Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

12-Töner und andere sinnlose Abschottungen

Kultur würden vielen sehr viel weniger Spass machen, wenn sie allen gleich viel Spass machen würde. Wo bliebe dann die Distinktion, würde sich mancher sagen, wo wäre meine Überlegenheit, wie könnte ich mich absetzen - allein die Vorstellung ist so entsetzlich, dass man sogleich ein Abo für das Parkett der Oper abschliesst und sich die Meinung der Modefeuilletonisten stichpunktartig für die Pause aufschreibt. Dabei will das alles doch niemand haben. Die Eliten quälen sich, die anderen schalten die Glotze ein. Man kann Kultur ganz einfach wieder geniessen.

Jede Art der Musik ist gut, ausser der Musik der langweiligen Art.
Gioacchino Rossini

Geschichten besserer Kreise kann man so oder so erzählen.

Die einen präferieren die Familiengeschichte in der Tradition legitimationssüchtiger Adliger als generationenübergreifendes Ringen bis zu der Spitze, an die sie gelangt sind. Das sind nicht selten die Neureichen, die glauben, sich mit Leistung beweisen zu müssen. Die anderen sitzen zwar im ehemaligen Jesuitenkolleg, vor dem sich die gaffenden Touristen stauen, auf dem Sarough aus der Zeit um 1900 und unter Stuck und Kronleuchtern auch in Bad und Küche, aber das ist alles nur Zufall, denn wenn der alt’Uhlmann 1848er ein anderes Haus… und wenn die Stadt es der Oma doch abgedrückt… und dass man für eine Zeitung und nicht für Werbegazetten wie die W*lt schreibt… und dass unten im Haus ein Laden ist, der High End Audio und nicht gebrauchte Mobiltelefone vertreibt… die Kronleuchter blieben aus der Berliner Zeit übrig und der Sarough ist von der alten Frau H., ja, es sieht alles schon ziemlich nicht ganz schlecht aus, aber das ist alles nur Zufall, die meisten anderen Familien haben ihre Anwesen in der Altstadt verkauft, bei der Zeitung hat man sich auch nicht beworben, es ist mit einem passsiert, gewissermassen sass man zufällig am richtigen Fleck und das Schicksal hat einen darunter hochgeschichtet. Warum? Wer weiss.

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Meine Freunde wissen es auch nicht, und ganz ehrlich: Dass ich mir überhaupt solche Gedanken über das Warum meiner Existenz mache, hat erst in dem Moment angefangen, als ich den Vorschlag machte, hier dieses Blog zu schreiben. Davor habe ich das alles genauso desinteressiert als gegeben hingenommen, wie es meine Freunde immer noch tun. Die verstehen auch nicht, warum man das schreiben oder gar lesen sollte. Wenn ich über der Kürbistarte anfange, von meiner Tätigkeit zu erzählen, kommt unweigerlich nach ein, zwei Minuten eine den Wunsch nach besserer Unterhaltung signalisierende Frage wie: Hat Dein Musikalienhändler im Haus nicht wieder ein paar neue CDs bekommen? Hat er stets. In Wochenfrist kommt immer etwas Neues an. Also ziehen wir um und gehen in das Zimmer, in dem die Anlage steht. Baroque in Hannover heisst die neue CD, Hofmusik aus der Zeit um 1700. Übrigens, ertönt es später thematisch durchaus passend in einer kleinen Pause zwischen den Tracks von der musikalisch sehr bewanderten I., hat jemand von euch Lust, in die Oper zu gehen? Ich hätte noch zwei Karten für das Wochenende, meine Eltern können nicht mit.

