Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Abgehen für Anfänger

Es gibt eine wunderbar einfache Methode, dem entwürdigenden Rausschmiss zu entgehen: Indem man begreift, wann es Zeit ist, zu gehen. Diese einfache Lösung scheint jedoch in Vergessenheit geraten zu sein, und so kleben manche an Ämter, Parteien und Bekannten, dass man sich wirklich überlegen muss, wen man überhaupt noch einladen kann. Das Problem kommt nicht aus der Unterschicht - es wird ganz oben vorgelebt.

Wer hat an der Uhr gedreht, ist es wirklich schon so spät
Paulchen Panther

Natürlich muss man aus politischen Gründen den Rauswurf von Herrn Sarrazin aus der SPD erwarten. Natürlich reitet er auf eugenischen Zuchteseln in die Talkshows, natürlich argumentiert er mit einer Vererbungslehre, mit der man um 1900 Frauen entrechten wollte, um 1870 Arbeiter diskrimierte, und um 1800 eben Bauern in Abhängigkeit halten wollte, die Schweine hütend oftmals die Vorfahren all jener halbwegs wohlriechenden Salonrassezüchter sind, die heute dafür eintreten, sich zu fördern und andere da zu belassen, wo sie sind, in der Hoffnung, dass sie einfach durch höhere Sterblichkeit, schlechtere Versorgung und weniger Kinder weniger werden. In einer sozialdemokratischen Partei, die sich auch nur einen Funken ernst nimmt, haben solche Leute nichts verloren, egal wie sich Sarrazin jetzt, da er den Tritt bekommen soll, in der moralisch mehr als nur glitschigen Spur von Bild und Spiegel als “Daswirdmandochwohlsagendürfen” der Nation aufführt.

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Viel wichtiger aber scheint mir eine andere Entwicklung zu sein, die sich in Sarrazins wirklich peinlichem, nur auf Schaden und Buchumsätze ausgerichteten Beharren auf seiner Mitgliedschaft in der SPD manifestiert: Die Unfähigkeit zu verstehen, wann man nicht mehr erwünscht ist und bitte den Gestgeber in Ruhe lassen möchte. Das ist bei normalen Treffen unter Bekannten in aller Regel gar nicht böse gemeint oder gar a la Sarrazin verschärft, indem  man mit einem Eklat den Gastgebern mitteilt, sie wären nicht des Lesens kundig. Vielmehr ist es nun mal so, oder besser, es sollte so sein, dass dem Gastgeber unter wohlerzogenen Menschen selbstverständlich das Recht eingeräumt wird, über die Dauer des Aufenthaltes des Gastes zu befinden und dezent darauf hinzuweisen, wenn sich der Besuch dem Ende nähert, was sodann den freundschaftlichen Aufbruch nach sich zieht – der Gast hat dagegen alle Optionen, seinen Aufenthalt durch Freundlichkeiten und geistreiche Anekdoten zu verlängern.

Ich selbst habe es noch anders und nach den harten Regeln gelernt; zu meiner Jugend galt es als verbindlich, auch bei grösster Herzlichkeit eines Treffens zu gewissen Uhrzeiten automatisch den nahenden, leider unvermeidlichen Aufbruch zu verkünden. Um sechs Uhr bei weniger gut Bekannten, und um zehn Uhr, wenn man bei guten Bekannten und Freunden war. Nur wenn dann deutlich um den Verbleib gebeten wurde, war man noch gerne bereit, etwas zu verweilen. Im Prinzip wussten beide Seiten, dass es eine Konvention ist, die dem Gastgeber auf der einen Seite die Qual abnimmt, das Ende des Treffens zu verkünden, und ihm auf der anderen Seite die vorzügliche Freude bereitet, mit einem “Aber bitte, bleibt doch noch” seine Qualität als Hausherr unter Beweis zu stellen. Egal, wie es ausgeht, beide Seiten wahren das Gesicht, niemand muss das Gefühl haben, dem anderen irgendwie zu Last zu fallen.

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Um dem Gastgeber zu signalisieren, dass der Aufbruchswunsch allein der Konvention entsprach, wählte man dafür eine nicht zwingende Ausrede – etwa so:
“Danke für die Gastfreundschaft – ich muss aber leider noch nach Hause, und es wird schnell dunkel.”
“Aber bitte, es ist doch noch sehr früh, und Hildegard wollte gerade den Käseigel holen.”
Hier ist dann klar: Der Gastgeber hat mit dem Verbleib gerechnet. Also war die richtige Antwort:
“Oh, danke, der berühmte Hackentrumm’sche Käseigel, das ist natürlich, also…”
“Ich bitt Euch: Gertrud kann Euch ja später mit dem Automobil heimbringen, die bekommt dann eben keinen Eierlikör.”
“Danke, aber das können wir nicht annehmen.”
“Aber bitte, liebe Freunde, es ist mir wirklich eine grosse Freude…”
“Paul, danke, Du verwöhnst uns.”

