Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Dr. Strangemoney oder Wie ich lernte, den Homo Oeconomicus zu lieben

Es kommt nur auf den richtigen Blickwinkel an: Dann wird aus Sklaverei Freiheit, aus der Krise allgemeiner Wohlstand,, aus der unschönen Analyse eine Verschwörungstherie, und alles, was komplex war, ist plötzlich ganz einfach.

Most people in this society who aren’t actively mad are, at best, reformed or potential lunatics.
Susan Sontag.

Ich habe natürlich von Wirtschaft und Journalismus keine Ahnung. Ich bin eher so Vor- und Frühgeschichtler, also einer von denen, die anhand von Zerstörungsschichten in Siedlungen erkennen, wenn Gier und Propaganda unschöne Folgen hatten. Wenn mir, wie beim Thema Fracking, einer sagt, Deutschland müsste doch die Chancen nutzen und dürfte nicht von kleinlichen Bedenkenträgern abgehängt werden, dann entgegne ich ihm, dass so vermutlich auch die Bronzehersteller der frühen Metallzeit argumentierten, als sie Kupfer noch mit dem Schwermetall Arsen legierten. Da sagte man sich auch: Klasse Technik, wir kriegen gute Ergebnisse und Profite. Bis man dann nach gut 2 Jahrhunderten bemerkte, welche Nebenwirkungen Arsen in den Atemwegen hat. Ja, der Mensch, sein wichtigstes Lernorgan ist zu allen Zeiten nicht das Hirn, sondern die Schmerzzelle.

Oder beim Thema Leistungsschutzrecht; da erzählt man mir, dass ein böser Monopolist sich auf Kosten der Medien bereichere und man deshalb von allem, was sich da im Netz frech bei den Medien bedient, gern Lizenzzahlungen haben würde, eben, um einen gerechten Ausgleich zu bekommen. Ich denke, dass das Zunftwesen auch lange Zeit eine sehr stabile Sache war, bis zu dem Moment, da sich woanders niemand mehr darum scherte und den Kunden jenseits des Zunftzwanges andere Alternativen angeboten hat. Ich persönlich kaufe übrigens meine Bienenwachskerzen bis heute direkt beim Kerzenmacher, ich bin da als historisch interessierter Mensch konservativ, aber keine Förderung der Kerzenzieher durch die Gaslampenhersteller hätte etwas an ihrem Niedergang ändern können. Dass die Gaslampen übrigens auch so ein hübsches Beispiel für eine nicht nachhaltige technische Entwicklung sind, die im Gegensatz zu Kerzen Wohnhäuser explodieren und Bibliotheken verrotten liess, und die – vorläufig – uns richtig erscheinende Lösung der elektrische Strom ist, sei hier nur am Rande angemerkt. Das Quecksilber in den Energiesparlampen ist auch gesünder als Arsen – man nennt es Fortschritt.

Und natürlich weiss ich aus historischer Betrachtung auch, dass es Gesellschaften nicht dauerhaft nutzt, wenn sie Egomanie und Gier als Prämisse des Handelns definieren. Natürlich wird das nicht offen so formuliert, bei Pol Pot war es der Sieg des Kommunismus und die Autonomie von Kambodscha, an der Wall Street die Liberalisierung und das freie Handeln mit Immobilien, Schulden und deren Verbriefung. So etwas liest sich auf dem Papier immer erst mal gut – Glück und Wohlstand und Freiheit für alle – aber ich bin nicht nur Historiker, sondern auch Angehöriger der Klasse, die an Tagen wie diesen nicht mühsam in die Berge fahren muss. Ich wohne hier. Und ganz viele andere tun das nicht. Glück und Wohlstand und Freiheit für alle geht für mich nur exakt so lang in Ordnung, solange es für mich dazu noch meine Wohnung am Tegernsee, meinen Parkettboden in einem ehemaligen Jesuitenseminar aus dem Jahr 1600 und bei Heuschnupfen die Möglichkeit gibt, für drei Monate nach Italien umzusiedeln. Kurz, ich glaube nicht an die Ungleichheit der Menschen, aber es ist nun mal so, dass die einen im Stau stehen, wenn ich noch frühstücke, und trotzdem bin ich vor ihnen auf dem Berg.