Man kennt das. Solche Fragen wurden früher immer gestellt, wenn dem Konzertverein etwas Ungewöhnliches eingefallen ist. Schlagzeugerehrungen. Stücke, die Dirigent selbst auch geschrieben hat. Musik des 20. Jahrhunderts noch vor der Pause, so dass man nicht entfleuchen kann. Das waren die Konzerte, bei denen dann die Kinder ihre weniger hochkulturnahen Freunde einladen durften. Die Eltern brachten einen auch hin und holten einen wieder ab, und sassen derweilen im Schlosskeller. Und wussten wieder, dass die pubertierenden Monster auch ihr Gutes haben konnten: Weil mit ihnen nicht die Stühle leer blieben und es weniger offensichtlich war, dass sie solchen Darbietungen nicht überragend viel abgewinnen konnten. Ehrlich gesagt war es dann stets so, dass nur die Musiklehrer, die 110-prozentigen und nahe Bekannte des Veranstalters den Künstlern den Eindruck zu vermitteln suchten, dass diese Stadt und ihre Elite natürlich auch 12-Tonmusik zu schätzen weiss, und sich dem Neuen nicht verschliesst. Nachdem aber viele Freunde nach einigen schlimmen Erfahrungen wussten, was Freikarten bedeuteten, waren sie nicht mehr dafür zu gewinnen. Nur wer Glück hatte, fand duerhaft Platzhalter für den festen Platz im Parkett. Wer weniger Glück hatte, musste auch nichts befürchten: Zu viele kamen nicht, als dass es irgendwie aufgefallen wäre.

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Lass mich raten, die übliche Bedrängniss mit Alban Bergs Wozzek steht an, wäre an dieser Stelle eine unhöfliche Antwort für der I. Anliegen gewesen; eine Antwort, die ausserdem auch noch eine durch nichts zu rechtfertigende Unterstellung wäre: Nein, die Karten sind für Leos Janaceks Oper Janufa. Ich muss sogleich bei meiner Mutter die Pflanzen in den Keller tragen, A. muss unbediungt die Steuer machen, S.und der R. treffen sich leider schon mit Freunden, und so scheint es, die I. würde sich allein und verlassen das durchkomponierte Drama um Kindesmord, Schuld, Beziehungsstress und Klangwolken quälen müssen. E no gloria senza pene, ne placer senza dolore, erklingt über das Elend der im Stich gelassenen Operngängerin Händels angenehme Kantate. Janacek, denken wir alle insgeheim, das ist der Höllenkreis vor Albans Berg der Zahnschmerzen, dahinter kommt der Mann mit dem unpassenden Namen Schönberg, und es ist noch so weit bis zu den Fegefeuern von Shostakovitch. Die Ärmste. Willst Du nicht auch mitkommen, fragt die S. nun im Gegenzug die dem Janacek anheimfallende I., der P. ist auch da, der würde sich so freuen, dich wieder zu sehen. Die I. blüht auf und hat nicht einmal den Restanstand, sich auch nur eine Minute zu zieren und zu sagen, dass sie ja dann den Janacek und dessen epochales Werk Janufa aufgeben müsste.

Denn, seien wir ehrlich: Wir geniessen Janacek nicht wirklich. Oper und so vieles der “Ernsten Musik” rannte spätestens ab Wagner weg vom Vergnügen in eine Sackgasse, man wurde akademisch und verachtete diesen volkstauglichen Italiener Verdi, dessen Chöre bald auf der Strasse gesungen wurden – versuchen Sie das mal mit einem Wesendoncklied oder dem Siegfriedidyll – man wollte weg von den Sudeleien eines Rossini hin zur Erhöhung, zur Musik, die nicht mehr jeder einfach so verstehen konnte, Musik für gehobene Ansprüche, Nasen und Augenbrauen, Musik für Sager wie: “Wie wir ja alle wissen”, “Der Komponist betont doch selbst in seinem Brief an die Sängerin”, “Unzweifelhaft ist dieses Werk unzweifelhaft”, und was an Bildungshuberei den Opernführerauswendiglernern sonst noch einfällt, um ihre kulturelle Überlegenheit zu beweisen. Nur Verzückung bei Josef Rufer beweist allen, dass man empfindet und versteht und mitreden kann. Wer es erduldet, kann sich wenigstens gewiss sein, sich jetzt mal ordentlich von den Unterschichten distanziert zu haben, deren kultureller Horizont irgendwo bei der Aida in Verona beim Gardaseeurlaub aufhört. Sehr bürgerlich, diese Haltung. Auch: Sehr deutsch.