Man sieht neben den heute als Anachronismen geltenden und kaum mehr üblichen Worten wie “Käseigel”, “Bitte” und “Danke” die Fähigkeit der Personen, aus der schlichten Frage “Soll ich jetzt gehen” eine kleine Kommödie der gegenseitigen Wertschätzung zu machen, und sich über die Planung des Abends auszutauschen, ohne dass man deshalb direkte Absprachen treffen müsste: Wenn der Käseigel gegessen ist, wird der Gastgeber der Freu des Besuchs den Mantel bringen und halten, wenn sie hineinschlüpft, sie werden sich gemäss den Konventionen die Hände in der richtigen Reihenfolge reichen, fest bei den Männern, und mit einer angedeuteten Verbeugung bei den Frauen nur die Finger von unten  – Reste des Handkusses – nehmen, den Frauen die Türen aufhalten und ein wenig förmlich winken, bis die chromblitzende S-Klasse um die Kurve verschwunden ist. So ging das. Weil jeder wusste, dass es so und nur so ging. Wer es so nicht konnte, wurde nicht mehr eingeladen. So komplex und von Konvention geprägt das Verhalten auch war, die Konsequenzen waren ehrlich, einfach und nachhaltig.

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Heute muss man froh sein, wenn man unter Mittvierzigern nicht nach ein paar Stunden in einem Twitterfeed liest, dass man ein schüchterner Junge mit komischen Manieren ist, nur weil man jemandem die Tür aufgehalten hat – und bitte, ich spreche da aus leidvoller Erfahrung in Münchner Kreisen, deren “Events” in der Süddeutschen Zeitung wohlwollend besprochen werden, und die grossen Firmen gegen Geld erklären, wie man sich im Internet “benehmen” sollte. Alle Zuchtbemühungen solcher Jungakademiker, wie sie momentan gerne vorgeschlagen werden, scheinen mir reichlich sinnlos, wenn im Ergebnis ungezogene Personen ohne Manieren noch mehr ungezogene Personen zeugen, die vielleicht kluge Powerpoint-Präsentationen machen, aber ansonsten vollkommen ungeeignet sind, der Oberschicht jenseits einer Tätigkeit im Facility Management zu begegnen. Obwohl: Ich persönlich denke ohnehin, dass die durchschnittliche Klofrau heute für 50 Cent beim Verlassen der Örtlichkeiten mehr Manieren hat, als der durchschnittliche Systembegünstigte, der beim unfreiwilligen Verlassen mitnimmt, was er kriegen kann, und dann mault, dass es noch immer nicht genug ist.

Der Niedergang dessen, was man als würdigen Abgang bezeichnen könnte, mag viele Ursachen haben, aber auch von Oben wird etwas gänzlich anderes Benehmen vorgelebt. Der Wechsel vom Volksvertreter zum bezahlten Lobbyisten, der seine Kontakte vergoldet, ist so ein Verhalten, das dem Beobacher vermittelt: Bleib so lange, wie es Dir etwas bringt, dann geh zum Nächsten, der besser zahlt, und für die gute Zeit zu danken, wäre nur Zeitverschwendung. Man mag alte Konventionen für verlogen halten, aber diese neue Ehrlichkeit ist auch nicht gerade ein feiner Zug. Es geht trotzdem, denn man kommt damit durch: Die einen kennen es selbst nicht anders, die anderen können einen nicht ausladen. Übertragen auf das Realleben entstand eine “Ich schick Dir mal ne SMS dass ich gleich vorbeikomme”-Haltung,  der es egal ist, ob ein Käseigel oder eine Torte im Kühlschrank wartet, die keinen besonderen Aufwand erwartet, aber auch keine Hinweise für den richtigen Zeitpunkt zum Aufbruch kennt. Es geht um Gelegenheiten, die schnell aufgetan und genutzt werden, und wenn der eine zu spiessig dafür ist, hat man noch 10 andere flüchtige Bekannte. Irgendeiner wird schon da sein. Und wenn der dann mit der Situation nicht klar kommt, weil seine dezenten Signale nicht verstanden werden, ist das auch sein Problem.

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Die Folge sind Ausschlüsse, die für die Betroffenen egal sind, und absonderliche Verrenkungen, die einem selbst nicht egal sein können, und die meine Eltern nie hätten auf sich nehmen müssen: Ausreden, Ausflüchte, eine gewisse Verunsicherung und bisweilen auch wenig erbauliches Misstrauen bei neuen Bekanntschaften (unter denen zu allem Elend auch überproportional viele Buffet nicht abgeneigte und anderswie fragwürdige Journalisten sind), die zuerst gewisse Testläufe absolvieren müssen und desöfteren prompt nicht bestehen. Besser, aber auch nicht gerade angenehm: Langwierige Vorprüfungen und Überlegen, als ging es darum, als alte Tante den richtigen für die Nichte zu finden, und nicht nur zum Tee einzuladen. Und auch mein eigenes Verhalten als Eingeladener wird beeinflusst. Ich entdecke an mir ein nachgerade überkorrektes Befolgen der Regeln, wenn ich befürchten muss, der andere könnte ebenso verunsichert sein, was ihn nun erwartet: Jemand, der beizeiten zu gehen und auf Wunsch zu bleiben versteht, oder jemand, der es so macht, wie es ihm gerade passt. Ob da ein Freund kommt, oder ein Freund von Gelegenheiten. Bei mir wird es oft auch im Sommer schon um 5 Uhr für den Heimweg zu dunkel.

Im Vergleich dazu war die schlechte, alte Konvention nachgerade angenehm.