Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Russinnen haben oder nicht haben

Platz ist in der grössten Villa: Weil die Altenversorguing nicht mehr zu den Pflichten besserer Familien gehört, werden die Aufgaben an Osteuropäer outgesourced.

Die Diktatur des Proletariats kann nur unter regem und aktivem Anteil der Frauen der Arbeiterklasse verwirklicht und behauptet werden.
Clara Zetkin, Die kommunistische Frauenbewegung

Es gehört zu den Paradoxien eher kinderfeindlicher Menschen, dass sie durchaus so etwas wie Familiensinn empfinden. Nur, weil man selbst den Weg der Eltern, eine Familie gründen zu wollen, für sich kategorisch ausschliesst, muss man noch lang kein schlechter Sohn sein, oder Familien verachten. Ich etwa kann Kinder, das Geschrei und die Einschränkungen nicht leiden, bin aber der festen Überzeugung, dass Blut dicker als Wasser ist, und der eigene Clan weit vor Heimatland, Bundesrepublik, EU und sonstigen „Wirs” anzusiedeln ist, mit denen uns staatliche Einrichtungen belästigen. Familie ist wie der Tegernsee: Vielleicht etwas spiessig, aber letztendlich die beste aller möglichen Welten.

Bild zu: Russinnen haben oder nicht haben

Und deshalb war ich auch sehr angetan, als ich beim Weg zum Konditor die alte Frau sah. Ich verachte ja Pelzträgerinnen, und das war ein wirklich schlimmes Exemplum des überbordenden Luxus, mit Betonfrisur und Gold, das aus 50 Meter Entfernung überlaut schimmerte, aber in Begleitung einer gut 30 Jahre jüngeren Frau, die sie vorsichtig über die letzten Eisplatten dieses Winters geleitete.

Siehst du, sagte ich zu meiner Mutter, so ist das richtig. Das Wetter ist toll, man ahnt den Frühling, und die Kinder kommen an den See, um ihre Mütter zum Konditor zu bringen.

Meine Mutter jedoch, nicht ganz so oberflächlich und banal, wie ihr Sohn durch das faule Leben als Gesellschaftsreporter geworden ist, schaute nur einmal hin und sagte dann knallhart und die beste aller möglichen Welten brutal schändend:

Das ist nicht die Tochter. Das ist eine Russin.

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Und was soll ich sagen: Wie schon meine Grossnutter hatte natürlich auch meine Mutter wie immer recht. Die Dame im Pelz und ihre Begleiterin wurden nach uns bedient, und sie sagte mit einer gewissen inneren Haltung zur Begleiterin: „Darf ich fragen, was Sie wünschen?” – woraufhin sich die Begleiterin mit gebrochenem Deutsch ein eher diätisches Stück Kuchen erwählte, sofern es dort überhaupt so etwas gibt, das nicht den Kalorienbedarf eines Menschen für drei Tage deckt. Die Dame präferierte eine völkerrechtswidrige Marzipanbombe, die mich fraglos zerrissen hätte, und dann gingen sie nach hinten und

weiter habe ich es nicht beobachtet. Ich nahm  die obige Zitronenprinzregententorte, die ganz leicht schmeckt, keinerlei Schokolade enthält und einem die Illusion lässt, dass der sich darüber ergiessende Fettzuckergletscher kalorienfreies, süssliches Eis ist. Und ich nahm die Erkenntnis mit, dass man heute eben doch etwas genauer hinschauen muss, auch in meinem Umfeld, und dass vieles nicht mehr so ist, wie es einmal war. Man könnte auch sagen: Für alle, die der Illusion nachhängen, das Gründen einer Familie würde garantieren, dass sie im Alter nicht allein sind, könnte sich der Tegernsee, dieser Inbegriff der heilen, romantischen und traditionellen Welt mit all dem Vermögen und den idealen Voraussetzungen, als kleiner Knacks im Weltbild erweisen.

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Und dabei ist das noch die schönere Variante. Ich habe massive Skrupel, hier das Vollbild zu zeigen, daher nur der untere Bildausschnitt – aber in Tegernsee sass davor eine alte Frau zusammengesunken auf einer Bank, so nach vorne gerutscht und in ihrem monströsen Pelzmantelgebirge verschwunden, dass man sich unter anderen Umständen nicht hätte sicher sein konnte, ob sie nicht Hilfe bräuchte. Auch sie war goldbehangen, auch sie vermittelte einen guten Eindruck davon, wie es ist, wenn man hier im Vollbesitz üppiger Renten und Dividenden alt wird. Alles perfekt. Nur die viel zu kurzen Socken und die offenen Schuhe liessen erahnen, dass die Kraft nicht mehr für alle Tätigkeiten reicht.

