Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die Diktatur der Dinge

Für Kokain und Crack gibt es Suchtkliniken, aber am gehobenen Hausrat leidet man rettungslos das ganze Leben: Wie gnadenlos man sich der Droge Eigentum ausliefert, begreift man erst beim Putzsklavendienst.

And dandy, you know you can’t escape the past.
The Kinks, Dandy

Es klingelt. Es klingelt so, wie der Postmann klingelt, dreimal nämlich, denn er weiss, dass ich am Morgen manchmal die Missa Celensis mauererschütternd laut höre, und deshalb klingelt er mehrfach. Aber gerade jetzt mache ich keinen Barockradau, ich hüpfe nicht luftorgelnd und das „Te Deum“ grölend durch die Wohnung. Ich sitze ganz zivilisiert mit dem Gast auf dem grünen Sofa herum, schenke Tee nach, nötige ihn zu weiteren Backwaren, und unterbreche hier meine Belanglosigkeiten mit dem freudigen Ausruf: Oh, die Post! Das muss ein Gemälde sein.

Ein. Gemälde. sagt die Besucherin langsam, wie man das eben so sagt, wenn da noch die Hoffnung ist, man könnte sich verhört haben. Die Gründe für den Zweifel hängen frisch abgestaubt neben und über mir, verdecken Bücher im Regal, stehen auf Stühlen und am Boden: 51 Gemälde befinden sich schon im Raum, und es sieht nicht so aus, als ob hier noch Platz für weitere Bilder wäre. Dass es 51 sind, weiss ich, weil ich sie nämlich gestern beim Abstauben gezählt habe. Es ist nicht mehr viel Wand sichtbar, und Freiflächen gibt es eigentlich nur noch hinter dem Sofa und den Bibliotheksschränken. Trotzdem müsste es ein Gemälde sein, zwei sind schliesslich noch unterwegs zu mir. Und zu den anderen Bildern.

Bei insgesamt 123 habe ich mit dem Zählen aufgehört. Das war beim Putzen der Küche und ich hatte in dem Moment begriffen, dass ich umdenken muss. Eigentlich sah der Plan nämlich so aus: Um 6 Uhr in der Früh aufstehen, 12 Stunden lang alles putzen. um der Besucherin um 18 Uhr eine saubere Wohnung und eine saubere Gästewohnung zeigen zu können. Und so gegen 14 Uhr in der Küche und nach 123 abgestaubten Bildern wurde mir klar, dass ich wie jeder gute Feldherr jetzt Kompromisse machen und Räume aufgeben muss. In wirklich allerletzter Sekunde und dank einer 8-minütigen Verspätung des Gastes gelang es mir immerhin, nicht nur die Rumpelkammer eiligst mit Rädern vollzustopfen, sondern auch die komplette Gästewohnung mit Küche und Bad, das grosse Bad, das Vorzimmer, die Bibliothek, die Küche und geschätzt 75% des Salons zu reinigen, Betten frisch zu überziehen und sogar einen Kronleuchter und damit rund 400 verstaubte Kristalle zu putzen. Über den Rest möchte ich an dieser Stelle keine Auskunft geben, sondern einfach die Türe schliessen und deshalb kann ich auch nicht sagen, wie viele Bilder hier noch einstauben. Aber: Es sind viele. Und der Postmann hatte zu meiner Enttäuschung nur Mode für eine Nachbarin dabei.

Das eigentlich Furchtbare an der Sache ist: Selbst gegen einen mickrigen Palast oder ein Chorherrnstift atmen Haus und Wohung immer noch jene entsagungsvolle Strenge, die die Bauherren der Gesellschaft Jesu auszeichnete. Wer einmal durch die Münchner Residenz wandelte, wird meine Wohnung als minderwertigst, leer und bescheiden sehen, es ist halt bürgerlicher Standard und trotzdem: Nach dem letzten Tag verstehe ich, warum Rettungskräfte alte, hilflose Leute so oft in Wohnungen finden, die gleichzeitig elegant und dennoch komplett heruntergekommen sind. Um das alles hier wirklich auf Vordermann zu bringen, bräuchte ich vermutlich eine Woche. Für alte Menschen, die zum Akkordstaubwedeln nicht mehr in der Lage sind, bleibt da wirklich nur die schrittweise Aufgabe von Räumen unter Beibehaltung von ein, zwei sauberen Paradezimmern. Gestolpert und der Oberschenkelhals gebrochen wird aber naturgemäss im von Pfaden durchzogenen Verhau, und so findet man sie meist dort und wundert sich, wie das passieren konnte.

