Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Baden gehen vor den prooligarchischen Schutzwällen

Nicht exklusiv, nicht elitär, hässlich bebaut und das alles am Ende des Kontinents: Der Strand von Kamarina ist so schmutzig wie die Politik und vereint in sich die Zukunft und die Vergangenheit Europas.

Und wenig später schlief die gramerfüllte, schmächtige alte Frau wieder ein.
Luigi Pirandello, Einer nach dem anderen

Nicht alles ist in Sizilien verschlossen oder verrammelt: Israel hat noch militantere Mauern und Absperrungen als der italienische Süden. Will man etwa mit dem Auto gegen die Einbahnstrasse hinauf zum Andromeda Hill über Jaffa, wo die Reichen ihre Luxuswohnungen haben, bohren sich hochgestellte Krallen in die Reifen. Die Städte sind voll mit Überwachungskameras. Der Stacheldraht in Israel ist prominenter platziert, und die allgegenwärtige Bewaffnung tut ein Übriges, damit man sich ein wenig ausgeschlossen vorkommt.

Aber auch Sizilien kann sich brutal abgrenzen. Glasscherben verunzieren auch auf den schönsten Weltkulturerbemauern in Ragusa, Hecken aus stachligen und ungepflegten Opuntien begleiten die Landstrassen, es finden sch mehrere Meter hohe Stahlgitter an den Grundstücken und Eisenstangen und Maschendrähte in den Fenstern, oder eben das immer nur zu einem Drittel geöffnete Eisentor vor dem Hotel, das zum Land hin, soweit man es überhaupt hinter Mauern und Hecken sieht, wie eine Festung wirkt. Vor ein paar Jahren hat man in Italien ein Gesetz beschlossen, das es Hausbesitzern erlaubt, ihren Grund und Boden mit der eigenen Waffe zu verteidigen: In Sizilien würde ich das Privateigentum, wenn es ausgeschildert ist, aus Gründen der Gesundheit achten.

Das hier ist natürlich kein Hotelstrand wie bei uns im Ressort, der sauber gepflegt ist, und exakt so viele Liegestühle wie das Hotel Betten hat, und am einen Ende über eine künstliche Klippe und am anderen Ende eine normannische Burg verfügt, die man nicht passieren kann. Das hier ist der Strand von Kamarina, ungefähr auf halbem Weg zwischen meinem Hotel mit seiner Schweizer Gründlichkeit und internationalem Personal in internationalem Schwarz, und Marina di Ragusa, ein Ort, der ein wenig das Heiligendamm von Sizilien sein möchte. Nach Süden hin ist der Strand von einem Hügel abgeschlossen, auf dem die antike Siedlung Kamarina liegt; will man dort die Grabungen besichtigen, muss man eine Erklärung unterschreiben, dass man es auf eigene Gefahr tut und über die Risiken durch Ungeziefer aufgeklärt wurde. Auf einem Schild steht dann noch einmal, dass man den Bio Hazard fürchten soll, der sich dort in Form von Insekten und Reptilien breit macht. Würde man vom Strand über den Hügel wandern, käme die nächste hässliche Mauer im Gestrüpp: In der nächsten Bucht hat sich ein Ferienclub breit gemacht, der die Überlebenden des Bio Hazard ausschliessen möchte.

Man darf sich von den Bildern der angrenzenden Architektur nicht täuschen lassen; der Strand von Kamarina ist wirklich schön und mit einem kräftig anbrandenden Meer gesegnet, das den Eindruck eines grenzenlosen Wassers macht. Man kann über Kilometer über feinen Sand laufen und Muscheln sammeln, es riecht gut und salzig, und der Wind bläst die warme Luft aus Afrika herüber. All der angeschwemmte Müll nimmt dem Strand nur wenig von seiner Schönheit, und weil er so leer und so lang ist, stellt sich hier auch das Gefühl ein: Hier endet Sizilien. Hier ist Italien zu Ende. Hier versinkt Europa in den Fluten. Und das ist wirklich so, denn während ich an diesem schmutzigen, demokratischen, freien und allgemein zugänglichen Strand war, hat man sich in Rom entschieden, eine Regierung zu bilden, die im Grossen und Ganzen das tut, was Berlusconi während des Wahlkampfes versprochen hat. Man erinnert sich vielleicht an den Jubel der ökonomisierten Presse, die behauptete, die Märkte hätten diese peinliche Figur hinweggefegt: Jetzt ist er wieder da, als wäre nichts gewesen, und die Märkte feiern das ausgiebig.

