Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Helikoptereltern zwischen Fahrradhelm und Bruchlandung

Hier kommt Kurt, ohne Helm und ohne Gurt
Frank Zander – für B. aus B.,  seinen Sohn und den Singer

Uno, dos, tres, natürlich fragt sich das ganze Land, wie man Kinder so erzieht, dass es ihnen später einmal besser geht. Fraglos ist “besser“ ein Lebensumfeld, in dem Zwänge wie Arbeit und Erwerbsleben für viele nur optional sind – bereichernd, sicher, aber das wäre doch nicht nötig. Ich zum Beispiel schreibe nichtswürdige Texte über sozial Fragwürdige am Tegernsee und damit in einem Landkreis, dessen Millionärsdichte höher als die Hartz-IV-Dichte woanders ist. Es geht uns besser und wenn das Kind anderer Leute ebenfalls besser leben soll, so kann man sich hier einiges bei der Erziehung abschauen. Zum Beispiel beim sonntäglichen Sport.

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Dieser Hügel hier heisst “Osterberg“ und findet sich gleich links hinter der Mangfall, am Beginn des Tegernseer Tales. Vom See bis zum Gipfel sind es rund 90 Meter, und derer 40 verteilen sich auf eine Alm, die abzulichten mir vom Arbeitoderwasmanhaltsonenntsplatz aus möglich ist. Im Sommer stehen hier die Kühe, im Winter dagegen lernen die Kinder hier die allerersten Grundlagen des Umgangs mit Schnee: Andere einseifen, Schneemann bauen, den Berg hinunterrutschen, rodeln und sogar Stürze mit den Skiern. Egal ob Wochenende oder werktags, hier herrscht bei Schnee immer buntes Treiben, Kinder jauchzen, gottverdammte Schadmünchner parken mit ihren dreckigen Leasing-SUVs die Strasse zu, dass kein Bentley mehr durchpasst und Grosseltern freuen sich, dass alles wie früher ist.

Wichtig ist es natürlich, dass dem Nachwuchs nichts passiert. Und passieren kann hier viel, denn schon der nächste Berg ist dann voller Wald und engen Schneisen, die erste Skipiste beherbergt schon Skicross-WM-Läufe, und die Krankenhäuser wissen, dass mit dem Schnee auch Menschen fallen und sich alle nur möglichen Knochen brechen, wenn sie ungebremst in den Bergwald abfliegen. Das ist hier am Osterberg natürlich anders. Niemand könnte einen Rodelhang für Kinder besser erfinden. Er ist fast komplett baumfrei, bietet oben ein schönes Panorama über den ganzen Tegernsee, und das Geländeprofil ist absolut kindersicher. Vom Plateau aus geht es erst sacht bergab, dann wird es steil und schnell, aber bevor zu schnell wird, wird der Berg in einer langezogenen Kurve flacher.

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Das heisst, die Kinder auf den Rodeln und Schlitten und Bobs erreichen eine relativ hohe Geschwindigkeit, die sie jauchzen lässt. Aber es wird nie zu schnell. Es ist wie das Leben der Vermögenden: Gut, aber auch kontrolliert, absehbar und sicher. Sorglos. Es ist ein wirklich sorgloses Vergnügen. Kinder bekommen hier einen Vorgeschmack auf das, was ihnen das Leben zu Füssen legen wird: Viel Spass, der sich lange hinziehen wird. Und Eltern, die ihnen jetzt den Rodel hoch schleppen und in einigen Jahren auch das Auto und die Wohnung kaufen. Alles ist sicher, alles ist gut, und wenn Sie nun denken, das sind aber Helikoptereltern – dann haben Sie recht. Aber anders, als Sie glauben. Denn dieser schöne, lange, gerade Hang hat durch ebensolche Helikoptereltern vom Tegernsee aufgeschüttet an der Stelle, wo es besonders steil und schnell ist, eine Rampe, die steil in den Himmel zeigt.

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Was Sie hier sehen, sind die Eltern eines gerade abhebenden Helikopters. Dieses Luftgefährt, das im übrigen keinerlei Helm oder sonstige Schutzkleidung trägt, hat es auf einem schwer steuerbaren und harten Plastikrutscherl also hierher geschafft und überwindet unter Ausnutzung der Physik bis in etwa ein Meter Höhe die Schwerkraft, bevor es sich dann mit aller Wucht in den Boden rammt. So einen Aufschlag höre ich bis zu mir auf die Terrasse, selbst wenn die Eltern nicht johlen würden. Aufgrund der systemimmanenten Instabilität – etwa wie bei einem modernen Kampfflugzeug oder einem Hubschrauber – erfolgt der weitere Bewegungsablauf in einer Wolke aus Schnee mit einem Überschlag, noch einem Überschlag und noch einem Überschlag.

