Seine offizielle Bezeichnung ist dröge: “Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung”. Deshalb nennen ihn viele lieber “Olymp von Wiesbaden” (weil er geographisch beim Statistischen Bundesamt angesiedelt ist) oder “Rat der fünf Wirtschaftsweisen”. Momentan gibt es allerdings nur vier Weise: Veronika Grimm, Monika Schnitzer, Achim Truger und Volker Wieland. Denn die Amtszeit des bisherigen Vorsitzenden, des liberalen Freiburger Ökonomen Lars Feld, wurde auf Drängen der SPD nicht verlängert. Im Gegenzug verhinderte die Union die Berufung eines “linken” Weisen. Diese politischen Auseinandersetzungen haben dem Ansehen des 1963 eingerichteten Rates geschadet. Doch eine Neubesetzung der Vakanz ist zu erwarten, sobald die Bundesregierung gebildet ist.
Über Personen soll hier nicht spekuliert werden, und das tut auch
Lino Wehrheim in seinem druckfrischen Sachbuch zum “Olymp der Ökonomen” nicht. Vielmehr beantwortet der ehemalige Doktorand der Universität Regensburg die Frage, welche Bedeutung der Rat für den öffentlichen wirtschaftspolitischen Diskurs in Deutschland hatte. Mit ihren Gutachten erregen die fünf Weisen regelmäßig viel mediale Aufmerksamkeit. Sie sollen die Quadratur der Kreises erreichen, indem sie untersuchen, wie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsgrad und außenpolitisches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum gewährleistet werden können. Dabei dürfen die fünf Weisen keine Empfehlungen für bestimmte Maßnahmen aussprechen. Allerdings äußert sich der Rat auch an anderer Stelle. In einem Gastbeitrag in dieser Zeitung diskutierte er etwa die Kosten pandemiebedingter Lernrückstände und die Notwendigkeit zügiger und umfangreicher Bildungsmaßnahmen.
Aber wie viel Einfluss hat der Rat wirklich? In einer äußerst klugen, als bahnbrechend zu bezeichnenden digitalhistorischen Untersuchung weist Wehrheim auf Basis von Methoden des Text Mining nach, wie sich die Resonanz der Wirtschaftsweisen entwickelt hat. Dazu hat Wehrheim die Archive fünf wirtschaftsjournalistischer Leitmedien (F.A.Z., Handelsblatt, Der Spiegel, Wirtschaftswoche, Die Zeit) ebenso analysiert wie die Plenarprotokolle des Bundestags. Damit orientiert sich die Studie zum Teil an der Konstruktion des Ökonomenrankings dieser Zeitung, folgt aber in konzeptioneller wie auch methodischer Hinsicht vor allem dem Nobelpreisträger Robert Shiller. In seiner “Narrativen Wirtschaft” (Plassen Verlag, 2020) legt Shiller dar, dass ökonomische Narrative einen bedeutenden Einfluss auf die Entscheidungen einzelner Individuen haben. Schon 2009 führte uns Werner Plumpe im “Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte” die Bedeutung ökonomischer Semantiken für moderne Wirtschaftssysteme vor Augen.
Wehrheim begegnet möglichen Kritikern dieser Methode: “Das soll nicht heißen, dass naiverweise angenommen würde, Text Mining könne die Arbeit nah an den Quellen, also das tatsächliche Lesen ersetzen. Vielmehr verhalten sich computergestützte Methoden und traditionelle qualitative Ansätze komplementär zueinander. In der Kombination entfalten sie ein gemeinsames Potenzial, das größer ist als die Summe seiner Einzelteile.” Spannend sind die Erläuterungen im vierten Kapitel, in denen deutlich wird, dass F.A.Z. und F.A.S. im Laufe der Jahrzehnte immer häufiger über Ökonomen, deren Meinungen und Persönlichkeiten berichtet haben. Darunter befanden sich Mitglieder des Sachverständigenrates, die ab der Jahrtausendwende teilweise als “Stars” präsentiert wurden. Leider hat Wehrheim nicht die TV-Präsenz des Rates untersuchen können, weil sich hier die Quellenlage als schwierig erweist. Auch die vielen historischen Auftritte der Ratsmitglieder, auf denen Jahresgutachten präsentiert wurden, lassen sich kaum rekonstruieren.
Was aber ist nun Wehrheims Fazit? Am erstaunlichsten war für ihn selbst die Beobachtung, dass die Medienpräsenz des Rates keinesfalls einem kontinuierlichen Abwärtstrend folgt, wie diverse öffentliche Stimmen in jüngerer Vergangenheit suggerieren. “Nach einem Höhepunkt Ende der 1960er Jahre verweilte die Medienpräsenz bis Anfang der 1980er Jahre auf einem hohen Niveau und ging dann bis zum Ende der 1990er Jahre kontinuierlich zurück.” Sodann folgt die Regierung von SPD und Grünen, die Medienpräsenz steigt bis 2005 wieder an, um anschließend wieder auf dem Niveau der frühen 1980er Jahre zu verharren. Ob die Aufmerksamkeit also wieder zunehmen wird, wenn es nun zu einer Ampelkoalition kommt?
Die Medienstars in der Geschichte des Rates waren übrigens Bert Rürup, Herbert Giersch, Peter Bofinger, Wolfgang Franz und Wolfgang Wiegard. Dem Weisen Lars Feld wird ein leichter Schwerpunkt in der Berichterstattung dieser Zeitung bescheinigt. Das Wirtschaftsressort der F.A.Z. widmet sich dem Rat kontinuierlich, das Politikressort ausführlich nur in Wahljahren, zeigt Wehrheim. 514-mal schaffte es der Rat auf die Titelseite dieser Zeitung, 116-mal in einen Leitartikel. Auf Seite 192 des Buches findet sich sogar eine grafische Übersicht, welche F.A.Z.-Redakteure besonders häufig über den Rat berichtet haben und bis heute berichten. Im Juli 1962 äußerte sich Fritz Ullrich Fack in dieser Zeitung zur Gründung des Rates: “Vieles wird davon abhängen, ob die fünf Gutachter in ihrer Funktion als wirtschaftspolitisches Gewissen der Nation die nötige Autorität erlangen werden.” Das ist, so zeigt diese Auswertung, auch dank der Rezeption in den Medien gelungen.