Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Wenn Ökonomen irren

Mark Twain wird der Satz zugeschrieben, Geschichte wiederhole sich nicht, aber sie reime sich. Die aktuellen ökonomischen Diskussionen erinnern zunehmend an die Debatten vor einem halben Jahrhundert: Der Wille zur Erneuerung geht mit großem Vertrauen in die Machbarkeit einer von Ökonomen beratenen Politik einher. Dieser Beitrag erzählt die Geschichte des erschütternden praktischen Scheiterns einer Theorie in einer damals potenten Volkswirtschaft. Die Ökonomen, die zu diesem Scheitern beigetragen hatten, waren alles andere als Dummköpfe. Ihre Geschichte belegt eine leider zeitlose Erkenntnis: Intelligenz und Sachkunde bieten keinen zuverlässigen Schutz vor ideologischer Verblendung und missionarischer Selbstüberschätzung.

 

Vorgeschichte: Eine Wissenschaft der Dinge

Von seinen Anhängern wird Piero Sraffa als “einer der herausragenden Denker aller Zeiten” (Pier Luigi Porta), als “zusammen mit Keynes wahrscheinlich der größte Ökonom des 20. Jahrhunderts und eine der herausragenden Figuren in der Kultur Europas in seiner Zeit” (Alessandro Roncaglia) und als “einer der sehr großen Politischen Ökonomen des vergangenen Jahrhunderts” (Heinrich Bortis) gefeiert dank eines Werks, das sich als “ziemlich einzigartig in der Geschichte des ökonomischen Denkens” (Gilles Dostaller) beschreiben lässt. Nicht vollständig wäre eine solche Heiligenverehrung ohne eine Mystifizierung: “Piero Sraffa ist ein Rätsel. Dieses Substantiv fasst alles zusammen” (Luigi Pasinetti). Natürlich kann die Wirkung eines solch außerordentlichen Mannes nicht gering gewesen sein: “Nach Sraffa ist die Volkswirtschaftslehre nicht mehr, was sie war” (Heinz D. Kurz und Neri Salvadori).

Eine vergleichbare Neigung zur Hagiografie ist allenfalls unter Verehrern von Karl Marx und Ludwig von Mises beobachtbar. Und kaum zufällig lassen sich sowohl für Sraffa als auch für nicht wenige seiner Verehrer wohlwollende Bezüge zu Marx’ Werk nachweisen. Viele Ökonomen im jungen 21. Jahrhundert dürften das grenzenlose Rühmen Sraffas kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen. Sehr wahrscheinlich hat die Mehrheit nicht einmal seinen Namen gehört.

Piero Sraffa (1898 bis 1983) stammte aus Turin und lebte seit der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in Cambridge. Ähnlich wie Ronald Coase hat Sraffa, der auch Nahestehenden keine tiefen Einblicke in seine Arbeit gestattete, nur wenig Eigenes veröffentlicht. Eine Meisterleistung war die Herausgabe der Gesammelten Werke des klassischen britischen Ökonomen David Ricardo, an der er über mehr als zwei Jahrzehnten gearbeitet hatte. Über jugendliche Studien zu Marx und die intensive Beschäftigung mit Ricardo wurde Sraffa zu einem Anhänger der ökonomischen Klassik. Und über seine eigenen Arbeiten prägt er bis heute die Wahrnehmung dieser Epoche in der Theoriegeschichte.

Daher wird die von Sraffa begründete Schule in Erinnerung an Ricardo auch als “Neoricardianismus” und ihre Mitglieder als “Neoricardianer” bezeichnet. Die Hochburg der Schule befand sich in Italien. Ihre wichtigsten Vertreter im deutschen Sprachraum sind Bertram Schefold (Frankfurt) und Heinz D. Kurz (Graz). Auch in anderen europäischen Ländern fand Sraffas Werk in den vergangenen Jahrzehnten Anhänger, aber es fiel der Schule schwer, den Atlantik zu überqueren.

Im Jahre 1960 veröffentlichte Sraffa ein Buch mit dem Titel “Warenproduktion mittels Waren”. Es ist eines der merkwürdigsten ökonomischen Werke, geschrieben von einem der  merkwürdigsten Ökonomen. Das Buch, mit dessen Entwicklung Sraffa schon mehr als 30 Jahre zuvor begonnen hatte, umfasst nur rund 100 Seiten und zitiert als neueste Quelle den im Jahre 1883 gestorbenen Karl Marx. Die Mainstream-Theorie, die Sraffa mit seinem Werk angreifen will, kommt in seinem Buch nicht ausführlich vor. Institutionen findet man nicht, auch keine sorgfältig ausgearbeitete Rolle des Staates.

Der Sraffa verbundene Ökonom Luigi Pasinetti konstatiert, Sraffa “stellt keinen Bezug zu irgendeinem historischen Kontext her, er erwähnt keine Art eines ‘ökonomischen Agenten’. Er vermeidet vorsichtig jede Annahme über menschliches Verhalten, Marktstrukturen, Wettbewerb, Skalenerträge. Er weicht sogar einer spezifischen Position bei der Verteilung aus”. Einmal kommt ein Geldzins vor, aber eine Geldwirtschaft analysiert Sraffa nicht wirklich.

Sraffa will wie die klassischen Ökonomen Aussagen über langfristige Verhaltensweisen der Wirtschaft treffen. Aber sein Modell ist im Kern statisch. Und wie die Klassiker interessiert er sich  für das gesamtwirtschaftliche Angebot und nicht für die Nachfrage. Pointiert gesagt: Das Ganze wirkt wie komplett aus der Zeit gefallen.

Mithilfe menschlicher Arbeit werden in einzelnen Wirtschaftszweigen Inputs zu Outputs verarbeitet. Unter der Annahme einer in allen Wirtschaftszweigen gleichförmige Profitrate entstehen in Sraffas Modellwelt Gleichungssysteme, die zeigen, wie sich bei einer gegebenen Technik und Inputs von Arbeit und Rohstoffen objektiv langfristige relative Preise von Waren bilden.

“Wenn ein Mann vom Mond auf die Erde fiele und die Mengen an Dingen notierte, die in jeder Fabrik verbraucht werden und die Mengen an Produkten, die jedes Jahr in allen Fabriken verbraucht werden, würde er ableiten, zu welchen Werten die Waren verkauft werden, wenn der Zinssatz gleichförmig ist und der Produktionsprozess sich wiederholt”, schrieb Sraffa. “Zusammengefasst zeigen die Gleichungen, dass sich die Tauschbedingungen alleine aus den Produktionsbedingungen ergeben.”

Kurz: Sraffas Wirtschaftswissenschaft ist nach seinen eigenen Worten eine “Wissenschaft der Dinge”, keine Wissenschaft der Menschen. “Es ist ein Schnappschuss eines Produktionssystems zu einem bestimmten Zeitpunkt”, erläutert Axel Leijonhufvud. “Es ist in der Lage, sich zu reproduzieren, aber die Mengen verändern sich nicht; sie werden konstant gehalten.  Die Allokation der Ressourcen wird nicht erklärt. Stattdessen richtet sich das Augenmerk darauf, eine logische Grundlage für eine objektive Messung zu finden. Es ist ein System für eine kohärente, intern konsistente gesamtwirtschaftliche Buchführung.”

Uns interessiert vor allem die Frage nach den wirtschaftspolitischen Folgerungen. Die Antwort lautet: Aus dem Modell der Produktion folgt zunächst einmal nichts. “Sraffas Buch ist nach allem ein perfektes Beispiel dafür, was manche Ökonomen für falsch an den Wirtschaftswissenschaften halten: Kaum ein Satz in dem Buch befasst sich mit der realen Welt und es ist völlig offensichtlich, dass es Sraffa sehr darauf ankommt, praktische Relevanz gegen logische Strenge einzutauschen”, schrieb Mark Blaug.

