Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Das Punktesystem für die besseren Kreise

Fraglos hat ein Punktesystem für Integration enorme Vorteile: Jeder glaubt zu wissen, woran er ist, kann sich Mühe geben, und dahinter entscheidet ein anderer, ob er es mit dem Öffnen der Tore ernst meint, oder es sich doch wieder anders überlegt. Für Migranten finde ich das im Übrigen menschenverachtend zynisch, aber für meine Kreise passt es gar nicht mal so schlecht.

Die Gottesmutter kleidet sich wie eine arme Frau. Ihr aber stellt sie wie eine Dirne dar.
Girolamo Savonarola

Da sassen wir also zusammen. Oder besser, ich stand in der Küche, und sie sassen draussen in der Bibliothek, überlegten, welchen Rotwein sie nehmen sollten, entschieden sich dann, dass sie für den Heimweg ein Taxi nehmen, denn S. und R. haben den gleichen Weg und das gleiche Ziel, das Bett von S. nämlich, und A. und I., die in der Altstadt wohnen, können zu Fuss nach Hause gehen. Oder torkeln. Oder die Hände zu Hilfe nehmen, dieser neumodische aufrechte Gang wird sich sowieso nicht durchsetzen. Oder es kommt ein Cavalier und hilft. Dieser Chateau La Greniere 2002 muss nämlich auch dringend mal weg, meinten sie. Ausserdem wäre mal so ein moderner Korkenzieher keine schlechte Sache für mich, auch wenn ich keinen Wein trinke: Getrunken wird bei mir trotzdem. Und wenn ich mich mit der Tarte in der Küche nicht beeile, wird mehr getrunken, als es dem alten Herkommen besserer Kleinstadtkreise und dessen Nachwuchs zum Ruhme gereichen würde. Und so liess ich den Kürbis kurz liegen, und machte einen kleinen Vorspeisenteller. Ich kann gut kochen, aber miserabel koordinieren.

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Es war ohnehin keine formale Einladung; vielmehr die übereilte Folge einer Absage, für die ich umfassend geplant und den Kühlschrank bestückt hatte. Ende Oktober sind Pfifferlinge schon leicht problematisch; sie halten nicht mehr lang, werden schnell wässrig und sollten nach spätestens drei Tagen weg. Das sagte mir auch meine Marktfrau, bei der ich eigentlich keine Pilze kaufen wollte, nur ein paar andere Kleinigkeiten, die noch fehlten: Aber wie es so ist, entscheidet das Schicksal anders, und gab mir in Person der Marktfrau noch ein halbes Pfund Pfifferlinge extra mit. Pfifferlinge im Kühlschrank, Pfifferlinge in der Einkaufstasche, kein Gast, um ihn zu versorgen: A.s Frage, was ich denn heute Abend machen würde, war da nicht weniger als eine Erlösung. Kürbistarte mit Pfifferlingen für alle. Zu fünft schaffen wir das an einem Abend (Falls jemand Rezepte weiss, mit denen man Pfifferlinge auf die Schnelle haltbar macht, ab in die Kommentare damit: Ich habe immer noch 300 Gramm übrig).

Und während ich den Kürbis rieb und die Zwiebeln hackte, klagte man draussen über die Bedrängnisse der nächsten Woche: Die Reise zu einer Messe für medizinische Geräte, das Elend der Konzertsaison nach dem Ende der Sommermatineen, ausserdem hatte man eine kleine Wohltätigkeit angedacht, ach so, ja, da wollten die A. und die I. den Koch fragen, ob er nicht vielleicht auch etwas beisteuern wollen würde, mal wieder etwas vorlesen, das jetzt nicht unbedingt etwas Böses über die dumme, kleine Stadt an der Donau wäre, vielleicht doch etwas über den Tegernsee, der ist weit genug weg, oder Frankfurt, was schreibst Du denn gerade? Diese Frage ist noch etwas schlimmer als die Frage, was ich gerade denke: Denken tue ich sowieso nie, das schadet meiner beruflichen Tätigkeit, aber schreiben, da muss ich mich erinnern und dazu denken und weil ich das nicht tue – ach so,  über die Idee von Brüderle, Immigranten mit einem Punktesystem zu versehen. Und ob diese Idee nicht auch trefflich geeignet wäre, die Aufstiegswilligen in die besseren Kreise zu reglementieren.