Nun – man verliert die Kontrolle so langsam, dass man sich daran gewöhnt. Mir ist das aufgefallen, als mich beim Staubsaugen unter dem Hepplewhite-Sideboard plötzlich ein immens teurer Verstärker von Audio Consonance anlächelte. Ach so, kam es mir dann, den habe ich ja auch noch, weil ich eigentlich – wie war das noch – ach so, ich bekam dann kurz danach den Röhrenverstärker, der wirklich perfekt passte. Und den anderen Verstärker habe ich weggeräumt und so wurde er das, was solche Gerätschaften in audiophilen Kreisen tatsächlich sind: Tonmöbel. Hier aber ohne jede Funktion und so dauerhaft, dass ich ihn gar nicht mehr wahrgenommen habe. Manche Leute schaffen das gleiche mit nicht aufgebautem Plunder von Ikea und nicht zurückgeschickten Kleidern der Versender. Mir ist in der Rumpelkammer aufgefallen, dass ich auch noch sehr schöne, kleine britische Boxen habe, und eventuell werde ich mir noch eine zweite High End Anlage an den Tegernsee ins Schlafzimmer stellen. Es ist schon erstaunlich, wie so ein Gerät im Rest der Einrichtung einfach untergehen kann. Aber so ist es, und man lernt, das Chaos insoweit mit Gewöhnung zu beherrschen, als dass man ein halbwegs gutes Gefühl hat. Bis zu jenem Moment, da man Aussenstehenden vielleicht einmal wirklich erklären müsste, warum da noch ein zweiter, sinnloser Verstärker unter all den Gemälden liegt.

Dass am Tegernsee noch ein recht grossformatiges Stillleben auf dem Boden steht, weil ich beim Nichtausmessen der Küche ein wenig zu optimistisch war, ist mir auch erst kürzlich aufgefallen, als ein Kind mit Messer in der Hand darauf zusteuerte. Weniger schlimm ist es mit Porzellan und Silber, dafür gibt es im bürgerlichen Haushalt spezielle und sehr lange Schränke, die gefüllt werden wollen. Einige Jahre kann man auch üppige Zukäufe durch Schieben und Stapeln gut unterbringen. Nur diese Momente, da man einen Schubladen öffnet und statt der alleinigen Tischdecken auch noch ein Silberbesteck „in casual array“ sieht, das – man kann es beschwören! – früher nicht da war und man auch gar nicht weiss, woher das kommt – diese Momente führen einem bildhaft vor Augen, dass einem die Kontrolle entgleitet. Glücklich, wer da Besuch bekommt und in der Not die verbleibenden drei Stunden nicht mit Nachdenken und Reflektion zubringen kann! Schnell die Schublade zu, ab ins Bad und warum zum Teufel steht hier eigentlich Felgenreiniger am Waschbecken? Und ob der auch jetzt sofort, denn es bleiben nur 2 Stunden und 55 Minuten und Zaudern ist mörderisch, für Sanitär geht?

Die Besucherin dagegen ist jung, sehr jung und ohnehin gerade mit leichtem Gepäck unterwegs. Sie ist in diesem Alter, in dem ausufernder Besitz eher eine Last und eine eigene Immobilie noch ein Hemmnis der grenzenlosen Freiheit ist, die sie sich bei Belieben nimmt: Denn sie ist gerade drei Monate und einen Tag in Deutschland auf der Walz. Und da verstehe ich natürlich, dass sie sich, ohne überhaupt in die wirklich vollen Räume mit Portraits in Petersburger Hängung vorgedrungen zu sein, sich über noch ein Bild nur wundern kann. Mitleid mit mir wäre jedoch vergebens. Man kettet sich gern an den Besitz: Denn die Unabänderlichkeit des Lebens, für das man sich entschieden hat, ist danach nicht mehr zu hinterfragen. Man tauscht die Freiheit gegen die Beständigkeit, und dass man de facto versklavt ist, merkt man wirklich nur bei der Wartung dessen, was einen besitzt. Wird es doch zu belastend, flieht man unter der Ausrede der Sommerfrische an den anderen Wohnort, der meistens bei weitem nicht so voll ist und einem das Gefühl gibt, man habe das Leben und die Dinge unter Kontrolle. Und noch Platz für überflüssige Tonmöbel. Und für die zwei Rokokoportraits, die noch unterwegs sind. Manchmal denke ich, der Boom der Ferienwohnungen und der eigenen Immobilien kommt nur daher, dass man Auslagerungsflächen braucht und mit all dem Besitz nicht noch einmal umziehen möchte.

Aber hübsch sieht so eine Bücherwand dann doch aus, nackte Wände empfindet man bald als komisch, und es ist auch nett, wenn man jedem Besuch eine farblich passende Bettwäsche anbieten kann, geblümt für die Prinzessinnen und blaukariert für die Wandergesellen. Es ist wie jede Diktatur, manchmal ist es schlimm und unerträglich, aber dann findet man wieder seinen Platz und sieht auch die Vorteile. Alles ist, wo es sein soll. Es gibt keinen Mangel an gar nichts. Und man denkt auch nicht jeden Tag an die Unterdrückung und den Zwang. Das fällt wirklich nur auf, wenn der Gast einfach so, ohne sich umzudrehen, weiterreisen kann und sich nicht überlegen muss, wer während der kommenden Wochen und Monate auf den Besitz aufpasst und tut, was zu tun ist, um das System am Laufen zu halten. Ein jeder trage seine eigene Last.

So, ich muss noch 25% des Salons machen und mich überraschen lassen, was alles unter den Sofas sein mag fliehe vor der Verantwortung reise an den Tegernsee. Die Besucherin ist auf dem Weg in den hohen Norden, und wer die nächsten Tage aus dem Raum Nürnberg/Mittelfranken Richtung deutsche Küste/Flensburg fährt, dem darf ich sie als Reisegenossin wärmstens, so warm wie meine glühend heissgescheuerten Staubtücher ans Herz legen – da will sie nämlich hin.

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