Diese Aussage trifft zu, auch wenn Sraffa mit dem Untertitel “Eine Einleitung zu einer Kritik ökonomischer Theorie” den Anspruch seines Buches eingrenzt – und eine wohl geplante Fortführung später nie zustande gekommen ist.

Gleichwohl wurde Sraffas Buch von Wohlmeinenden als ein “epochales Werk” (Maurice Dobb) gefeiert, auch wenn man für die Art seiner Analyse Vorgänger aus der Mitte des 20. Jahrhunderts entdeckt hat. In den ersten 15 Jahren nach dem Erscheinen wurde das Buch nach Angaben Dostallers in 360 Publikationen zitiert.  Im Zeitalter von Google Scholar mag diese Zahl nicht beeindrucken. Aber für die damaligen Verhältnisse, als es noch kein Internet und viel weniger Ökonomen gab als heute, darf diese Resonanz für ein rein theoretisches Werk eines Außenseiters, der sich über Jahrzehnte von aktuellen ökonomischen Debatten weitgehend ferngehalten hatte, als sehr respektabel betrachtet werden.

Alleine rund ein Drittel der Referenzen befassen sich mit der Frage des Verhältnisses von Sraffa zu Marx. Dies nicht zuletzt, weil Sraffa im Unterschied zu Marx sein Produktionsmodell ohne die sehr umstrittene Arbeitswerttheorie formuliert hatte und sich die Frage stellte, ob Sraffa Marx damit obsolet gemacht hatte. In den sechziger und frühen siebziger Jahren war das auch im Westen in intellektuellen Kreisen durchaus ein Thema.

Auf die Frage, warum Sraffas Buch eine so große Aufmerksamkeit fand, nennt Schefold in einem kürzlich erschienenen  Aufsatz im Wesentlichen zwei Gründe: Sraffa gab die Möglichkeit, theoretische Grundlagen des Mainstreams frontal zu attackieren und er erlaubte eine Wiederkehr des Interesses an den Arbeiten der klassischen Ökonomen wie Adam Smith und David Ricardo.

Beides stimmt natürlich. Aber es existiert noch ein dritter handfester Grund: Sraffas Werk ließ sich für eine bestimmte, im damaligen politischen und gesellschaftlichen Umfeld sich ausbreitende politische Richtung instrumentalisieren. “Sozialistische Leser haben den Eindruck, dass Sraffas Buch ihre politischen Überzeugungen unterstützt”, konstatierte Joan Robinson.

Wirtschaftspolitisch interessant wird es mit der Frage, wie sich in Sraffas Wirtschaft die Produktion auf Arbeiter und Unternehmer aufteilt. Hier kommt der Clou aus Cambridge: Im eklatanten Unterschied zur Theorie des Mainstreams gelangt Sraffa zu dem Postulat einer von der Produktion völlig unabhängigen Verteilung! Zu jeder Produktion, die sich aus einer bestimmten Technik ergibt, lassen sich eine Vielzahl von Kombinationen denken, wie sich die Produktion auf die Arbeiter und die Kapitalisten verteilt. Man muss in diesem Modell einen der beiden Verteilungsparameter setzen; daraus bestimmt sich der andere Parameter automatisch.

Im Mainstream ergibt sich die Verteilung mit der Produktion durch Angebot und Nachfrage nach Gütern und Produktionsfaktoren (Kapital & Arbeit). In der Klassik und bei Sraffa wird die Verteilung außerhalb des Modells bestimmt: Die Klassiker wie Ricardo gingen davon aus, dass die Arbeiter eine Art Subsistenzlohn erhalten und der Rest fällt als sogenannter “Surplus” an die Kapitalisten. Sraffa übernahm dies nicht; in seinem Modell kann man wahlweise den Lohn oder die Profitrate vorgeben. 1)

Damit öffnet Sraffa neben der strengen Logik, mit der er aus der Zusammenführung von Produktionsfaktoren langfristige Preisverhältnisse ermitteln will, eine zweite Ebene, die er selbst aber nicht bearbeitet hat. “Dann diskutiert man auf einer anderen Ebene , wie sich die Mengen, die Beschäftigung und die Verteilung über die Zeit hinweg und unter dem Einfluss kontingenter historischer Faktoren verändern”, erläutert Schefold. “So entsteht der für die Vertreter anderer ökonomischer Schulen merkwürdige Kontrast zwischen dem Formalismus des neoricardianischen Preismodells und den ausgreifenden, meist verbal ausgedrückten ökonomischen Überlegungen zu Akkumulation, Verteilung und Beschäftigung.”

Diese Zweiteilung der Ebenen nimmt ein Verständnis auf, das zwischen dem späten 18. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Klassischen Epoche angetroffen werden konnte:  “Die Verteilung des Wohlstands… hängt von den Gesetzen und Gebräuchen einer Gesellschaft ab. Die Gesetze, die sie bestimmen, sind, was die Meinung und die Gefühle des herrschenden Teils einer Gemeinschaft daraus macht und sie sind sehr unterschiedlich in unterschiedlichen Zeitaltern und Ländern.” (John Stuart Mill).

Bei den “ausgreifenden, meist verbal ausgedrückten ökonomischen Überlegungen” handelte es sich in der Praxis neben ökonomischen Betrachtungen um auch aus der Geschichtswissenschaft, der Rechtswissenschaft, der Politologie und der Soziologie entnommene Versatzstücke, mit denen sich wortgewaltig, aber auch ohne die argumentative Strenge des ökonomischen Modells zum Beispiel über Verteilungsnormen diskutieren ließ. Ein kundiger, über die engen Fachgrenzen blickender Ökonom kann auf dieser zweiten Ebene interessante und lehrreiche Untersuchungen anstellen; erwähnt sei Schefolds Forschungsprogramm zum Vergleich von Wirtschaftsstilen (hier und hier).

Aber in den verrauchten Studentenkneipen der sechziger und siebziger Jahre, in den Büros von Gewerkschaftsfunktionären, in Parteizentralen  und auch auf Lehrstühlen besaß die zweite Ebene aus ganz anderen Gründen einen überwältigenden Charme: Wer sich auf der ersten Ebene mit Sraffas Preismodell intensiv befassen wollte, musste Matrizenrechnung meistern. Das war nicht jedem gegeben. Wer auf der zweiten Ebene den Arbeitern mit Verweis auf die seit dem 19. Jahrhundert beklagte Ausbeutung eine kräftige Lohnerhöhung bescheren wollte, brauchte nur die entsprechende Gesinnung und die Bereitschaft zur Umwälzung von “Gesetzen und Gebräuchen”. Man ahnt, wohin die Asymmetrie zwischen den beiden Ebenen in der Praxis führte. 

Eine Hoffnung der Neoricardianer war, durch das die zweite Ebene kennzeichnende “Paradigma ohne Merkmale” (Leijonhufvud) Anhänger anderer heterodoxer Schulen anzuziehen und für den Kampf gegen den Mainstream zu mobilisieren. Wer sich die aktuelle Lage anschaut, erkennt auch im Jahre 2020 Versuche heterodoxer Schulen, sich unter dem Dach eines wie auch immer definierten “Pluralismus” zu versammeln. Nach aller Erfahrung funktionieren solche Bündnisse, solange sie gegen einen gemeinsamen Feind antreten. Der Bau einer gemeinsam nach vorne weisenden Plattform erweist sich als schwieriger. 

In der Bewertung der wirtschaftspolitischen Bedeutung des Neoricardianismus interessiert uns seine theoretische Kritik am Mainstream wenig. Dies mag erstaunen, weil über dieses Thema im Laufe der Jahrzehnte sehr viel unschuldige Tinte vergossen worden ist. Es waren Neoricardianer, die zusammen mit radikalen Keynesianern aus Cambridge in den sechziger Jahren mit dem Mainstream die sogenannte Kapitalkontroverse ausfochten.