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Und sehr überflüssig. Es mag sein, dass man sich in Zeiten, da niedere Schichten und Hungerleider auf die Stehplätze der Opernhäuser drängten, sich etwas von ihnen beengt fühlte. Es mag sein, dass man deren Desinteresse an Kleidern in der Pause als störend empfand, und ihnen nur ungern Kunstverstand zumass. Da war natürlich eine Musik, die geistig anstrengte und für viele nicht mehr einfach zu verstehen war, eine feine Sache: Oper für die Gebildeten, Vaudeville für den Rest. Es ist kein Spass mehr, es ist ein Joch, unter dem man sich zu beugen hat, man muss über Stunden und Stunden in einem Saal mit vielen alten, entsetzlich überparfümierten Menschen schlechte Luft und noch schlechtere Musik zu sich nehmen, die ein Judenhasser namens Wagner zu kürzen nicht in der Lage war, aber man nennt es Festspiele auf dem Grünen Hügel, und alle Politiker kneifen die Lippen zusammen und stehen das irgendwie durch, auch wenn sie jetzt lieber Leberkäse und ein Bier aus der Dose hätten. Hauptsache, die Welt erkennt, dass sie das richtige Kulturverständnis haben.

Aber wozu? Auf der einen Seite hat sich die Kultur der Eliten so weit vom allgemein Verständlichen entfernt, dass auch die Eliten selbst kaum mehr mitkommen, und sich ein ganzes System von Kulturerklärern halten müssen, die ihnen sagen, was sie wovon zu halten haben. Und auf der anderen Seite streben die Unterschichten schon lange nicht mehr nach Erkenntnis oder Angleichung an die Eliten. Sie haben ihre eigenen Vorstellungen und Wünsche, und sie sind ein Markt, der von den Massenmedien mit grosser Fürsorglichkeit bedient wird. Die Opernhäuser würden nicht voller werden, wenn man den Don Giovanni wieder spanische Tracht tragen liesse, wenn man dem 20. Jahrhundert ein Jahrhundert Zeit liesse, sich dem Urteil der Geschichte etwas weniger auf der Bühne zu stellen, und wenn man sich vom Zwang befreien könnte, mit der Regie auf alte Stücke neue Deutungsebenen aufzupfropfen, mit denen man vielleicht den Kritikern imponiert, aber den Zuschauern den Abend versaut. So oder so sind wir allein. Die anderen wollen gar nicht mehr. Die haben etwas Besseres gefunden.

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Natürlich muss man deren Einschaltquote deshalb nicht mögen. Es ist aber auch eine Ausschaltquote, sie wenden sich nicht nur anderen Dingen zu, sondern von den Eliten ab. Mehr kann man in einer liberalen Demokratie nicht erwarten. Man könnte also wieder anfangen, alte Musik zu geniessen, statt neuere Bildungsansprüche zu ertragen – Bildunngsansprüche, die, da machen wir uns bitte keine Illusion, von Leuten hochgenast werden, die uns bislang nicht vorgestellt wurden. Leute, die man sich so hält, wie man sich auch zwei, dreimal in der Saison zwingt, dieses 20. Jahrhundert durchzustehen. Leute, die von den Bemühungen berichten, ganz oben im Reich der Kultur anzukommen, sich dort mit ihrer Deutungshoheit an der Spitze wähnen, aber nicht ganz begriffen haben, dass so ein Friseurbesuch auch mal wieder nötig wäre. Neureiche der Bildung. Wir dagegen liegen auf den Sofas bei Wein und Mandelgebäck aus Mantua, hören Musik unter den Kronleuchtern, plaudern, brauchen uns nicht belehren zu lassen, weil die Musik für sich selber spricht, und es ist, wie es eben so ist: Angenehm. Darum. Wir wissen.