akademischen Lehrer Erhards, die Wünsche ausführlich präsentiert: Wilhelm Rieger, Karl Theodor von Eheberg, Adolf Günther, Franz Oppenheimer, Andreas Voigt, Fritz Schmidt und Wilhelm Vershofen.  Erhards verehrter Doktorvater Oppenheimer, der wohl bekannteste unter ihnen, war Anhänger eines liberalen Sozialismus und der Genossenschaftsbewegung.

Geistige Verbindungen mit der Historischen Schule gab es aber durchaus, wie sich aus dieser Passage Wünsches herleitet: “Es wurde schon gesagt: Erhard war der Ansicht, dass marktwirtschaftliche Ordnungen eine chronische Schwäche im Sozialen haben: Marktwirtschaften sind wirtschaftlich effizienter als jedes andere Wirtschaftssystem. Genau besehen tragen in ihnen aber die wirtschaftlich Stärkeren relativ mehr zur gesamtwirtschaftlichen Leistung bei als die Schwächeren. Die Stärkeren wirtschaften ertragreicher und werden dadurch wirtschaftlich fortlaufend stärker. Die Schwächeren bleiben mehr und mehr zurück. In Marktwirtschaften werden somit unweigerlich soziale Spannungen entstehen und anwachsen. Es wird Verteilungskämpfe geben, die sich zu Klassenkämpfen ausweiten und schließlich die marktwirtschaftliche Ordnung erschüttern.” Sozialpolitik als Mittel zur innenpolitischen Befriedung war eine Position, die im 19. Jahrhundert ausgehend von Lorenz von Stein bei vielen deutschen Sozialwissenschaften populär war und zu den Fundamenten der Historischen Schule zählte.

 

Erhard und die Liberalen

Ganz gewiss ist sich der Autor, dass Erhard mit den deutschen liberalen Ökonomen nicht viel im Sinn hatte, die im Buch als weltfremde Außenseiter geschildert werden. Sie hätten Anerkennung gesucht, indem sie sich ohne innere Überzeugung, aber dafür aus Geltungssucht an Erhards Popularität anhängten. “Als Wissenschaftler hatte Erhard zu keinem Einzigen dieser Neoliberalen irgendwelche nennenswerten Kontakte”, schreibt Wünsche. Keiner der vermeintlichen neoliberalen Freunde haben sich “jemals in fundierter Weise mit den Grundzügen der Sozialen Marktwirtschaft befasst oder sich wirklich nachhaltig zur Sozialen Marktwirtschaft bekannt.” Walter Euckens “Grundsätze der Wirtschaftspolitik” habe Erhard als “scholastische Schrift” bezeichnet und es völlig aufgeschlossen, dass Erhards Soziale Marktwirtschaft jemals mit Euckens Wettbewerbstheorie verwechselt werden könnte. Generell findet Wünsche, dass Politikempfehlungen von Liberalen häufig abstrakt und im politischen Betrieb unbrauchbar seien.

Wie auch immer: Der verbale Feldzug des Autors gegen die Liberalen wirkt gelegentlich bemüht, vor allem, wenn er sie auf Vertreter der neoklassischen Theorie reduziert. Das waren die Ordoliberalen nun gerade nicht, und natürlich existieren in grundsätzlichen Fragen viele Übereinstimmungen zwischen Erhard und den Ordoliberalen. Wahr ist aber auch, dass sich Erhard nicht als ein puristischer Vertreter des Ordoliberalismus bezeichnen lässt.

Um Erhards Distanz zu den Liberalen zu demonstrieren und den Realitätssinn Erhards zu betonen, erwähnt Wünsche das Leitsätzegesetz von 1948 und das GWB von 1957.

Das Leitsätzegesetz vom Juni 1948 beinhaltete die Freigabe von Preisen für zahlreiche Güter, aber zahlreiche andere Preise wurden (noch) nicht freigegeben. “Viele halten dieses Gesetz für ein Symbol von unerschütterlichem liberalem Urvertrauen”, schreibt Wünsche. “Tatsächlich zeigt es jedoch nur Erhards undogmatische, auf einen reibungslosen Übergang von der behördlichen Produktionssteuerung und Warenverteilung zur Wirtschaftslenkung durch Preise bedachte Haltung. In der von Erhard zusammen mit Leonhard Miksch formulierten Präambel zum Leitsätzegesetz wird ausdrücklich von einer ‘Auflockerung des staatlichen Warenverteilungs- und Preisfestsetzungssystems’ und nicht von der Einführung einer neuen Wirtschaftsordnung gesprochen.” Daraus zieht Wünsche den Schluss: “Die Soziale Marktwirtschaft wurde in Deutschland also nicht – wie es oft heißt – mit dem Leitsätzegesetz im Juni 1948 eingeführt. Sie wurde vielmehr im Zuge einer länger anhaltenden beharrlichen Politik schrittweise auf- und ausgebaut, und die Preisfreigaben waren dabei nur eine von vielen Maßnahmen. Erhard selbst neigte dazu, den Aufbau der Marktwirtschaft im Industriebereich mit dem In-Kraft-Treten des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen am 1. Januar 1958 als weitgehend abgeschlossen anzusehen.”