Darin gelang es den Kritikern, theoretische Defizite in einer älteren, gleichwohl immer noch populären Version der Kapital- und Verteilungstheorie des Mainstreams nachzuweisen. Damit sahen sie die These unterminiert, die Verteilung der Wirtschaftsleistung auf die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit müsse sich im Sinne ökonomischer Effizienz nach klar definierten Kriterien richten. Beseitigen wollten die Kritiker vor allem die Vorstellung, Lohnpolitik müsse sich an der Produktivität ausrichten, weil ansonsten Arbeitslosigkeit drohe. Das Kampfobjekt war nichts weniger als eine der wichtigsten Bastionen des ökonomischen Mainstreams.

Damals glaubten einige Kritiker allen Ernstes, sie hätten mit dem Gewinn einer rein theoretischen Debatte gleich dem ganzen Kapitalismus das Totenglöcklein geläutet. Ein Zeuge der Ereignisse war der spätere Nobelpreisträger Amartya Sen, der in Cambridge studierte. Sen wies eine Beteiligung an der Kontroverse mit dem Argument zurück, das Schicksal des Kapitalismus werde nicht davon abhängen, ob in einem theoretischen Modell Probleme entdeckt würden.

Diese Feststellung, zu der man nicht die Gabe eines Propheten, sondern eigentlich nur gesunden Menschenverstand benötigte, wurde von den wackeren Streitern gegen den Mainstream mit völligem Unverständnis aufgenommen. Natürlich kam es wie von Sen vorausgesagt: Die Kapitalkontroverse ist eine Episode in der Theoriegeschichte, aber der Kapitalismus lebt immer noch. 

“It takes a model to beat a model.” Dieser moderne Ökonomen so geläufige Satz erklärt, warum theoretische Kritik am Mainstream, wie begründet sie auch immer sein mag, uns hier nur wenig beschäftigt. Kritik an der herrschenden Lehre bleibt folgenlos, solange die Kritiker selbst über kein attraktives Modell verfügen, das auch in der Wirtschaftspolitik Anwendung finden kann. Wir wollen uns daher anschauen, was Sraffas Adepten  in der Praxis gemacht haben.

Nach unserer Kenntnis findet sich nur ein größeres Land, in dem Sraffas Gedanken vorübergehend Einfluss auf die Wirtschaftspolitik erhielten: Bella Italia.2)

Erster Akt: Rom, im Herbst 1969

Das Thema der 10. Tagung  der Vereinigung der italienischen Volkswirte lautete “Essenz und Grenzen des Marginalismus”. Das Thema versprach eine damals sehr verbreitete Kritik am ökonomischen Mainstream und dessen Überzeugung, die Lohnpolitik solle sich an der Produktivitätsentwicklung ausrichten. Mit Kritik alleine wollten sich jene Ökonomen, die sich damals als progressiv verstanden, allerdings nicht begnügen.

Ihre Absicht war, eine sehr viel aggressivere Lohnpolitik mit einem alternativen theoretischen Modell zu begründen. Hierzu eignete sich Sraffas Arbeit, denn in seinem Modell besitzt die Lohnpolitik bekanntlich einen Freiheitsgrad, den sie im Mainstream gar nicht haben kann. Die Befürworter einer aggressiven Lohnpolitik leiteten aus Sraffas Modell die Aufforderung zu einer Art organisiertem Klassenkampf her, in dem Gewerkschaften im Zweifel durch harte Konflikte mit den Arbeitgebern kräftige Lohnerhöhungen durchsetzen.

Sraffa schien das zu sein, was in zahlreichen Ländern eine politische Linke suchte, die sich zwischen einer moderaten Sozialdemokratie (die eine nach Ansicht von Kritikern weichgespülte Version von Keynes für sich beanspruchte) und harten, auf die Revolution hoffenden Marxisten verortete. Angesichts der politischen Präferenzen Sraffas war es unwahrscheinlich, dass er einer solchen Vereinnahmung widersprechen würde. Er tat es auch nicht. Der “gute Linke”, der mit Autorität für die benachteiligten Menschen eine politisch gefällige Weisheit verkündet, ohne die Revolution mit all ihren schwer kalkulierbaren Risiken zu verlangen, und der daher die Massen bewegen konnte – endlich schien er gefunden.

Ein Freiheitsgrad für eine expansive Politik war verheißungsvoll gerade in einer Zeit, in der viele Menschen in unterschiedlichen Lebensbereichen nach mehr Freiheit strebten – die Achtundsechziger-Revolution hatte auch in Italien ihre Spuren hinterlassen. Einengende Ketten zu sprengen, das ist vor allem in Zeiten, die vermeintlich nach grundlegendem Wandel und nach einem “neuen Denken” verlangen, ein verbreitetes Verlangen. Alte, durchaus auch erprobte Theorien, die dem Strengen der Ketten im Wege stehen, müssen widerlegt, und wenn das nicht funktioniert, diffamiert und weggeräumt werden.

Das ist heute wieder der Fall, wo an die Stelle der Ideen der Achtundsechziger die  Idee eines neuen Verständnisses von Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter eines Klimawandels tritt. Mit Blick auf die aktuelle Diskussion schreibt Stefan Kooths: “Unter linken Ökonomen ist es derzeit en vogue, die heutige Welt nahe am Ideal einer „neoliberalen Orthodoxie“ zu verorten und diese so für alles Ungemach verantwortlich zu machen. Dieses Zerrbild geht einher mit Rundumschlägen gegen alles Etablierte im ökonomischen Denken.”

Vermeintlich neue Ideen, die an die Stelle des Etablierten treten sollen und häufig kaum mehr sind als alter Wein in neuen Schläuchen, lassen sich schnell finden. Vor 50 Jahren waren dies unter anderem Ideen aus dem Werk Sraffas, heute sind es Konzepte wie die Modern Monetary Theory (MMT) oder der Gedanke, bei einem aktuell unter der Wachstumsrate der Wirtschaft liegenden Zinssatz sei Staatsverschuldung nahezu unbegrenzt und ohne jede Verteilungswirkung über die Generationen hinweg machbar. MMT lässt sich, nur wenig verkürzt, als eine Kombination von Abba Lerners Idee der “Functional Finance” mit Georg Friedrich Knapps Chartalismus begreifen.  Doch Vorsicht: Der schon erwähnte Mark Blaug verglich ökonomische Lehren, die der Politik keine Grenzen zu setzen scheinen, einmal mit “Tennis ohne Netz”.

So spielten Ökonomen vor einem halben Jahrhundert in Italien. Mit der wachsenden politischen Bedeutung der Linken und speziell der Kommunistischen Partei Italiens, die im Zuge des sogenannten “Eurokommunismus” nach Unabhängigkeit von Moskau und einer Regierungsbeteiligung in Rom auch mit bürgerlichen Parteien strebte, schien der Acker für “progressive” Ökonomen gut bestellt. Ezio Tarantelli, der später von den Roten Brigaden ermordet wurde, schrieb:

“Die am weitesten akzeptierte Theorie der Einkommensverteilung ist zumindest in Italien die von Sraffa entwickelte… Diese Theorie hat all jenen Ökonomen ein befreiendes Bad beschert, die, aus meiner Sicht zurecht, glauben, dass die Einkommensverteilung zwischen Löhnen und Profiten eine Frage der relativen Macht zwischen den beiden (oder mehreren) Klassen von Einkommen, und nicht eine Größe, die alleine auf der Basis von Technologie bestimmt werden kann.”