Und die deutschen Medien feiern den Umstand, dass eine Ministerin des ausgeklüngelten Kabinetts deutscher Herkunft ist. Das verdeckt natürlich einen kleinen Schönheitsfehler, denn der neue Ministerpräsident hat sogleich genau das verkündet, was der zentrale Punkt in Berlusconis Wahlkampf und der Sargnagel für die der deutschen Regierung genehmen Regierung Monti war: Die von Monti wieder eingeführte, verhasste Immobiliensteuer – de facto so eine Art Vermögenssteuer im Hausbesitzerland Italien – wird ersatzlos abgeschafft. Früher galt diese schmerzhafte Reform unvermeidlich für die Konsolidierung des Staatshaushaltes, jetzt wird sie abgeschafft, damit die Mehrheit der Italiener einen persönlichen Vorteil hat, und sie diese Parteien und keinesfalls den Grillo beim nächsten Mal wählt. Es geht um die Stabilität der alten Eliten, der Kaste, die Italien in die Krise geführt hat und sich nun mit markigen Reformreden anschickt, die Lösung für diese Probleme darzustellen.

Nun haben wir also Länder un Europa, deren Banken marode und deren Jugend weitgehend arbeitslos ist: Länder, die wie Spanien Sparvorgaben mit angeblichem Bedauern nicht erfüllen, wie Portugal vom Gericht gehindert werden, oder wie Italien gar nicht daran denken, weiter zu sparen, sondern lieber das Geld in vollen Zügen ausgeben möchten, das die Zentralbank in das Wirtschaftssystem pumpt. Das bröckelnde Kamarina ist aber nicht Sylt oder der Tegernsee, und statt über Vollbeschäftigungsutopien muss man hier über Jugendgewalt und Perspektivlosigkeit sprechen: Das ist die Praxis. Auf der anderen Seite steht die offizielle Theorie der Bundesregierung, dass die Finanzkrisen in der EU in Zukunft über die enteigneten Guthaben der Bankkunden mitgelöst werden. Es ist offensichtlich, dass die politische Planung der einen nicht zu den Zwangsmassnahmen der anderen passen wird.

Fraglos werden Berlusconis Marionetten jetzt fordern, dass sie für das Niederhalten der Wähler des Populisten Beppe Grillo belohnt werden möchten, wie auch die Griechen schon Belohnung für ihre Regierung unter Ausschluss der Eurogegner Zuwendungen wollten. Europäische Politik ist ein dreckiges Geschäft, und für die normalen Menschen hat es schon seine Richtigkeit dass der Kontinent hier so dreckig zu Ende geht. Es könnte so schön sein, wenn sich jemand dafür verantwortlich fühlen würde, und man sich entschieden hätte, all die kleinen, festbetonierten Scheusslichkeiten bleiben zu lassen, die alles so trist und hoffnungslos erscheinen lassen. Aber das hat sich so entwickelt, da kann man jetzt nichts machen, und wer es sich leisten kann, geht zu sauberen, zugemauerten Stränden, zu denen kein afrikanischer Flüchtling mit Fälschugen, kein pakistanischer Schirmverkäufer und kein Jugendlicher, der einem die Koffer tragen will, Zutritt hat.

Seit jeher helfen Mauern beim Abschotten der Oligarchien gegen die Realität, manchmal, wie am Tegernsee oder an der Donau, dürfen sie unsichtbar sein, weil es allen gut geht und alle Nichtanwohner am Montag wieder in München arbeiten müssen, und manchmal ist es wie in Sizilien, wo die einen Wenigen die eine Bucht einmauern und die anderen Vielen die nächste Bucht bekommen, die sie dann ruinieren dürfen. Die Sonne scheint für alle, aber damit sind die Gemeinsamkeiten auch schon wieder vorbei. Solange die Mehrheiten den Eindruck haben, in diesem System trotzdem zu profitieren, werden sie es stützen, und Geld beiseite legen, um sich wie die Reichen gegen die anderen einzumauern. Europa, das zeigt sich in Italien erneut, möchte von Deutschland nicht das Sparen gelernt bekommen; und den Deutschen wiederum macht beim Einmauern keiner so schnell etwas vor. So ein ungleicher Kontinent kann lange stabil sein, wenn man die Mauern nur hoch genug macht und dafür sorgt, dass die Falschen davor bleiben müssen.

HINWEIS:

Die richtigen Debatten gibt es aufgrund technischer Schwierigkeiten im Komentarblog, wo dieser Beitrag ebenfalls zu finden ist.