Und die Eltern sitzen daneben und machen Bilder.

So ist das in besseren Kreisen; Als mein Vater das Skifahren lernte, hat er ein ganzes Cafe abgeräumt, mir hat mein Onkel einen Schubs in den Bergwald gegeben, und es erfüllt mein Herz mit Wärme zu sehen, dass es neben der Genration Fahrradhelm auch noch eine Generation Bruchlandung gibt. Und zwar nicht nur dann, wenn die Eltern ihre Kinder eine Sekunde allein lassen, sondern mit Billigung und extra steiler Rampe in den blauen Winterhimmel hinein. Ich wohne hier seit einigen Jahren, immer sind hier Rampen, dauernd kracht etwas zu Boden – und noch nie sah ich einen Sanitäter. Ich selbst mache da übrigens nur nicht mit, weil mir auch im höheren Alter schmale, vereiste Rennpisten mit engen Kurven im Bergwald mehr Lebensfreude als nur so eine Rampe geben. Man wird nie zu alt, um harten Sex Spass mit der Schwerkraft zu haben.

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Aber ich denke, dass Kinder dort drüben etwas Wichtiges lernen: Dass man sich selbst in Gefahr bringen kann, dass man öfters mal die Kontrolle verliert – aber dass es danach weiter geht. Man wird aufstehen, den Schnee abschütteln, und es nochmal versuchen. Das ist so eine Haltung, die ich von Kindern aus meinem Umfeld oft kenne: Eine gewisse Sorglosigkeit dem Leben gegenüber. Das weitgehende Fehlen der Zukunftsangst. Ich lese, während es draussen kracht und schreit, Europa 1925 des britischen und vermögenden Reiseschriftstellers Robert Byron, der sich mit seinen Freunden, ohne zu wissen, worauf er sich einlässt, auf eine Reise nach Athen über Deutschland und Italien begibt. Dauernd geht etwas schief, die Technik versagt, Zöllner werden rabiat und es könnte immer schlimm enden – aber die Protagonisten haben eine unerschütterliche Zuversicht in das Kommende. Und ich denke, diese Zuversicht können Kinder erwerben, wenn sie ganz fest anschieben, damit sie später möglichst hoch fliegen.

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Was aus der umsorgten, watteverpackten Generation Fahrradhelm wird? Vielleicht voll aware Menschenfreunde, die für alles und jeden Safe Spaces fordern. Kontrollfreaks wie ihre Eltern. Schwanzeinzieher, wenn dann jemand kommt, der sich einen Dreck um ihre Regeln kümmert, und dann lieber kulturelles Verständnis fordern, auch wenn es längst um alles geht. Die Leute, die immer die neueste Alarmanlage haben und trotzdem schlecht schlafen. Reichtum ist vererbbar, aber Ängste sind es auch.

Und falls sich da drüben doch mal ein Kind etwas brechen sollte, ist es halt Bekanntschaft mit Herrn Darwin. Individuell tragisch. Aber angesichts der biologischen Prädestination der Eltern unter Verzicht auf Pille und Kondom genetisch ersetzbar. Wir haben ohnehin eine historisch einzigartige Überlebensquote bei minimalen Risiken und weltweit führender medizinischer Versorgung. Ein paar blaue Flecken, die ich selbst auch überlebt habe und jedes Jahr überlebe, erscheinen mir ein geringer Preis für das richtige Bewusstsein dem Leben gegenüber zu sein. Der Zeitgeist sieht das anders und fordert natürlich Radhelme und Vermögenssteuern und Empathie für Leute, die uns nicht vorgestellt wurden. Auch so kann man schon bei den Kleinsten Klassen erzeugen. Die einen wissen, wie man fliegt und purzelt. Die anderen wissen, dass man immer aufpassen muss. Die einen sehen die Sonne und die anderen den Lichtschutzfaktor. Die einen sehen die Berge und die anderen, wie man in Bayern so schön sagt, mit dem Ofenrohr ins Gebirg.

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Also, wenn da eine Rampe ist. Drüber. Mit Gebrüll.