Unumstritten waren Sraffas Anhänger in der Linken nicht. Die traditionellen, häufig moskautreuen Marxisten schauten mit Abscheu auf die an einer linken Reformpolitik orientierten Neoricardianer, weil sie in ihnen Verräter an der revolutionären Idee sahen. So rügte der Ökonom Claudio Napoleoni, dass in Sraffas Produktionsmodell die historische Dimension eines für Krisen anfälligen Kapitalismus nicht berücksichtigt würde. Reformbereite Marxisten wiederum sahen in den Neoricardianern Konkurrenten um Macht und Einfluss. Und schließlich arbeiteten in Italien nicht wenige Keynesianer – einige vom moderaten sozialdemokratischen Typus, andere zu weitreichenden Eingriffen ins Wirtschaftsleben bereit.

Sraffa kannten damals nicht nur hoch motivierte Ökonomen, die das Herz auf dem linken Fleck trugen. “Sraffa wurde ein nationales Symbol, auf das sich radikale politische Ökonomen gerne beriefen”, schreiben Markus Brunnermeier, Harold James und Jean-Pierre Landau in ihrem Buch über den Euro. “Gewerkschaften schmückten ihre Streiktransparente mit seinen Porträts.” Der Linksruck erfasste sogar Teile der italienischen Wirtschaft. So veröffentlichten mehrere Großbanken Fachzeitschriften, in denen radikale Ökonomen publizieren konnten. Der in Cambridge zurückgezogen lebende Sraffa, der zu scheu war, um Vorlesungen zu halten, hatte es in der öffentlichen Wahrnehmung weit gebracht.

Weit brachten es auch die Gewerkschaften mit ihren Versuchen, das Land in den Klassenkampf zu führen. Die Zeit schien günstig, weil die Wirtschaft in Italien zwischen 1950 und 1969 kräftig gewachsen war. Der Süden litt zwar schon damals unter hartnäckigen strukturellen Problemen, aber der industrialisierte Norden mit seiner gut ausgebildeten Arbeiterschaft war durch zahlreiche wettbewerbsfähige Unternehmen geprägt. Der Wechselkurs zwischen der Lira und der D-Mark war in weitgehend stabil gewesen. Die in Deutschland verbreitete Erzählung, Italien funktioniere nur als Schwachwährungsland, war bis in die frühen siebziger Jahre hinein nachweislich falsch.

Dann geschah Folgendes:

                                                    Wachstumsraten (%)

                             Nominallöhne        Reallöhne         Arbeitsproduktivität

1968-1969                6,8                             4,8                             5,9

1970                        19,9                           15,0                             6,2

1971-1972              10,9                             5,6                             3,8

1973-1975              22,7                              7,1                            2,4

 

Die lange Zeit in der Tradition des Mainstreams stehende, sich nicht weit von der Produktivitätsentwicklung entfernende Lohnpolitik lief ab dem Jahre 1970 völlig aus dem Ruder. Die Arbeiter nahmen, wie man damals sagte, einen äußerst kräftigen “Schluck aus der Lohnpulle” – und das mit Billigung durch eine wissenschaftliche Autorität aus Cambridge! Auch wurden zahlreiche Regulierungen des Arbeitsmarkts beschlossen.

Gleichzeitig sorgte ein Einfluss fundamentalistischer Keynesianer  für eine durch Verschuldung finanzierte Ausdehnung der Staatstätigkeit, mit der die Investitionsausgaben unterstützt werden sollten. Und als in den frühen siebziger Jahren das Wechselkurssystem von Bretton Woods zusammenbrach und die Geldpolitik nicht mehr durch Rücksichtnahme auf den Wechselkurs gebunden war, besaßen alle drei Bereiche der makroökonomischen Politik – Geldpolitik, Finanzpolitik und Lohnpolitik – offenbar Freiheitsgrade. Nach den damaligen Überzeugungen musste dies auf das Wirtschaftswachstum positiv wirken.

Die  dem ökonomischen Mainstream weiterhin verbundenen Ökonomen wurden in den Hintergrund gedrängt, aber nicht alle gaben ihre Überzeugungen auf. Nicht nur in Italien sahen die nun dominierenden linken Ökonomen den Mainstream in einer schweren Krise und die marktwirtschaftliche Ordnung kurz vor dem Kollaps. Wie es so geht, führten sich die lange verlachten, aber nun schnell aufgestiegenen vermeintlichen Sieger gegenüber den vermeintlichen Verlierern intolerant und verletzend auf. Der in Amerika lehrende moderate Keynesianer Franco Modigliani (ein späterer Nobelpreisträger), dem die Lohnanstiege viel zu schnell gingen, wurde in seinem italienischen Heimatland als “wahrer Feind der Arbeiterklasse” bezeichnet; ein “moralischer Abgrund”  trenne Modigliani von den wahren linken Ökonomen, hieß es gar. Das war mehr als schäbig.

Zweiter Akt: Rom, im März 1976

Euphorie und Hochmut sind kurzlebige Phänomene. Schon zu Beginn des Jahres 1976 drohte die Wirtschaft in einer unheilvollen Spirale von hoher Inflation, einer Verschlechterung der Leistungsbilanz und einer Abwertung der Lira, die eine noch höhere Inflation begünstigte, zu versinken. Die Ölkrise des Jahres 1973 hatte die italienische Wirtschaft ebenso wie die Volkswirtschaften anderer Industrienationen getroffen. Aber kein großes Industrieland befand sich Mitte der siebziger Jahre in einer ähnlich schwierigen Situation wie Italien.

Die Verteuerung des Öls hatte zu einem Inflationsprozess lediglich beigetragen, der durch eine Kombination aus starken Lohnanstiegen und einer expansiven Geld- und Lohnpolitik wesentlich im eigenen Land in Gang gesetzt worden war. Das Wirtschaftswachstum war kollabiert; die Inflationsrate stieg zwischen 1970 und 1975 von 5 auf 17 Prozent und schickte sich an, weiter zu klettern. Anfang der achtziger Jahre lag sie gar bei über 20 Prozent. Um Reallohnverluste der Arbeiter zu verhindern wurde 1975 im Jahre im Zuge der  berühmt berüchtigten scala mobile die Nominallohnentwicklung an die Inflationsrate gekoppelt. Das förderte die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale.

Im März 1976 lud das Studienzentrum der im Aufwind befindlichen Kommunistischen Partei Italiens zu einer Konferenz ein, an der sich nicht nur den Kommunisten nahestehende Ökonomen beteiligten. Bemerkenswert an dieser Konferenz war vor allem eine Intervention des kommunistischen Parteiökonomen Eugenio Peggio, in der er, dem ebenfalls anwesenden moderaten Keynesianer Modigliani folgend, die von den Neoricardianern vertretene These des Freiheitsgrads in der Lohnpolitik mit Blick auf die internationalen Entwicklungen kritisierte: “Im Allgemeinen und auf mittlere Sicht muss man sich bewusst machen, dass sich die Dynamik der Lohnstückkosten nicht wesentlich von dem unterscheidet, was in Ländern geschieht, mit denen Italien im Wettbewerb steht. Diese Bedingung ist notwendig, um zu garantieren, dass Italien weiterhin eine offene Wirtschaft bleiben kann, ohne protektionistische Konzessionen machen zu müssen.”

Eine international eng verflochtene Volkswirtschaft muss in ihrer Binnenpolitik die Wirkung auf die Außenwirtschaftsbeziehungen im Blick behalten. Es schien, als hätten Sraffas Adepten diese Erkenntnis zumindest unterschätzt, obgleich sie im Schrifttum der klassischen Ökonomen ausgiebig erörtert wurde. Ein Versuch der umfangreichen Substitution von Importgütern – eine in Schwellenländern mit unterschiedlichem Erfolg erprobte Strategie – in Verbindung mit Protektionismus kam nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen nicht in Frage. Die seit dem Jahre 1972 unter Führung des charismatischen Generalsekretärs Enrico Berlinguer stehende Kommunistische Partei strebte im Rahmen eines sogenannten “historischen Kompromisses” eine Regierungsbeteiligung an und hatte mit Blick auf die Mitglied Italiens in der Nato und in der Europäischen Union kein Interesse, als unsicherer Kantonist zu erscheinen. Daher war sie an einem Bekenntnis zu Freihandel und Marktwirtschaft interessiert.

