Deus ex Machina

Deus ex Machina

Über Gott und die WWWelt

Quantifizier Dich, Du Sau!

Einfach nur rumradeln, ohne permanenten Datenverkehr? Wie gestrig! Nur eingeklinkt ins Internet geht’s richtig app – so versprechen es jedenfalls die Visionäre des smarten Pedalierens.

Wir hatten hier schon über smarte Fernseher, smarte Stromzähler und sogar über smarte Mülleimer berichtet. Zuletzt schrieb Niels Fallenbeck ein Loblied auf die Segnungen der permanenten Selbstvermessung per Smartphone-App und Fitnessarmband. Kurzum: Auch das Fahrradfahren wird jetzt zusehends smartifiziert. Nachdem der geschätzte Co-Autor von all den Möglichkeiten und Sicherheitszugewinnen des vernetzten Fahrradfahrens so geschwärmt hat, reitet es mich aber, den Advokaten des Teufels zu geben und die vermeintlichen Segnungen mal etwas realistischer zu evaluieren.

© FAZ 

Nehmen wir zum Beispiel diesen Fahrradentwurf namens Vanhawks Valour, den der Kollege hier bereits vorgestellt hat. Dieses smarte Rad soll, glaubt man seinen Erfindern, mit allerlei neuartigen Features die Fahrsicherheit auf ein nie gekanntes Niveau hieven. Aber jetzt mal ernsthaft, glaubt irgendjemand, der auch nur halbwegs bei Trost ist, ein Fahrzeug-im-toten-Winkel-Warner und ein auf Vernetzung mit anderen Radlern basierendes Schlagloch-Warnsystem brächten unterm Strich einen Zugewinn an Sicherheit, wenn man gleichzeitig aus Hipness-Gründen die Handbremsen einspart? Soll sich dieser Hobel dann vielleicht Bremskraft aus der Cloud herunterladen, wenn ein unerwartetes Hindernis auftaucht, dem nicht ausgewichen werden kann? Oder geht der Erfinder davon aus, dass das smarte Rad irgendwann so intelligent und vorausschauend fährt, dass Bremsen gar nicht mehr nötig sein wird? Davon abgesehen würde eine effektive Schlaglochwarnung eine GPS-Genauigkeit voraussetzen, die zivilen Nutzern normalerweise gar nicht zur Verfügung steht. Ich halte es im Sinne der Schlaglochvermeidung (und der sonstigen Sicherheit) also bis auf weiteres für zielführender, aufmerksam auf die Straße zu gucken, anstatt während der Fahrt aufs Smartphone-Display zu starren. Ansonsten hat der bloggende Zweirad-Zyniker bikesnobNYC zu dieser überelektronifizierten Karbonmöhre schon alles gesagt, was zu sagen ist: „Wenn ich ein Fahrrad-Einsteiger wäre und dieses Ding das einzig verfügbare Rad, dann würde ich sagen, sch**ß drauf, ich lease einen Hyundai.“

Zum Thema Sicherheit noch ein grundsätzlicher Gedanke: Die Erfahrung lehrt, dass sicherheitstechnische Fortschritte in Fahrzeugen von den Fahrern mittels der Fahrweise oftmals so kompensiert werden, dass unterm Strich das eingegangene Risiko relativ konstant bleibt. Der Fachbegriff dafür heißt Risiko-Homöostase. Wenn ich also am Rennrad statt der schwachbrüstigen Einhebel-Zangenbremsen von vor 30 Jahren modernere Zweihebel-Bremsen (oder meinetwegen auch Scheibenbremsen) dran habe, dann fahre ich einen Pass halt auch etwas schneller runter, weil ich darauf vertraue, dass die größere Bremskraft mich vor den Kurven ausreichend verlangsamt. Was jetzt nicht heißen soll, dass jegliche Weiterentwicklung sicherheitsrelevanter Komponenten per se sinnlos wäre. Mir geht es mit diesem kleinen Exkurs ins Grundsätzliche nur darum, aus allzu vollmundigen Werbeversprechungen, dieses oder jenes Feature werde einen nie gekannten Durchbruch in der Fahrsicherheit bringen, die heiße Luft herauszulassen.