Das 1957 gegen harten Widerstand der Industrie verabschiedete Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) greift in vielerlei Weise gegen die Bildung wirtschaftlicher Macht ein, lässt aber auch zahlreiche Freiräume. Das wurde zwar von Ordoliberalen beklagt, nach Ansicht Wünsches aber nicht von Erhard: “Heute wird vielfach angenommen, dass Erhard mit dem GWB ein strenges Verbot aller Kartellabsprachen durchsetzen wollte, wie es sich aus der Wettbewerbskonzeption der Freiburger Schule ergibt. Die Ausnahmen von einem solchen strikten Kartellverbot, die in den §§ 4 bis 8 des GWB von 1957 enthalten sind, werden deshalb durchweg als ‘Durchlöcherungen’ angesehen, die Erhard in der Diskussion seiner Vorstellungen mit Interessenverbänden habe hinnehmen müssen. Aus Erhards Sicht ist dieses Urteil nicht haltbar.”

 

Die Soziale Marktwirtschaft: Ein Forschungsprogramm?

Eine Revitalisierung der Sozialen Marktwirtschaft in der Politik und in der Wahrnehmung der Menschen setzt nach dieser Analyse voraus, dass die Fachwelt die Soziale Marktwirtschaft Erhards als ein fruchtbares Forschungsprogramm versteht. Geben wir noch einmal Wünsche das Wort: “Die bisherige Forschung zu Fragen der Sozialen Marktwirtschaft war unergiebig. Eine wichtige Ursache dafür war, dass diese Forschung in zentralen Bereichen tendenziös war… Die Forschung hat Erhards Soziale Marktwirtschaft von einem falschen Standpunkt aus betrachtet. Sie konnte nur zu fragwürdigen, falschen, verzerrten, also nicht akzeptablen Ergebnissen kommen. Falsch war vor allem, dass Erhards Maßnahmen, die nicht mit ordoliberalen Prinzipien übereinstimmten, als politische Kompromisse abgetan und bedauert wurden, denn wo sonst als gerade in diesen Abweichungen könnte sich der eigenständige Charakter von Erhards politischen Überzeugungen und seiner Politik zeigen.”

Was heißt das in der Praxis?  Mit Blick auf die jüngste Finanzkrise vertritt Wünsche die Ansicht, Krisenprävention à la Erhard, der die Bankenkrise von 1931 miterlebt hatte, führe zu einer Befürwortung des Trennbankensystems: “Diese gewiss nicht spektakulären Erkenntnisse hießen für ihn, dass sich eine Geld- und Kreditpolitik, die Bankzusammenbrüche vermeiden will, auf zwei Gefahrenquellen zu konzentrieren hat: Einerseits muss das allgemeine Risikobewusstsein in der Kreditwirtschaft aufrechterhalten bzw. systematisch gestärkt werden. Andererseits müssen die Möglichkeiten für spekulative Bankgeschäfte konsequent auf das Publikum eingeschränkt werden, das hohe Risiken eingehen will und das die mit ihnen möglicherweise verbundenen Verluste nicht zu scheuen braucht. Das heißt: Die reguläre Banktätigkeit muss exakt definiert und von risikobehafteten Geschäften getrennt werden. Auch in einem grundsätzlich marktwirtschaftlich organisierten Banken- und Finanzsektor kann nicht zugelassen werden, dass Banken mit Einlagen, die von ihren Kunden für sicher gehalten werden, riskante Geschäfte betreiben. Bei der Abtrennung der risikoreichen Geschäfte vom regulären Einlagen-, Depot- und Kreditgeschäft sind spezielle Regelungen zum Einlegerschutz überflüssig. Die im spekulativen Geschäft gegebenenfalls anfallenden Verluste werden dort verbucht und tangieren nicht das Einlage- und Kreditgeschäft.”

Lassen sich daraus allgemeine Erkenntnisse gewinnen? Wünsche schreibt: “Für Erhard folgte aus Smithʼ Darstellung der egoistischen und sozialen Doppelnatur von Menschen eine politische Daueraufgabe, die sich schwer lösen lässt: Die Politik muss die Mitte wahren. Sie darf die tatkräftigen egoistischen Motive nicht schwächen, muss aber rücksichtsloses, ausschließlich egoistisch-materialistisches Denken und Handeln begrenzen.”

Angesichts der unbestreitbaren Tatsache, dass sich der deutsche Ordoliberalismus in der jüngeren Vergangenheit wissenschaftlich marginalisiert hat – wir haben über diesen selbst verschuldeten Niedergang in der F.A.Z. wie in FAZIT geschrieben – , wäre es vielleicht einen Versuch wert herauszufinden, ob sich auf der Basis Erhard’scher Erkenntnisse und jenseits aller Hagiographie eine moderne Wirtschafts- und Sozialpolitik für das 21. Jahrhundert generieren lässt.

 

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Die bisherigen Beiträge der Reihe “Bücherkiste”:

Bücherkiste (11): Alles Egoisten!

Bücherkiste (10): Weg mit den Schulden!

Bücherkiste (9): Die Festung der Makroökonomen

Bücherkiste (8): Dollar-Dominanz

Bücherkiste (7): Die Rückkehr der Erben

Bücherkiste (6): Die Rückkehr der Meister (Smith, Marx, Hayek)

Bücherkiste (5): Geld hilft selten aus der Armut

Bücherkiste (4): Die Bankenlobby redet Schwachsinn

Bücherkiste (3): Warum Nationen scheitern

Bücherkiste (2): Ökonomen für jedermann – Eine Reihe im F.A.Z.-Buchverlag nimmt Gestalt an

Bücherkiste (1): Wie uns Ökonomen vom Dunkel ins Licht führen – Anmerkungen zum neuen Buch von Sylvia Nasar