Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Das Radiomädchen und der Anzugreinigungsmann

Schlucken, Kind.
Meine Grossmutter

Und wie immer hatte sie natürlich recht, wenn sie das sagte: Schlucken, Kind. Nicht aufregen, schlucken. Meine Grossmutter sagte nie „Sei still“ und auch nicht „Sei stad“ und auch nicht das, was Grossmütter in Norddeutschland mit gespitzten Lippen zu sagen pflegen: „Andere sind für uns kein Massstab“. Sie sagte einfach nur schlucken, und als guter Enkel habe ich das natürlich gemacht, selbst wenn mir die ein oder andere Bemerkung auf der Zunge gelegen wäre. Meine Grossmutter hätte natürlich auch etwas sagen können, und tat es vielleicht. Später. Aber nicht in der Öffentlichkeit. Da schluckt man.

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Das mit dem Schlucken jedoch ist nicht ganz so leicht, wenn einem diverse Lasten des Alltags zwar immer abgenommen wurden und Brötchen stets da waren, man sich aber seine Gemälde selbst verdienen muss – und zwar mit Erzählungen über Umstände, die einem in durchaus privilegierter Stellung, von oben herab, an diesem Land auffallen, das vermutlich etwas mehr „meines“ als „unseres“ ist. Und es ist ja nicht so, dass man wirklich nur von einem freudigen Ort zum nächsten durch arkadische Landschaften eilt. Wenn ein Bild im Umkreis von, sagen wir mal 200 Kilometer steht, und mit der Post verschickt werden müsste, fahre ich natürlich hin und hole es direkt ab. Das ist auch nicht teurer als der Spezialversand, schont das Gemälde und den Postboten, und ausserdem sind das immer nette Gelegenheiten, sich mit Menschen auszutauschen. Allerdings hat es der Schöpfung gefallen, zwischen mein Jesuitencollegium an der Donau und das feine Isarhochufer, an dem letzte Woche goldene Sonnenstrahlen leckten, die graue Stadt München zu legen. München wiederum besteht aus zwei Opern, diversen Museen, einigen ganz hübschen Strassen dazwischen und ganz viel Stadt aussenrum, die sich wie Kalk an einem Heizstab am Mittleren Ring festgesetzt hat.

Da muss man durch, wenn man sich kulturell verdient machen und das asamzeitliche Gemälde neben die heimische Asamkirche bringen möchte. Man sieht dort Unmengen von anspruchsloser Gebrauchsarchitektur, die keinem Gott, sondern nur dem Profit und der Verräumung von Massen heiligt, man sieht Baustellen, Verkehr und Grünflächen, denen man nach zwei Dekaden Einzelhaft in einer fensterlosen Zelle vielleicht etwas abgewinnen kann. Und man sieht enorm viel Werbung, die bei uns wie in allen besseren Vierteln inzwischen weitgehend ausgerottet ist. Und da gibt es dann so Momente, da muss man wirklich schlucken. Hier etwa.

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Das ist eine Aktion eines Radiosenders, bei dem man bei erfolgreicher Durchführung irgendwelcher Gewinnspiele ein Monat mietfrei leben kann, weil der Sender das bezahlt.

Ich mein, ich lebe nicht in München, ich fahre dort nur durch, aber das ist schon ganz schön diskriminierend, nimmt das Plakat doch selbstverständlich an, die Betrachter würden Miete zahlen, also keine eigene Wohnung besitzen, und für so eine kleine Gabe derartig erfreut reagieren. Ich weiss aus eigener Anschauung, wie es ist, wenn solche Mieten eingehen, da freut sich bei uns niemand, das ist halt so. Niemand reisst hier die Augen auf und sprudelt über vor Glück. Man bekäme bei uns das Gschau, wenn man sich mit den Kontoauszügen so aufführen würde. Das schluckt man einfach hinunter, es ist, wie es ist, das gehört sich so und das muss in der Klassengesellschaft auch so sein: Das Leben ist schon ganz gut.

Aber kann es auch so schlecht sein, dass man sich von derartigen Plakaten und ihrem Inhalt angesprochen fühlt und denkt, so möchte man auch sein? Und das alles, um nach einem Monat wieder selber zahlen zu müssen. Man liest im Moment viele Klagen über schlechte Rollenbilder beim Bachelor, bei Fünfzig Schattierungen und dem nächsten Topmodell – aber scheinbar niemand stört sich an der Einordnung bei den besitzlosen Schichten, die schon einem dudelnden Radiosender dankbar sein müssen.