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Denn es gibt da ein klares Missverhältnis: Auf der einen Seite schafft die Umverteilung tatsächlich Wohlstand in einem kleinen Bereich von weniger begüterten Schichten. Und da gibt es nun auf der einen Seite die junge Frau, die sich über den zweiten Bildungsweg und dem Brotberuf als Krankenschwester bis zum Studium und dem Doktortitel durchschlägt. Und auf der anderen Seite den Puffbetreiber, der sich einen Adelstitel kauft und auf dem Weg nach St. Tropez seinen Sportwagen auf Koks bei Manching in die Leitplanken setzt. In solchen Fällen ist es keine Frage, wen wir einladen und wen wir liegen lassen würden, auch wenn der Puffbetreiber äusserlich Insignien miteinzubringen versucht, die eine junge Ärztin auch zehn Jahre nach dem Studium nicht vorweisen kann. Das alles basiert auf Erfahrungen Dritter und geprüften Vorurteilen, auf saktosankten Dünkeln und übergreifenden Gerüchten, die jeder kennt, aber keiner in Umlauf gebracht haben will. Und so ist es kein Wunder, wenn die Aufstiegswilligen ihre Kraft in falschen Annahmen verpulvern, sich in Frankfurt teure Benimmkurse leisten und am Ende doch wieder nur von Ihresgleichen eingeladen werden, wo man in Ermangelung anderer Optionen die Stöcke bewundert, die man sich selbst kunstreich in hintere Regionen appliziert hat.

Wie gut wäre da ein System, das klar sagt: Wir haben allein schon wegen der Messaliancen nur wenig Platz für zusätzliche Teilnehmer unserer Kreise, unsere eigenen Rüpel können wir aus Gründen der Tradition zwar missbilligen, aber nicht rausschmeissen, und angesichts einer schrumpfenden Bevölkerung würden wir wirklich darum bitten, sich auf eine Warteliste einzutragen. Vor der Bewilligung Ihres Bescheides erwarten wir von Ihnen einen Nachweis über folgende Fäigkeiten: – Und dann muss ein gnadenloses Pflichtenheft kommen, mit allem, was man sich wünscht: Mindestens zwei Bücher pro Monat, zumindest ernsthafte libertinäre Ansichten mit philosophischem Unterbau statt Swingerclubs und Bordelle, keine Drogen, kein Glücksspiel, ein dezentes Autreten und die Fähigkeit, immer den Mund zu halten und gerade zu sitzen, auch wenn einem gerade etwas nicht passt – den Rest kann man sich, wie es sich gehört, denken. Und was man zwar in den eigenen Kreisen sieht, aber nicht noch mehr haben möchte: Anwälte zum Beispiel, Journalisten und Lobbyisten können erwiesenermassen nicht wie ein Arzt kompetent und unterhaltsam von den Unterschieden der Fazialdeformationen im Jägerzaun Typus “Hubertus” und an den neumodischen Gittermauern Modell “Mielke” erzählen, halten sich dennoch für wichtig und wissen zumeist nicht, wie man sich vorstellen lässt. So etwas geht gar nicht. Man müsste also Gut und Böse trennen, pardon, sehr Gewünschtes von leider gerade weniger Passendem absondern, das eine mit Pluspunkten und das andere mit Minuspunkten versehen, und wer in der Lage ist, bis zu einem durch das Ausscheiden anderer Mitglieder sehr zufälligen Zeitpunkt die höchste Punktezahl zu erreichen: Der darf rein. Zuerst mal auf fünf Jahre. Na? Wäre das ein Thema?