Ein im internationalen Wettbewerb stehendes Italien konnte aber nicht im Alleingang die Lohnkosten deutlich erhöhen, ohne Einbußen im Außenhandel zu erleiden. Die Verschlechterung der Leistungsbilanz wiederum führte zu einer Abwertung der Lira, die den Import von Waren verteuerte.  Die Freiheitsgrade nationaler Wirtschaftspolitik werden durch die Außenwirtschaft begrenzt. Piero Bini schrieb in einer Rückschau, die Konferenz sei aus der Sicht der linken Ökonomen, die eine am Klassenkonflikt ausgerichtete Lohnpolitik propagierten, ein Rückschlag gewesen. Doch es sollte für sie noch schlimmer kommen.

Dritter Akt: Pavia, im September 1978

Im Herbst 1976 hatten die Parlamentswahlen der Kommunistischen Partei starke Zugewinne auf 34,4 Prozent beschert. Die Partei tolerierte nun eine Minderheitsregierung der Christdemokraten und befand sich damit indirekt an den Hebeln der Macht. Diese Entwicklung mochten viele Neoricardianer als einen politischen Triumph betrachten. Doch gleichzeitig ließ ihr Einfluss nach. Denn nicht nur war die Kommunistische Partei nicht länger an einer Konfliktstrategie interessiert, auch die Gewerkschaften warfen mehrheitlich die Idee einer Politik, die illusionäre Freiheitsgrade für aggressive Lohnerhöhungen zu nutzen versucht, über Bord.

Luciano Lama, der Generalsekretär des Gewerkschaftsbunds, sagte: “Wir haben erkannt, dass ein Wirtschaftssystem keine unabhängigen Variablen aushält… Daher müssen wir intellektuell ehrlich sein: Das ist eine Dummheit gewesen, weil in einer offenen Volkswirtschaft alle Variablen voneinander abhängen.”

Klarer hätte man die empirische Untauglichkeit der Strategie Sraffas nicht beschreiben können, die Grundlagen von Produktion und Verteilung nicht, wie in der von den Anhängern Sraffas unerbittlich bekämpften Mainstream-Theorie üblich, simultan, sondern sequentiell und voneinander unabhängig zu bestimmen.

Der radikale Flügel war aber nicht nur in den Gewerkschaften, sondern auch unter den Ökonomen noch nicht bereit, die weiße Flagge zu hissen. Und so kam es auf einer Konferenz im Herbst 1978 in Pavia zu schweren Auseinandersetzungen. Bini berichtet von einer Debatte mit dem “Charakter einer ideologischen Konfrontation in allen Feldern, die um die Frage nach der Legitimation von Unternehmensgewinnen und einem marktwirtschaftlichen Kapitalismus” kreiste. Auch das kennzeichnet ein bekanntes Phänomen: Ökonomen, denen in Sachfragen die Argumente ausgehen, flüchten gerne in auf  Metaebenen angesiedelte Diskussionen.

Oder man sucht die Schuldigen für das eigene Versagen woanders. In der italienischen Debatte waren (und sind es zum Teil noch) im wesentlichen drei Ausweichstrategien zu beobachten:

  • Die Anhänger einer Politik stark steigender öffentlicher Investitionen klagten über die Ineffizienz der öffentlichen Verwaltung, die eine Implementierung erschwerte. Dahinter verbirgt sich ein grundsätzlicheres Problem jeder Befürwortung umfangreicher öffentlicher Investitionsprogramme nicht nur in Italien: Von der Definition geeigneter Projekte über den Beschluss und die Planung bis zur Umsetzung ist es ein weiter Weg mit vielen Stolpersteinen. Aktuell steht die Naivität mancher Befürworter umfangreicher Investitionen in den Bereichen Klima, Umwelt und Bildung in einer unseligen historischen Tradition.
  • Das Ausland ist schuld. Diese Behauptung funktioniert in vielen Politikbereichen. Mit Blick auf Italien lautet die Legende, eine sehr sinnvolle Politik in den siebziger Jahren sei von der Ölkrise und der daraus folgenden Inflation und Rezession umgebracht worden. Das ist Unfug. Ja, die Ölkrise traf auch Italien, aber sie traf nicht nur Italien und anderswo, zum Beispiel in Deutschland, blieb die Inflation deutlich niedriger.
  • Die Politik in den frühen Siebzigern war richtig, aber sie wurde durch eine anschließende Austeritätspolitik verraten. Auch dieses Motiv findet sich immer wieder, aber auch hier sollte man nicht alles glauben, was erzählt wird. Die Austeritätspolitik, wenn es denn eine gab, war eine notwendige Reaktion auf die vorangegangene Politik der Entgrenzung.

Vierter Akt: Italien, in den frühen achtziger Jahren

Von den erlittenen Schlägen erholten sich die in der öffentlichen Diskussion stehenden Adepten Sraffas nicht mehr. Absetzbewegungen wurden erkennbar, die anhand eines sehr engagierten frühen Kämpfers kurz geschildert werden sollen. Luigi Spaventa hatte schon Mitte der siebziger Jahre Zweifel an der Tauglichkeit der Analysen Sraffas für die wirtschaftspolitische Beratung erkennen lassen. Eine Theorie, die sich vor allem für die Entwicklung langfristiger relativer Preise interessiere und den Rest als eine Art Epiphänomen betrachte, um den man sich nicht kümmern müsse, könne kein geeigneter Bezugspunkt sein: “Ich denke jetzt, dass dies eine sehr gefährliche Sicht ist, weil sie die Wirtschaftslehre auf einen sehr kleinen Sektor beschränkt.”

Das war eine harte Kritik an der Idee der zweiten Ebene. Hier lässt sich ein grundsätzliches, weit über die damalige Zeit hinausreichendes Problem erkennen: Dem Mainstream wird oft vorgeworfen, er wolle mit seinen hochgezüchteten, mathematisch formulierten Modellen mehr erklären, als sich in einem solchen Modell sinnvollerweise erklären lasse. Dieser Vorwurf ist nicht immer falsch.

Aber viele heterodoxe Schulen fallen ins entgegengesetzte Extrem und wollen zu viele ökonomische Zusammenhänge außerhalb streng formulierter ökonomischer Modelle erklären. Die Gefahr eines Schiffbruchs ist groß, vor allem, wenn die Deutungshoheit über die “weit ausgreifenden, verbal formulierten Überlegungen” in gesellschaftlichen Konfliktphasen von radikalen Politikern oder Interessenvertretern übernommen wird.

Spaventa hatte auch genug von einer Strategie der totalen Konfrontation ökonomischer Lehren. Mit einer auf der Basis von Sraffas Arbeiten verbundenen grundlegenden Zurückweisung der Mainstream-Theorie würden zahlreiche für ökonomische Analysen “nützliche und vitale” Elemente “mit dem Badewasser weggespült”, beklagte er. Die italienischen Ökonomen jener Zeit hätten sich mit ihrer Fixierung auf Sraffa von der internationalen Entwicklung abgekapselt und eine “verlorene Generation” ausgebildet. Das war starker Tobak.

Eugen von Böhm-Bawerks vor dem Ersten Weltkrieg formuliertes “ökonomisches Gesetz” besagt: Wenn sich “soziale Macht” gegen den Markt stellt, verliert sie immer. Ist es eine bloße Ironie der Geschichte oder nicht eher Ausdruck dieses Gesetzes, dass Sraffa und seine Nachfolger unerbittlich gegen die im Mainstream verankerte Grenzproduktivitätstheorie der Verteilung anrannten, die Löhne an ökonomische Kriterien bindet – aber eine im Geiste Sraffas von ökonomischen Größen losgelöste Lohnpolitik innerhalb weniger Jahre genau aus jenen Gründen scheiterte, die mithilfe der verhassten Grenzproduktivitätstheorie erklärt werden können?

