Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Ich starre gern auf 1930

Schliesslich bin ich Kulturhistoriker. Und obendrein lasse ich mir ungern sagen, wohin ich in krisenhaften Zeiten zu starren habe. Das muss man sich ja heute sagen lassen. Aber: Wer einem die Blickrichtung vorgibt, hat vielleicht auf der anderen Seite was zu verbergen. Und nachdem trotz übelster Krise gerade fast jeder Journalist damit beschäftigt ist, im Schlechten das Gute und im Falschen das Richtige zu entdecken, sehe ich 1930 noch mehr Ähnlichkeiten zur Gegenwart.

Als um die Jahreswende 1931/32 der allgemeine Bankzusammenbruch endgültog da war, hingen alle Grossbanken vom Reich ab.
OMGUS, Ermittlungen gegen die Dresdner Bank

Man sollte immer vorsichtig sein, wenn Autoren in Blogs eine Frage mit “?!” beenden. Das ist nicht nur schlechter Stil, sondern auch ein Zeichen dafür, dass dem Autor seinen eigenen Argumenten nicht voll vertraut. Allerdings kommt das auch in den besten Familien vor, so etwa auch in dem Beitrag  “Was starrt ihr alle auf 1929?!” von Michael A. Gotthelf, der damit auf Thomas Strobls leicht ketzerische Thesen zur Instabilität des Kapitalismus antwortet. Gotthelf gibt sich redlich Mühe, den traurigen Ruf der 2009er Krise zu verbessern, wehrt sich gegen Vergleiche mit 1929 und sieht, Strobl ver- und Zahlen und Untersuchung durch das duzfreundschaftliche Vakuum werfend, die Wirtschaft allenfalls in einer mittelprächtigen Rezession. Alles super, eine Umverteilung der Mittel oder Korrektur des Systems sei überflüssig, es gehe durchaus gerecht zu, nicht die Pferde scheu machen lassen und immer weiter so – solange man nicht in Strobls Hausblog in den Kommentaren die Corrigenda liest. Vermutlich bin ich mit folgendem Geständnis auch ein übler linker Ketzer, der Handlanger zu “Krugmans Stellvertreter in Deutschland” Linken – aber ich möchte hier keinesfalls verhehlen, warum ich selbst gebannt auf 1930 starre.

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Wenn meine Grossmutter aus dieser Zeit der Weltwirtschaftskrise erzählte, sagte sie immer “Bei uns hat es immer etwas Fleischiges gegeben”. Wir hatten immer Fleisch auf dem Tisch. Damals musste man sich Fleisch erst mal leisten können. Im Kern lässt sich die Geschichte des gehobenen Bürgertums der letzten beiden Jahrhunderte auch anhand des Fleischkonsums erzählen, der früher allein den Eliten vorbehalten war: Die Bauern hatten Mangelkrankheiten durch den ewig gleichen Getreidebrei, und die Mächtigen Rheuma wegen der unmässigen Fleischesserei. Wer nicht mehr Hunger hatte, versuchte auf der Nahrungskette nach oben zu gelangen, und im 19. Jahrhundert gelang es dem Bürgertum, Fleisch zu einer Normalität werden zu lassen. Manche hatten immer Fleisch auf dem Tisch. Die Fleischschüssel war der Mittelpunkt des Gedecks. Sogar zwischen 1916 und 1936. Das waren jene, die durch alle Krisen hindurch, auch unter Verlusten, ein gewisses Niveau halten konnten. Wie etwa meine Familie.

Andere dagegen mussten in jener Zeit erst mit der Kriegsnahrung vorlieb nehmen, verloren einen Teil ihres Vermögens durch das Platzen der Kriegsanleihen und den Rest durch die Inflation, und hatten nicht mehr viel von ihrem Reichtum, als 1930 bis 1933 die Folgen der Weltwirtschaftskrise schliesslich Deutschland erreichten, wo sie durch die Zwangsmassnahmen der Regierung Brüning noch verschärft wurden. Wir hatten immer Fleisch auf dem Tisch, aber natürlich auch nicht mehr so viel, denn auch bei uns gab es Kriegsanleihen und Bargeld. Das deutsche Bürgertum hatte sich seit dem Ende der napoleonischen Kriege konstant und ohne grosse Brüche entwickelt, um dann innerhalb von 15 Jahren oft alles zu verlieren. Durch eine Krise, die sie so wenig verstanden, wie die meisten heute die Krise verstehen.

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Wer damals unter die Räder kam, verlor alles. Es betraf jeden; manche konnten, wie meine Familie, zumindest einen Teil des Vermögens retten, andere gingen in die Donau, weil sie keinen Ausweg mehr sahen. Feine Leute, erzählte meine Grossmutter, die sich nichts zu Schulden hatten kommen lassen, denen aber die Krisen jede Existenzgrundlage nahm. Wir hatten immer Fleisch auf dem Teller. Wir schon. Aber wir hatten auch eine Bäckerei. Wenn der Teig nicht aufging und das Brot ungeniessbar war, kamen trotzdem welche, um sich damit den Magen zu verderben. Es gab sehr viele Arme und Hungrige.