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Interessant, sagt die A. in das Schweigen hinein. Mal schaun. Hast Du noch etwas Ciabatta, fragt die S..

Hat nicht auch der alte Münsterpfarrer gerade ein Buch geschrieben, den könnte man doch auch mal einladen, fragte die I. die A. später in meinem Besein, was auch nach der dritten Flasche nicht gerade charmant ist, und I. in meinem negativen Punktesystem für diesen Affront auf einen Platz weit hinunter, knapp vor TV-Moderatoren und Personality Coaches, schicken würde, aber das geht ja nicht, denn schon I.s Grossvater ging mit Meinigem Viecher abknallen, und zusammen haben sie dann den Wanderer bei Böhmfeld in den Graben gestzt. Oder war es ein Adler? Oder die BMW? Irgendsowas. Es passierte wohl mehr als einmal. Damals gab es noch keine Alkoholkontrollen bei Besserverdienenden, nur zusammengeschlagene Hacken, weil der Baron auch oft dabei war, aber das ist mindestens eine andere Geschichte, und das geht Sie, liebe Leser, eigentlich auch gar nichts an.

Aber dafür berührt I. den Kern des Problems meines Vorschlags – und den Vorschlag Brüderles und die Ideen aller bigotten Knallfrös Volksrepräsentanten, die von einer exklusiven “christlich-jüdischen Kultur” faseln, weil sie zu feige sind, ihre Überlegenheitsrhetorik in die Tradition der Herrenrasse zu stellen, aus der sie ihren Schlamm schöpfen. Man kann natürlich ein Punktesystem der wünschenswerten Eigenschaften entwerfen, das zur Integration führt. Nachdem die Plätze begrenzt sind, führt so ein Punktesystem nur dazu, dass die Besten der Besten der Besten, um ein bekanntes Werk der Filmgeschichte zu zitieren, Einlass finden. Die 110%igen. Die Streber. Die feigen Duckmäuser, die alles erdulden, um reinzukommen. Man kann mit Punkten keinen Charakter messen, man kann aus keinem Glauben eine bessere Moral ableiten, man kann den besten öffentlichen Ruf haben und voll den Vorstellungen der besseren Gesellschaft entsprechen – und trotzdem seine Frau verprügeln und illegale Stiftungen in Luxemburg betreiben. Am Ende formuliert man mit solchen Listen Idealvorstellungen, vor denen es einem grausen würde, müsste man sie selbst erfüllen. Man macht die Türen auf für perfekt scheinende Wesen und lässt sie in Räume, in denen die I. und die A. über Scheidungen sprechen, wie sich andere über das Wetter unterhalten, man will Leistungen sehen und wäre selbst arbeitslos, wenn der Papa von S. nicht einen Marktführer besässe, der das Marketing, in dem sie arbeitet, nicht braucht, und in der Küche entsteht die Tarte unter hygienischen Bedingungen des nördlichen Afghanistan. Man fordert, ohne selbst zu leisten. Man ist bigott, aber zu feige, es offen zu sagen, und versteckt sich hinter Tabellen, Punkten und scheinbar objektiven Kriterien, die die eigene Subjektivität nur wenig verbergen können.

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Es sei denn, man hält es mit Savonarola und tut bis zur letzten Konsequenz genau das, was  man von anderen fordert. Savonarola jedoch war ein ungewaschener Mönch, konnte nicht plaudern und verbrannte anderer Leute Bücher und Musikinstrumente, und das geht nun wirklich nicht, weder auf meiner Punkteliste noch in meinen Kreisen, wo es dem Kindern bis heute nachhängt, dass sie in der sechsten Klasse im Wutanfall ihre Violine zertreten haben, und auch sonst eher wie Menschen waren, als wie Idealvorstellungen.

Meine Tarte wurde dann auch etwas zu trocken, aber mit einem Pinot Noir von 2005 haben sie es gar nicht mehr richtig bemerkt, und später erzählte dann auch der R., was er vom Bürgermeister so an Neuigkeiten gehört hat.