Sraffa bekam den Niedergang nicht mehr mit. Der Mann, den Schefold als “einen sehr freundlichen und durchaus sehr leutseligen älteren Herrn, der in einem der vornehmsten Cambridger Colleges ein einfaches und zurückgezogenes Leben führte”, schildert, litt in seinen späten Jahren unter einem fortschreitenden Verlust seines Gedächtnisses und weiterer schwerer Erkrankungen, die eine Beteiligung an ökonomische Debatten ausschlossen. Im Jahre 1983 starb er in Cambridge.

Sein Nachlass, den er dem Trinity College vermachte, enthielt zur großen Überraschung neben einer 8000 Bände umfassenden Bibliothek rund 30.000 Seiten überwiegend in einer sehr sauberen und schönen Handschrift verfasste unveröffentlichte Manuskripte, Skizzen und Briefe. Der Ökonom, der kaum etwas veröffentlicht hatte und daher als schreibfaul galt, war tatsächlich ein ganz ungewöhnlich fleißiger Schreiber gewesen – wenn auch im Verborgenen.

Fünfter Akt:  Britannien, zurück in die Vergangenheit

Nachdem mit Sraffa in der Wirtschaftspolitik keine Lorbeeren zu ernten waren, begnügten sich seine Anhänger nicht mit ihrem Kampf gegen die Mainstream-Theorie. Einige warfen sich auf die Erforschung der Theoriegeschichte, mit der sich schon Sraffa intensiv auseinandergesetzt hatte. Auf diesem Gebiet haben sie unbestreitbar tiefe Spuren hinterlassen: Zur Wiederentdeckung der Theoriegeschichte etwa seit dem Jahre 1980, die sich unter anderem in der Gründung nationaler und internationaler Interessenvereinigungen sowie in der Edition neuer Fachzeitschriften manifestierte, haben sie engagiert beigetragen. 3)

Die Tätigkeit der Neoricardianer galt besonders der Erforschung der britischen Ökonomen aus der Klassischen Epoche, die sich mit Namen wie Adam Smith, David Ricardo und John Stuart Mill verbindet. Hier hatte Sraffa mit seiner Ricardo-Edition eine herausragende Vorarbeit geleistet. Die intensive Arbeit der Neoricardianer verdient zweifellos Anerkennung. Aber diese Arbeit diente auch der Förderung eines ureigenen Anliegens, das durchaus eine kritische Betrachtung gestattet.

Die britischen Klassiker haben ein weitreichendes Erbe hinterlassen, weil sie  – die einen mehr, die anderen weniger – ihre ökonomischen Gedanken in sozialwissenschaftliche, moralphilosophische und historische Überlegungen eingebettet haben. Daher existieren mehrere, sich nicht zwingend ausschließende Wege, sich den Klassikern zu nähern. 4) Die Neoricardianer wählten als Schwerpunkt in der Tradition Sraffas die Entwicklung einer Wert- und Verteilungstheorie im Rahmen einer Klassengesellschaft, die sie als “Grundlage all der anderen ökonomischen Analyse der klassischen Autoren…” begriffen. (Heinz D. Kurz und Neri Salvadori).

Damit konnten sie sich durchaus auf die Einleitung in Ricardos Hauptwerk beziehen. Vor allem aber eröffnete es ihnen die Möglichkeit, Sraffa als (einzig) legitimen Erben der Klassik herauszustellen und die in alten Lehrbüchern noch herausgearbeiteten Verbindungslinien der Klassik mit dem verachteten Mainstream (der ja häufig mit der Bezeichnung “Neoklassik” verbunden wird) vehement zu bestreiten. Die von den Neoricardianern postulierte Wiederentdeckung der Klassik war mindestens im gleichen Maße der Versuch einer Aneignung der Klassik. 

Die theoriegeschichtliche Erhöhung zum legitimen Erben der Klassik hatte schon Sraffa selbst betrieben, indem er in seiner  Einführung zur Ricardo-Gesamtausgabe seinem Helden ein theoretisches Modell (das berühmte Kornmodell) unterschob, das sich in Ricardos Schriften explizit gar nicht findet, das aber wie ein natürlicher Vorgänger eines später von Sraffa entwickelten Modells erscheint. 5)

Dieses Vorgehen, das man ebenso als ingeniös wie als unverfroren bezeichnen kann, aber auch eine pointierte Komprimierung der Arbeiten der Klassiker auf die Wert- und Verteilungstheorie ist von Ökonomen, die nicht dem Zauber Sraffas erlegenen waren, deutlich kritisiert worden. So schrieb – hier zitiert – der Nobelpreisträger Sir John Hicks unverblümt: “Sraffa… hat ein Stück aus Ricardos Hemd herausgebissen, an einen Flaggenmast gehängt und behauptet, das sei alles gewesen, was Ricardo getragen hatte.” 

Was bedeutet dies für die Wirtschaftspolitik? Wie immer man aus einer theoretischen Sicht zur neoricardianischen Forschungsstrategie in der Dogmengeschichte stehen mag: Die wirtschaftspolitischen Rezepte aus dem Italien der frühen 1970er Jahre lassen sich aus dem Werk Ricardos jedenfalls nicht ableiten. Vielmehr ist eher das Gegenteil der Fall:

  • Ricardo besaß große Sympathie für die Arbeiter und er wünschte sich eine Verbesserung ihrer Lage. Da für ihn Investitionen der Unternehmen aber wesentlich für das Wirtschaftswachstum und den technischen Fortschritt waren, hätte er eine Politik, die Löhne sehr deutlich auf Kosten der Unternehmensgewinne erhöht, nicht unterstützt. Ricardo trat stattdessen für eine Förderung der Ersparnisbildung von Arbeitern durch die Gründung lokaler Banken ein. 
  • Eine expansive Finanzpolitik war mit Ricardo nicht zu machen; im Gegenteil hielt er kaum etwas für so verheerend wie Staatsverschuldung, für ihn war sie ein “sehr großes Übel”. Das mag moderne Ökonomen auf den ersten Blick erstaunen, weil sie unter der Bezeichnung “Ricardian Equivalence” das Gegenteil zu kennen meinen. Das stimmt aber nicht: Ricardo hatte die theoretische Möglichkeit einer Äquivalenz der Finanzierung von Staatsausgaben durch Steuern oder Schulden erkannt, aber auch gleich geschrieben, dass die dafür notwendigen Voraussetzungen in der Praxis nicht gegeben seien. Ricardo war ein Anhänger eines fiskalischen Minimalstaates, weil er auch jede Form der Besteuerung für schädlich hielt und daher nur einen Staat finanzieren wollte, der sich extrem beschränkte: “Die Politische Ökonomie ist, wenn man ihre Grundlagen einmal verstanden hat, nur nützlich, wenn sie die Regierungen zur richtigen Politik der Besteuerung anhält.” Die Besteuerung des Kapitals von Unternehmern hielt er für schlecht, weil sie über eine Beeinträchtigung der Investitionen und damit auch der Nachfrage nach Arbeit zu Lasten der Interessen der Arbeiter gingen: “In dem Maße, wie sich das Kapital eines Landes vermindert, wird auch seine Produktion notwendigerweise zurückgehen, und falls daher weiterhin die gleichen Ausgaben durch das Volk und die Regierung bei sich ständig verringernder jährlicher Produktion gemacht werden, werden die Ressourcen von Volk und Staat mit wachsender Schnelligkeit schwinden und Not und Elend folgen.” Das ist nicht gerade eine typische Position linker Ökonomen oder Politiker.
  • Auch für lockere Geldpolitik war er nicht zu haben. Im Gegenteil war es eine hohe Zunahme des Bargeldumlaufs in Großbritannien während der Napoleonischen Kriege, die Ricardo erstmals dazu bewegte, sich öffentlich zu ökonomischen Fragen zu äußern.