Gestern jedoch habe ich etwas länger gebraucht, denn bei meiner morgendlichen Lektüre ist mir auch ein Beitrag von einem gewissen Nikolaus Piper in die Hände gefallen, der für die Süddeutsche Zeitung in den USA leben musste, und ein weiterer dieser Freunde der ungezügelten Marktwirtschaft ist, die in den Regionen jenseits des Tegernsees gerade eine üble Krise zur Folge haben. Dort, am Nabel des Kapitalismus, echauffiert er sich über Ansichten, dass der Mensch heute ein von Modellen vorhersehbarer Homo Oeconomicus sei, der nur seinen eigenen Nutzen in den Vordergrund stelle, und dabei auf die Methoden der Spieltheorie hereinfalle. Das sei aber gar nicht so: Man müsste sich doch nur mal anschauen, mit welcher Selbstlosigkeit sich die New Yorker beim Hurrikan Sandy gegenseitig geholfen hätten. Moral sei durchaus ein wichtiges Kriterium für Handlungsweisen. Das tief verwurzelte Misstrauen gegen die Kapitalismus sei falsch, das müsste man „nach fast 65 Jahren sozialer Marktwirtschaft besser wissen“. Man bedenke, dass man im Süden Deutschlands auch „Vergelt’s Gott“ sagen würde, weil man nicht nur auf irdische Vorteile hoffen würde.

Nun lebe ich dort, wo die Menschen das sagen sollen, und ich muss betonen: Man hört das wie viele andere an Gott gerichtete Ausrufe inzwischen sehr selten, und nur noch ganz wenige kennen die einzig richtige Antwort „Segn’s Gott“. Wie überhaupt mein innerer Historiker auf die Barrikaden bei solchen Praxisbeispielen gehen will: Ob sich „die New Yorker“ im Sturm liebevoll umeinander gekümmert haben, weiss ich nicht, aber es ist allgemein bekannt, dass überall der Strom ausgefallen ist. Nur das Gebäude von Goldman Sachs war hell erleuchtet, und man muss wohl davon ausgehen, dass die da drin arbeitenden New Yorker nicht eben Sammelaktionen und Spendenaufrufe organisierten. Das „Vergelt’s Gott“ kenne ich in meiner Heimat nur noch vom Wochenmarkt; da, wo die grosse Mehrheit an kurzen Kassenflächen schnell billiges Essen in Tüten schaufelt, werden nur die Preise genannt und Rabattkarten zwecks optimaler Kundenausforschung durch den Scanner gezogen. Das ist nun mal die Realität der anderen. Man muss sich im Baumarkt verständnislos anschauen lassen, wenn man auf die Frage nach der Postleitzahl „Nein Danke“ sagt. Und was dieses dämliche Cookie von mir hält, das nach Abgabe eines Wohnungsangebots mir ununterbrochen Münchner Topangebote als Werbung zeigen lässt, kann ich mir auch ungefähr denken: Man muss überhaupt kein Verschwörungstheoretiker sein, um zu verstehen, dass man uns in alle Kanäle nachkriecht. Die einen machen es mit netten Namen wie Herzensammeln, und die Propagandisten bringen hübsche Gegenbeispiele von der heilen, sündenlosen Bergwelt, für die so ein normaler Journalist schon mehr als nur ein paar kostenlose Abspeisungen von Banken annehmen muss, wenn er sich hier niederlassen wollte. Ich mag durchaus diese Folge von 65 Jahren sozialer Marktwirtschaft.