Wir hatten übrigens auch nur Fleisch, weil mein Grossvater Jäger war und Freunde unter den Adligen hatte. Man gab auch manches weiter. Im Park um die Stadt war im Winter 1930/31 kein Ast mehr auf dem Boden. Wir kamen durch. Aber das Bürgertum als Ganzes wurde an den Abgrund geschoben, und viele darüber hinaus. Jeder versuchte zu überleben. Wir hatten Fleisch, aber die Gesellschaft verlor das, was man vielleicht als “Tugenden” bezeichnen könnte. Man wurde unempfindlich gegen Leid, gegen die Arbeitslosen, die an der Donau kampierten, weil sie die Miete nicht mehr zahlen konnte, gegen die Töchter, die sich verkauften, gegen die Sterblichkeit und den braunen Pöbel, der davon profitierte. Es gibt nichts Schlimmeres als einen Krieg, sagte meine Grossmutter. Und die Schlechte Zeit. 1930.

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Es gibt manche alte, nicht allzu erbauliche Geschichten, die man in meinen Kreisen vorträgt, um die Zugehörigkeit zu beweisen: Die mit dem Arzt liierte Urgrossmutter in Davos, der Opa, der dem Grafen allzu ähnlich sah, der Zusammenbruch des Autos hinter dem Brenner Anno 28, die mangelnden Flötenkünste von Urgrosstante Eulalie. Ich kenne niemand, der solche Scherze mit der schlechten Zeit treiben würde. Auch heute steht man wieder vor der Herausforderung, das Vermögen zu sichern; ich kenne durchaus Leute, die im Bereich von kreditfinanzierten Geschäftsimmobilien oder Filmfonds ihr Vermögen zu verlieren drohen. Bei den Eltern meiner Bekannten sind Vermögensverluste von einem Drittel normal. Und den unter Schulden und Geldmangel stöhnenden Familien Schaeffler, Schickedanz, Porsche und Oppenheim wird man gerade ebenso wenig über die 30er Drangsale erzählen müssen.

Aber Herr Gotthelf meint, man solle nicht auf dieses 1930 drauf starren. Ich frage mich: Warum nicht? Was will Herr Gotthelf, dass man es dort nicht sieht? Vielleicht die Parallelen jenseits der Zahlenschubserei? Da sind beispielsweise die frappierenden Ähnlichkeiten zu den Rettungsbemühungen für deutsche Banken, die den Staat selbst 1932 an den Rand des Zusammenbruchs brachten: Nachdem die Banken ihr Eigenkapital verzockt hatten, musste der Staat eben jene Millionen hineinpumpen, die er durch harte Schnitte bei sozial Bedürftigen und durch tatenloses Zusehen bei Firmenzusammenbrüchen gespart hatte. Wer heute Brüning’sche Notverordnungen sehen will, mit unbezahltem Zwangsurlaub für Staatsdiener und de facto Staatspleite, wird im Kalifornien unter Herrn Schwarzenegger fündig, ebenso bei Obdachlosen und Suppenküchen. Rechtsextreme Bürgerwehren in staatlicher Legitimation in braunen Uniformen, die Jagd auf Ausländer machen, denen die Schuld an der Krise gegeben wird? In Berlusconis Landen ist dieser Flair der 30er ab sofort wieder zugelassen.

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Die auffälligste Übereinstimmung zwischen 1930 und heute finde ich jedoch in einem amerikanischen Blog, in dem sich jemand die Mühe macht, Tag für Tag die Schlagzeilen des Jahres zu veröffentlichen. Und da ist es gar nicht die Hoffnung, Fiat könnte einen amerikanischen Autobauer übernehmen – es ist das immer gleiche Gebrabbel sogenannter Experten, die Krise habe ihren Höhepunkt erreicht, eine Verbesserung der Lage würde schnell kommen, das Schlimmste sei hinter ihnen, der ganze Unsinn, den all unsere Experten genauso fundiert und falsch von sich gegeben haben, egal ob sie nun Ackermann, Bernanke oder Paulson heissen. Diese zynische Wette auf eine grandiose Zukunft mit Wachstum und Prosperität, die erst kommt, wenn man noch mehr Geld in marode Banken und Firmen steckt, ihnen Nachlass beim Kauf anderer Banken gewährt, Kreditversicherer mit Geld überflutet, damit Banken nicht an ihren Spekulationen nicht krepieren und man mit Billionenschulden weiter machen kann, oder auch nicht, wenn die Zukunft noch etwas länger braucht – und noch längerund noch länger – 1930 hat das unter unschönsten Begleitumständen auch bis 1945 gedauert. Da ist der Vergleich mit 1930 mitsamt der daraus zu ziehenden Lehren immer noch die erfreulichere Angelegenheit.

Und damit wir uns auch richtig verstehen: Die abgebildeten Geldscheine sind keine Sammlerstücke, sondern nicht entwertete, aber wertlose Originale, echte und durchaus schmerzvolle Verluste meiner Familie, die zu eben jenem Zweck der Erinnerung aufbewahrt wurden.Damit so etwas beim nächsten Mal nicht wieder passiert. Zum Beispiel 2010.