Ricardianische Wirtschaftspolitik des frühen 19. Jahrhunderts und neoricardianische Wirtschaftspolitik des mittleren bis späten 20. Jahrhunderts scheinen gar nicht zu harmonieren. Man könnte auch sagen: Das kommt dabei heraus, wenn das liberale Erbe der Klassiker unter den Teppich gekehrt wird. 

Epilog

Jenseits der Theoriegeschichte trat der in den siebziger und achtziger Jahren noch beobachtbare Austausch der Neoricardianer mit Vertretern anderer Denkschulen allmählich in den Hintergrund. Der anfängliche Hype um Sraffas Buch war nicht dauerhaft. Dagegen ließ sich zunehmend eine Beschäftigung mit sich selbst beobachten, in der es vor allem nach der Öffnung der Archive Sraffas zu gelegentlich hart ausgetragenen Binnenkämpfen um die richtige Auslegung der Werke des Meisters ging. Und nicht zufällig drehten sich diese Auseinandersetzungen unter anderem um die Frage, inwieweit Sraffa in seiner Arbeit von Marx beeinflusst war.

In den achtziger Jahren prüften die Anhänger Sraffas zudem eine Annäherung an eine Art “Freundfeind”. In Cambridge hatten parallel zu Sraffa Keynes-Schüler wie Joan Robinson versucht, eine eigene gegen den Mainstream gerichtete Lehre zu etablieren, die unter der Bezeichnung Postkeynesianismus ganz andere Modelle als Sraffa verwendete, in ihrer Kapitalismuskritik und ihren wirtschaftspolitischen Empfehlungen aber nicht weit von den Rezepten der Neoricardianer entfernt war. 6)

Ideologisch sprachen beide Lager dieselbe Sprache. Zudem hatte man gemeinsam in der Kapitalkontroverse gegen den neoklassischen Mainstream gefochten. Zwischen 1980 und 1990 fanden in der nordostitalienischen Staat Triest Konferenzen statt, auf denen sich Postkeynesianer und Neoricardianer auf zum Teil äußerst lebhafte Weise austauschten, aber in theoretischer Hinsicht nicht zusammenfanden.

Für einen Keynesianer wie Hyman Minsky war Sraffas Werk für die Analyse moderner Volkswirtschaft und  für die Gestaltung von Wirtschaftspolitik schlichtweg irrelevant: “Moderne kapitalistische Volkswirtschaften sind intensiv finanziell… Auf dem ausgedörrten Niveau von Sraffa hatte die keynesianische Sicht, dass die effektive Nachfrage finanzielle und monetäre Variablen widerspiegelt, keine Bedeutung, weil es bei Sraffa kein monetäres oder finanzielles System gibt.” Für das sogenannte “Triest-Problem” (der Begriff ist in der Politik historisch vorbelastet) fand sich keine Lösung. 7)

Der Versuch der Annäherung in Triest könnte auch der Erkenntnis einer nicht allzu dynamischen Weiterentwicklung der neoricardianischen Lehre geschuldet gewesen sein, obwohl daran gearbeitet wurde: Schefold beispielsweise auf dem Gebiet der Kuppelproduktion, Pasinetti auf dem Gebiet der Wachstumstheorie.

Es wurden auch Versuche vorgelegt, einen monetären Sektor an das Grundmodell anzuflanschen. Eine spezielle Form einer Kombination mit Nachfragepolitik ließ einen “Sraffa-Supermultiplikator” (SSM) entstehen. Weitere Beiträge ließen sich anführen. 

Natürlich haben sich neoricardianische Autoren auch mit dem Desaster der siebziger Jahre befasst. Heute existieren Modelle, in denen sehr hohe Lohnsteigerungen Arbeitslosigkeit zur Folge haben, auch wenn man andere Begründungen als der Mainstream dafür anführt. Der Bahnbrecher im linken Lager war der wohl eher dem Marxismus nahestehende Ökonom Stephen Marglin, der in einem im Jahre 1984 erschienenen, häufig diskutierten Aufsatz schrieb: “Ich würde meinen, dass ein linkes Programm die Logik der ökonomischen Situation respektieren muss. Die Produktivität setzt nicht nur physische Grenzen für die Löhne. Solange die Produktivität die Triebfeder der Investitionen bleibt, bestehen ökonomische Grenzen, die den Anteil der Löhne beschränken. Im Kapitalismus sind die Profite tatsächlich die Gans, die die goldenen Eier legt… Ein linkes Programm muss daher Begrenzungen der realen Löhne akzeptieren.”

Aus einem solchen Beitrag wird erkennbar, dass die alte Fundamentalopposition gegenüber dem Mainstream und die alte Vorstellung einer Wirtschaftspolitik mit erheblichen Freiheitsgraden nicht durchzuhalten ist.

Insofern ist durchaus etwas geschehen. Aber mit der ihm eigenen Kombination aus verbaler Eleganz und höflicher Zurückhaltung deutet Schefold das gleichwohl existierende Problem mit dem Satz an: “Es ist ein merkwürdiges Phänomen, in welchem Grade Sraffas Werk und Person im Mittelpunkt der Diskussionen der neoricardianischen Schule geblieben sind, obwohl eine Schulbildung sehr rasch nach der Veröffentlichung von ‘Warenproduktion mittels Waren’ einsetzte und Sraffa sowohl im formalen wie im übertragenen Sinn Schüler besaß, die ihrerseits über eine gewisse Ausstrahlung verfügten…”

In Anbetracht der offensichtlichen Schwierigkeiten hat Schefold angeregt, noch einmal über eine Lösung des “Triest-Problems” nachzudenken, um die schwindenden Kräfte der Neoricardianer und der Postkeynesianer zu bündeln. 

Am Ende des Tages haben sich die Neoricardianer wirtschaftspolitisch früh selbst aus dem Spiel genommen und sich zudem in ihren fraglos auch um Aufmerksamkeit in der breiten Fachwelt heischenden Auseinandersetzungen mit dem Mainstream verkämpft. Ausgabenkürzungen im  Hochschulwesen haben die Berufung von Schülern der heute meist im Ruhestand befindlichen ersten Generation auf Lehrstühle sicherlich erschwert, aber der Verweis auf Geldmangel und eine zunehmende Monopolisierung der Lehrstühle durch den Mainstream gäbe nicht die ganze Wahrheit wieder.

Im Jahre 2013 schrieb Pier Luigi Porta sichtlich genervt: “Heute wird Piero Sraffa – überwiegend, wenn nicht ausschließlich – von einer begrenzten Gruppe seiner selbsternannten Akolythen diskutiert.” Die meisten dieser “Akolythen” hätten dazu beigetragen, Sraffa “veraltet und unverständlich” aussehen zu lassen. Unglücklicherweise sei ein großer Teil der Literatur nur für den “inneren Zirkel” geschrieben. “Wäre Sraffa heute noch am Leben, würde er womöglich sagen; ‘Ich bin kein Sraffianer'”, meinte Porta.

Immerhin kann sich heutzutage jeder Interessierte ein Bild vom  Werk des Meisters machen, denn seit wenigen Jahren ist der schriftliche Nachlass Sraffas über eine vom Trinity College in Cambridge betriebene Internetseite öffentlich zugänglich. Dieser sehr lobenswerten Initiative gingen höchst wunderliche Vorgänge voraus, die an die Verteidigung der Bibliothek gegen ungebührlich Wissbegierige in Umberto Ecos berühmtem Mittelalter-Roman “Der Name der Rose” erinnerten – mit dem glücklichen Unterschied allerdings, dass die Verteidiger der Schriften Sraffas die ungebührlich Wissbegierigen nicht wie bei Eco ermordeten, sondern nur behinderten und bei Anzeichen von Unbotmäßigkeit in der Interpretation der Quellenlage gelegentlich auch verbal hart angingen.