Man könnte als Historiker die Piper’sche Relativierung grenzenlos und mit dem gleichen Recht fortschreiben: Man muss nur einmal schauen, wie zivilisiert die Briten Tee trinken, da können doch das ganze Gerede über die brutalen Folgen des Thatcherismus gar nicht stimmen. Wer erlebt hat, wie sich manche Europäer selbstlos beim Untergang der Titanic opferten, wird wissen: So schlecht war es unter Wilhelm II auch nicht. Gott will es, riefen die Christen bei der Pauschalreise ins heilige Land, da sieht man, wie wichtig die Moral ist, wenn man nebenbei noch im Herzogtum Antiochia prassen kann. Es gibt gute Gründe, warum man sich in der Wissenschaft solche Bezüge verkneift, man kennt genug Brandschichten und Massengräber. Moderne Schuldenberater hinterlasse keine Spuren und Pipers Erben werden davon profitieren, dass die Archäologie kongolesischer Gräberfelder der Warlordepoche später einmal nicht so relevant ist, dass man darüber reden müsste. Was ich aber nach diesen 65 Jahren der Marktwirtschaft sicher weiss ist, dass es uns hier auch trotz Krise blendend geht. Da muss ich nur schauen, wer da alles am Sonntag meinen Berg hochstiefelt.

Denn es wird langsam warm, und man kann auch wieder Kleidung tragen, die etwas her macht. Oben geben sich Pornobrillen und Goldschmuck das übliche Stelldichein, man darf die neue Kollektion von H***** bewundern, und eine Münchnerin zeigt mir ihre an sich ungeeigneten, aber sicher sehr teuren Lammfellschuhe, mit denen sie hier hochgeklettert ist. Um 13.30 Uhr sind schon die Spinatknödel aus, es wird gegesssen, was noch da ist, und um die Plätze gestritten, dass es eine Freude ist. Und hier nun fängt die Piper’sche Strategie an, durchaus formschön zu wirken: Sollte demnächst das Finanzamt um Geld für die Bezahlung von Sozialkosten bitten, kann ich doch sicher auch sagen, man müsste sich doch nur mal die Neureuth anschauen. Dieser Bedarf für HartzIV ist sicher nur eine Verschwörungstheorie, dafür zahlen wir nicht, und ausserdem sage ich hier am Berg auch brav zu allen Millionären Grüss Gott, ich bin also sehr dem Jenseitigen zugetan und damit habe ich auch schon wieder viel für das Sozialgefüge getan. Sollte der unverschämte Büttel dann immer noch quengeln, werde ich auf den Piper verweisen und sagen, 65 Jahre soziale Marktwirtschaft sind prima gelaufen, da kann es doch gar kein Berlin geben, in dem 20% der Bevölkerung von HartzIV leben. Undenkbar. Hier jedenfalls sieht man davon auch bei 200 Kilometer Fernsicht nichts. Nur den Starnberger See und die Grenze zu Österreich, wo es keine Erbschaftssteuer gibt.

Vergelt’s Gott, werde ich dem Büttel nachrufen, wenn er dann verstanden hat, dass ich gar nicht als Homo Oeconomicus mein Geld behalte, sondern ganz im Sinne des Systems, das mich nach oben gestellt hat. Je länger man darüber nachdenkt, desto erbaulicher erscheint es, sich bei der Betrachtung von Problemen auf jene Gruppen und Ereignisse zu beschränken, die davon nicht betroffen sind. Archäologie mag andere Ergebnisse liefern, aber wie viele Leute schauen sich eine Ausstellung über Brandschichten an, und wie viele glauben, dass das Essen bei Ikea wirklich quersubventioniert ist, und sie dabei noch einen Gewinn machen, wenn sie dort essen, statt mal wieder auf dem Markt einzukaufen und zu kochen?

Am Ende werden manche hier wohnen und andere nicht.Und warum das so ist, und auch so bleiben wird, warum die einen im System zappeln und die anderen fassungslos sind, weil es keine Spinatknödel mehr gibt, das ist komplex, und nicht einfach zu erklären, wie ein Planun in einer Ausgrabung, das ist.. also… ich bin schon über 7000 Zeichen…das ist schwierig in einem Satz… und wir müssen froh sein, dass es all die Pipers gibt, die es uns ganz, ganz leicht machen, die Welt zu verstehen und das zu sehen, was uns passt.

Dann schaut der Rest auch wie eine störende Verschwörungstheorie aus. Gegen uns und das, was uns zu glauben gefällt.

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