© FAZ 

Und damit komme ich ohne Überleitung zu den eigentlichen Grundlagen des smarten Pedalierens, der permanenten Datenproduktion. Ein simples Gerätchen, das gefahrene Kilometer, aktuelle und durchschnittliche Geschwindigkeit erfasst und anzeigt, ist gewissermaßen nur die Einstiegsdroge für den Zahlen- und Messwertjunkie auf dem Sattel. Man kann da noch viel mehr machen, etwa permanent den Puls messen, um lehrbuchmäßig und hocheffizient mit verschiedenen Belastungsmustern Grundlagenfitness oder Kraftausdauer zu trainieren. Weil aber auch gefahrener Schnitt und Herzfrequenz noch jede Menge Fragen offen lassen, kann man sich zusätzlich für ein paar Hunderter eine Kurbel oder Pedaleinheit mit Leistungsmessung ans Tretlager schrauben. Da erfährt man dann im dazugehörigen Display bei jedem Tritt, mit wieviel Watt der Schuh auf das Pedal drückt. Im Technik-Ressort dieser Zeitung fachsimpelte Susanne Braun, diese Messgröße sei im Unterschied zu Herzfrequenz und gefahrenem Schnitt von äußeren Einflüssen unabhängig: „Die Wattzahl wird unmittelbar in dem Augenblick gemessen, in dem die Kraft aufgewendet wird. Und nur diese Kraftleistung wird gemessen. Die Werte sind unbestechlich.“ Tja, zu diesem in der F.A.Z. vorgestellten Leistungsmessungssystem von Garmin hat sich übrigens auch der bikesnob aus New York ein paar (kritischere, aber auch lustigere) Gedanken gemacht, die ich dem werten Leser in voller Länge, im Original und ohne von mir übersetztes Kurzzitat ans Herz legen möchte (ein bisschen runterscrollen ist nötig, sein Beitrag mäandert thematisch etwas).

Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Die berühmt gewordene Aufforderung „quäl Dich, Du Sau!“, mit der Telekom-Fahrer Udo Bölts auf der 97er-Tour de France seinen schwächelnden Mannschaftskapitän Jan Ullrich in den Vogesen anfeuerte, ist nicht mehr auf der Höhe des Zeitgeistes. Heute ruft es aus der App-Entwicklergemeinde und der Zubehörindustrie sinngemäß: „Quantifizier Dich, Du Sau!“ Wenn aber der heutigen Fahrradwelt ein verschrobener Sonderling gefehlt hat, der sich öffentlich hinstellt und behauptet, man könne auch einfach losstrampeln und ohne diesen ganzen Datenkladderadatsch Spaß haben, dann werde ich diesen Part gerne übernehmen. Um dem Einwand vorzugreifen, da arbeite sich ein typisch deutscher Technophobiker an der vernetzten Zukunft ab: Ich habe im Prinzip nichts gegen die ganze Datenerfassung und gegen Apps, mit denen man der interessierten Welt kundtun kann, wo genau man wie schnell unterwegs war. Wer darüber hinaus virtuelle Rennen gegen irgendwelche anderen Freds da draußen fahren will, möge das tun.

Aber ich für mein Teil brauche diesen dauernden Druck vom digitalen Drill-Instructor nicht. Und auch keine ständigen Wettrennen mit Internetcommunitybenutzern, die zufälligerweise irgendwann die gleichen Strecken fahren wie ich. Für irgendwelche Spielchen reichen mir die Fahrer, auf die ich da draußen ganz real treffe, völlig aus. Manchmal ergeben sich daraus sogar ganz nette Gespräche oder gar Bekanntschaften, aber ansonsten fahre ich doch hauptsächlich Rad, um alleine zu sein und den Kopf frei zu kriegen. Ich gucke lieber in die Landschaft als auf ein Display, und manchmal halte ich auch an, um eine Kapelle am Wegesrand zu besichtigen oder ein paar Fotos zu machen. Und ob das meinen Schnitt versaut, darüber mache ich mir keine Gedanken mehr, seit ich kaum noch mit Tacho fahre.

© FAZ 

Tatsächlich kann ich aber ein leichtes Unbehagen angesichts dieser ganzen Entwicklungen nicht leugnen, so harmlos und spielerisch auch jede einzelne dieser Anwendungen daherkommen mag. Mein früherer Kollege Hartmut Ulrich (der mir auch freundlicherweise seinen Screenshot von der Komoot-App zur Verfügung stellte) ist ein ziemlich sportlicher Typ und hat mit diversen Fitness-Apps reichlich Erfahrungen gesammelt. Und die interessanteste davon? Wenn man diese Spielereien ausgiebig genutzt hat und dann aus freien Stücken wieder bleiben lässt, stelle sich ein ganz neues, bewusstes Gefühl von Freiheit ein, berichtet Ulrich. Auf diesem Weg lehrten die Selftracker-Apps den Benutzer eine Menge über die eigene Zwanghaftigkeit: „Meine These ist ohnehin, dass eine Menge Wirkmechanismen des Social Web an zutiefst zwanghafte Eigenschaften in uns ‚Mitmachern‘ appellieren. Und dass diese Zwanghaftigkeit eine schleichende Veränderung des Bewusstseins bewirkt – was man interessanterweise erst dann bemerkt, wenn man auf all das bewusst verzichtet und sich dabei selbst beobachtet.“ Wir sollten, so Ulrich, daher in diesen Zeiten verstärkt über den Satz von Jean-Jacques Rousseau nachdenken, wonach keine Unterwerfung so vollkommen ist wie die, die den Anschein von Freiheit wahrt.