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Ich höre Bayern 4 Klassik, aber meine Gedanken gehen zu jenem anderen Plakat, das ich erst kürzlich im Gärtnerplatzviertel sah, einer Ecke der Stadt, die unter massivem „Aufwertungsdruck“ steht – so schreiben es zumindest klagend die Kollegen der Münchner Presse. Andere empfinden das als Werbung für die Wohnlage, wollen auch zu den Gewinnern gehören, und bewerben sich darum, hier mieten zu dürfen. Es kann sein, dass man bei so einer Werbung mit Gewinnertyp schlucken, viel schlucken muss, aber das Schlimme ist: So sieht eben auch die Realität aus. Das ist genau der Typus, der sich hier um die Mietwohnungen anstellt, die untere Mittelklasse der Funktionsträger, aufstiegswillig, erfolgsorientiert und bereit, für die richtige Adresse auf der Visitenkarte ordentlich zu zahlen. Einmal musste ich hier per Inserat vermieten, einmal ging es nicht über Beziehungen: Das meldete sich genau dieses Publikum. Im ersten Satz steht schon Stellung und Gehalt. Man will weg vom Mittleren Ring, wo jeder wohnt, hin zu den Vierteln, wo die wohnen, die nicht jeder sind. Aber vermutlich würden sie auch so jubeln, falls ihnen jemand dann einen Monat die Miete finanziert.

Ich verpasse im Grau der Häuser und Gedanken die Ausfahrt nach Pullach, fahre über die Isar und nehme den Umweg durch Grünwald und reizende Villen in Kauf, um dann weiter südlich im strahlenden Sonnenschein bei Höllriegelskreuth den Fluss erneut zu überqueren. Sol lucet omnibus kann auch nur sagen, wer die bevorzugte Wohnlage im Münchner Süden nicht kennt. Gut zusammenpassen würden sie ja, das Radiomädchen und der Anzugreinigungsmann, Doppelverdiener wären sie und das Fernziel würde hier liegen, wo man dazu übergeht, die alten, verschwenderischen Villen mit ihren Treppenhäusern und Walmdächern abzureissen, und Mehrfamilienhäuser zu bauen, die dem gleichen Zweck wie der raumoptimierte Architekturbrei am mittleren Ring huldigen. Würden sie eine Wohnung bekommen, dann würde sie auch die Augen so aufreissen und er die Faust ballen. Geschafft. Und nach etwas Suchen finde ich auch die Villa oberhalb der Isar, wo das Gemälde auf mich wartet.

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Es ist eine stete Frage der christlichen Ikonographie – besonders in bürgerlichen Kreisen, die sich ihren Weg an die Spitze unter Lösung von der Kirche und ihren Normen selbst bahnen mussten – warum der Mensch über Jahrhunderte gern Abbildungen von Glauben und Gehorsam und Leid angeschaut hat. Die grossen Themen des Christentums sind Unterwerfung und Schmerz und die dadurch erreichte Verklärung, und das mag uns heute seltsam erscheinen. Ich kaufe so etwas aus kunsthistorischem Interesse, und weil in meiner Küche noch Platz ist. Ich muss mir keine Gedanken darüber machen, was einmal sein wird, wenn ich umziehen müsste, weil es eine abhängige Beschäftigung oder eine andere Mietwohnung verlangt; das sind eben die kleinen Vorteile, die man hat. Ich mag es, wenn meine Bilder auf Betrachter etwas schräg wirken.

Aber keines davon ist so schräg wie die Ikonographie der Moderne und der Werbebotschaften, wo das Seelenheil und alles Glück von einem Anruf eines Dudelfunks oder einem sauberen Anzug abzuhängen scheint. Man empfindet das als normal. Man wird davon offensichtlich angesprochen, und es ist der Horizont der Empfindungen. Keine Erlösung, keine ewige Glückseligkeit, kein angenehmes Jenseits. Ein Monat mietfrei, bevor es ans Weiterzahlen geht, und eine saubere Berufskleidung, die bald wieder in die Wäsche muss. Das ist die Ikonographie der Gegenwart, und da nimmt es dann auch nicht wunder, wenn, relativ dazu, die Ikonographie der Vergangenheit mit ihrem ewigen Anspruch heute auch nicht mehr wert ist, als ein bald unmoderner Anzug oder ein vergessener Monat ohne Miete.