Sraffa hatte als literarischen Testamentsvollstrecker Pierangelo Garegnani eingesetzt, der nach dem Tode Sraffas das unerwartet umfangreiche und weitgehend ungeordnete Material in eine Bibliothek bringen ließ. Garegnani sorgte dann allerdings dafür, interessierten Forschern den Zugang zu dem Material auf zunächst unabsehbare Zeit zu verschließen.

Auf Proteste gab Garegnani nach Angaben Portas zu verstehen, er sei nach einer Übereinkunft mit Sraffa für die Interpretation von dessen Werken zuständig. Das erweckte den naheliegenden Eindruck, eventuelle Zweifler und Ungläubige sollten vom Quellenstudium abgehalten werden, um die allzuständige Interpretation Sraffas durch Garegnani nicht in Zweifel ziehen zu können.

Allerdings kam Garegnani mit seinem Werk nicht recht voran. Schefold schreibt: Garegnani habe die Absicht besessen, Materialien für einen Ergänzungsband zu “Warenproduktion mittels Waren” zusammenzustellen, aber mit “wissenschaftlichen Problemen verquickte Auswahlprobleme und Garegnanis Eifer, die Theorie selbst weiter zu treiben, vereitelten dies.” Eine schriftliche Dokumentation der von Garegnani erwähnten Vereinbarung mit Sraffa scheint nicht zu existieren; Porta zitiert im Gegenteil Passagen Sraffas, die gegen die Existenz einer solchen Vereinbarung sprechen.

Nach zehn Jahren hob das Trinity College als Eigentümerin des Nachlasses gegen erbitterte Proteste Garegnanis die Verriegelung auf, wonach Forscher Zugang zu dem Material erhielten, auch wenn manche Beschränkungen in der Nutzung des Materials noch erhalten blieben. Eine in Aussicht gestellte, von Heinz D. Kurz verantwortete Werkausgabe, ist bis heute nicht erschienen. Mit der erfreulichen Öffnung des Archivs für Internetnutzer, die auf Betreiben des aktuellen Nachlassverwalters, Lord Eatwell, zustande kam, hat Sraffa aber nun auf andere Weise eine Öffentlichkeit erhalten, die er sich zu seinen Zeiten nicht hätte vorstellen können.

Vielleicht entsteht daraus eine ausführliche Biographie dieses diskreten Denkers, der in seiner Jugend mit dem italienischen Schriftsteller und KP-Generalsekretär Antonio Gramsci befreundet war und sich in Cambridge später jahrelang regelmäßig mit dem in Österreich geborenen Philosophen Ludwig Wittgenstein austauschte. Von den beiden am Markt befindlichen Büchern über Sraffa konnte der Verfasser Jean-Pierre Potier das Archiv noch nicht nutzen, während es Alessandro Roncaglia angeblich nicht nutzen wollte.

Am Ende dieser langen Schilderung sei mit Blick auf die aktuellen Debatten daran erinnert: Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie droht sich zumindest zu reimen, wenn moderne, offensichtlich geschichtsblinde Ökonomen beginnen, wieder überaus großzügigen Freiheitsgraden in der Wirtschaftspolitik das Wort zu reden.

Heute ist es nicht die Lohnpolitik, wohl aber die Geldpolitik und die Finanzpolitik, in der (fast) alles möglich scheint. Niemand sollte annehmen, die heutigen Befürworter einer schrankenlosen Politik wären notwendigerweise klüger oder theoretisch sattelfester als Piero Sraffa, der, wie immer man seine Lehren heute beurteilt, fraglos ein sehr kluger und belesener Mann war. Während man seinen vor 50 Jahren aktiven Schülern nachrufen darf, dass sie es sehr wohl besser hätten wissen können, aber vielleicht nicht besser hätten wissen müssen, gäbe es mit Blick auf die heute aktive Generation für schwere ökonomische Irrleitung im Wiederholungsfall keinen Anspruch auf Nachsicht mehr. 

Wäre die Volkswirtschaftslehre eine Spielwiese in einem Labor, müsste sich kein Außenstehender Gedanken über die Abschreibung intellektuellen Kapitals machen, die historisch ahnungslosen Ökonomen mit Bekenntnissen zu fragwürdig fundierten wirtschaftspolitischen Thesen droht, sobald das Scheitern ihrer Konzeptionen offensichtlich geworden ist. Die Kosten dieses individuellen Versagens wären für die Allgemeinheit unerheblich.

Doch die Volkswirtschaftslehre findet nicht nur in einem Labor Anwendung und sie ist, anders als Sraffa meinte, keine Wissenschaft von Dingen, sondern eine Wissenschaft von und für Menschen.  Die Kosten irregeleiteter Wirtschaftspolitik tragen, wenn es schlecht geht, viele Millionen Menschen. Derweil bleiben die akademischen Stichwortgeber des Desasters mit voller Pensionsberechtigung auf ihren staatlich finanzierten Lehrstühlen sitzen, wo sie ihre Zeit mit ebenso wortreichen wie folgenlosen Erklärungen verbringen können, warum sie eigentlich doch recht hatten, obgleich sie offenkundig unrecht hatten. Bis repetita noch placent.

  1. Ausgehend von einem Hinweis in Sraffas Buch wird in neoricardianischen Modellen häufig eine durch den Zentralbankzins beeinflusste Profitrate vorgegeben, aus der dann der Lohn folgt. Das ist aber nicht zwingend und in der Politik ging man anders vor.
  2. Die Schilderung der Ereignisse in Akt 1 bis 3 orientiert sich stark an einer Arbeit von Piero Bini. Für die Rolle der Kommunistischen Partei siehe Neubert.
  3. Schefold und Kurz haben dazu ausgiebig publiziert. Eine Auswahl von Beiträgen Schefolds, die weit über die Klassik hinausgehen, ist hier. Kurz hat unter anderem eine sehr interessante Aufsatzsammlung überwiegend zur Klassik veröffentlicht; sehr empfehlenswert sind auch von ihm herausgegebene Bücher über Ricardo (hier und hier).
  4. Heinz Rieter hat in einem Beitrag für die Neuauflage eines von Joachim Starbatty über die Klassik verfassten Buches sieben, sich nicht allesamt gegenseitig ausschließende Zugänge beschrieben.
  5. Möglicherweise gibt das Kornmodell Ricardos Denken zumindest zum Zeitpunkt des 1815 veröffentlichten “Essay on Profits”  korrekt wieder und vielleicht hat Sraffa recht, wenn er schreibt, dass sich das Modell in nicht überlieferten Briefen und Manuskripten finden könnte. Auch haben Schüler Ricardos das Kornmodell verwendet. Aber wer auf Korrektheit des Umgangs mit Quellen als Wissenschaftsprinzip beharrt, muss klar festhalten: In den vorliegenden Schriften Ricardos findet sich das Kornmodell nicht! 
  6. So wie Sraffa-Verehrer dazu beigetragen hatten, eine verheerende Wirtschaftspolitik in Italien zu installieren, hatten Robinson & Co., dazu beigetragen, in den sechziger und siebziger Jahren eine verheerende Wirtschaftspolitik in Großbritannien zu installieren. Kein anderes größeres Industrieland kam so schlecht durch diese Jahre wie Großbritannien und Italien. Dieser Artikel hätte daher auch anhand des Beispiels von Robinson/Kaldor/Kahn in Großbritannien 8) anstelle von Sraffa & Schülern in Italien geschrieben werden können. Das macht die Warnung vor einer neuerlichen Entgrenzung von Wirtschaftspolitik in unserer Zeit umso dringlicher.
  7. Woran es hapert, hat Jens Reich gut zusammengefasst.
  8. Auch anhand des britischen Beispiels lässt sich gut beschreiben, wie weit die wirtschaftspolitischen Konzepte zwischen klassischen Ökonomen und Cambridge auseinandergingen.