Das sind die Fassadenreichen. Das sieht man, das erlebt man öfters; ältere Menschen, die eigentlich längst die Probleme ihres Alltags nicht mehr bewältigen, aber alles daran setzen, die Fassade aufrecht zu erhalten. Die sich lieber den Oberschenkel auf einer Eisplatte brechen, als einen  Stock zu benutzen, die für alle Probleme eine Kompromisslösung suchen, solange sich davor nur ein Pelz, eine S-Klasse oder eine geschlossene Tür einrichten lässt. Sei es, weil sie niemandem zur Last fallen wollen, sei es, dass sie es selbst tun möchten, sei es, dass sie es behaupten und das Umfeld leider nicht begreift, dass man sie notfalls dazu bringen muss, Hilfe anzunehmen. Der kontrollierbare Bereich schmilzt dann zusammen auf das, was noch geputzt, gekocht, aufgeräumt und gepflegt werden kann, und der Rest ist so wie in jenem Haus, aus dem ich meinen grossen Sarouk habe: Jenseits des Empfangszimmers marode, kaputt und schon lange tot, bevor die Besitzerin selbst gestorben ist. Und nein: Nur, weil es heute bei vielen jungen Leuten in Berlin noch schlimmer aussieht – Du, können wir uns im Cafe treffen? – ist das sicher nicht der Zustand, der im Sinne des alten Herkommens ist.

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Beide Wege – der zur Vereinsamung und der zur angemieteten Russin plus Kost und Logis – haben Vor- und Nachteile. Die Vereinsamung lässt einem das Gefühl, trotzdem niemanden zu brauchen und selbst mit dem  Leben fertig zu werden, und bei hohem persönlichen Risiko ist es lediglich eine Kapitulation vor den Dingen, nicht aber öffentlich vor der Gesellschaft. Auch, wenn es gelogen ist, erlaubt es immer noch die Schutzbehauptung, man käme allein durch das Leben, was für die Leute vom alten Schlag sehr wichtig ist. Die Russin dagegen kann gerne irgendeinen Bereich des 200+x-m²-Anwesens bewohnen, das in diesem Alter zumeist leer steht, weil die Kinder nicht geblieben sind, sie kostet nicht die Welt, und sie beruhigt stets das Gewissen des entflohenen Nachwuchses. Gleichzeitig ist sie aber auch die sichtbare Kapitulation vor der Gesellschaft: Hier muss sich jemand helfen lassen, und ausserdem dafür bezahlen, weil die Kinder es offensichtlich nicht tun. So zumindest ist das in den Köpfen der alten Menschen drin, wenngleich Jüngere da anders denken – eventuell mit der Hoffnung, ihre Rente möchte dereinst auch für solche Hilfe reichen. Pardon, ich muss mal eben vor die Tür und lachen.

***

Au. Mein Bauch. Wo war ich? Ach so. Wie man es dreht und wendet, ob mit Russin oder ohne, ob da nun jemand ist, die dafür bezahlt ist oder niemand, der die Schnürbänder schliesst – all die alten, reichen Herrschaften stammen noch aus einer Zeit, da man das eher nicht erwartet hätte. Da hoffte man nicht auf die Kinder, damals ging man einfach davon aus, dass sie da sein würden. Heute ist die bessere Gesellschaft sehr viel reicher, und dank Osteuropa ist das Personal wieder so billig wie vor 80 Jahren, aber es ist kein Luxus mehr, keine Ergänzung der Familie, sondern eine von zwei unschönen Alternativen. Die dritte Alternative wird gerade in Rottach und Kreuth in alte Gasthöfe eingezogen: Seniorengerechtes Wohnen, wo man sich die Hilfskräfte teilt. Und vielleicht hofft, dass dann die Kinder auch mal wieder kommen und die alte Villa besichtigen, und sie nicht gleich an den Makler durchreichen.

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Das Blut läuft zusammen, hat man früher in Bayern gesagt. Ich weiss offen gesagt nicht, ob dieser Spruch noch in hundert Jahren gelten wird. Ist er doch auch ein wenig unkorrekt und passt nur mittelgut zu Lebensentwürfen, die Unabhängigkeit und Freiheit in den Mittelpunkt stellen – und bitte, ich kenne die Seesauna und die Mütter auf Tagesausflug dort: Das ist kein ausschliessliches Dilemma der Libertins. Das Konzept der Familie passt noch in diese Zeit, solange die Pflichten einfach zu schultern sind; danach beginnt nicht zwingend die Aufopferung für den Ruf der Familie, sondern die Suche nach Alternativen und der Preisvergleich. Man hört, dass die Preise in letzter Zeit gestiegen sind; wöchentlich 50 Euro mehr soll der Standard sein, denn in Polen und Russland ist man auch nicht blöd. Aber auch das wird nicht genug sein, um die alte Ordnung wieder attraktiv zu machen, und so wird man weiterhin am Tegernsee vorsichtig sein müssen, ob die junge Frau zur alten Dame passt. Oder die andere alte Dame nicht vielleicht doch Hilfe braucht und so eingefallen da sitzt, weil sie nicht mehr aufstehen kann.

Man weiss es nicht. Man kann es nicht sagen. Es ist wie mit den alten Sicherheiten dessen, was man früher einmal als bessere Kreise bezeichnete.