Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Ziegen, Folter, Migration – alles eine Frage der Moral

Die Wahrheit brütet den Hass.
Pietro Aretino

Es gibt weltbewegende Entwicklungen, die gross beginnen und dann stark nachlassen: Das ehedem prächtik, kriegsluesternde und gar gyerige Sultanat der Tuercken ist auf einen rechtsbeibestandenen Erdogan gekommen, bei dem es allein der Respekt vor Frauen verbietet, von einem Klageweib zu sprechen. Das Christentum begann als charmante jüdische Sekte mit Verständnis für Ehebruch – ecce! wenngleich nicht mit Vierbeinern, sondern nur unter Menschen – und wurde zur moralinsauren Zwangsreligion. Und die wunderschöne Hetäre und erste Feministin Phryne hätte es sich wohl auch nicht träumen lassen, was für eine nicht normschöne, sexfeindliche Gruppe sich heute mit heftig schlankgephotoshopten Profilbildern über fehlende Binnen-Is und den Umstand beschwert, dass man zum Verkauf von Waren dann doch lieber auf wirklich schöne Menschen ohne galligen Gesichtsausdruck zurückgreift.

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Wir Journalisten scheitern dagegen nicht an unserer Vergangenheit: Unser Ahnherr hiess Pietro Aretino und gilt gleichermassen als Erfinder der modernen Bildillustration, des Clickbaits, der Pornographie, der geschmierten Lügenpresse, der Revolverblätterei, bezahlter PR-Schleichwerbung, Tendenzschmiere und, wenn es sich mal ergab und keiner zahlen wollte, auch Journalismus. Seinen Namen verdankt er dem Umstand, dass sein Vater nur Schuster war und er einen hübscheren Namen brauchte – so nannte er sich eben Pietro Aretino, Peter aus Arezzo. Ich verstehe das und heisse Don Alphonso. Don! Alphonso.

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Und wie es sich für Aretinos Jünger und umfassenden Nachfahren gehört, habe ich diesmal Italien nicht bereist, ohne seiner Heimatstadt die Aufwartung zu machen. Hier auf diesem Platz hat Pietro Aretino gelästert und bei Waschweibern jene Schimpfwörter gelernt, die er später in den Kurtisanengesprächen zum Weltkulturgut erhob, hier lernte er die Sitten der Armen und die Laster der Reichen kennen, hier ist die Stadt, die für einen Feuerkopf wie ihn bald viel zu klein war und die er verlassen hat, um sein Glück dort zu suchen, wo das Geld und das kostenlose Mahl lockte. Pietro Aretino ist eben wie ein Autor eines modernen Jugendportals von Spiegel Online gewesen – nur konnte er auch noch schreiben, hatte Geist und Verstand, wollte wirklich gut leben und hätte für den modernen Moralismus, unter dessen Joch und für einen Armendöner man in Hamburg und Berlin dreimal täglich Kutschera, Seehofer, Kelle und alle Klassenkameraden mit schönem Haus und Familie zu verfluchen hat, nur Spott und Verachtung übrig. Und vielleicht einen abgenagten Knochen.

Von einer Ziege.

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Und so lange sich andere nicht auch auf alte Grösse zurück besinnen, muss mir keiner einen Vorwurf machen, wenn ich auch nicht viel besser als der Stifter meiner Religion bin. Ich sitze also auf der Piazza in Arezzo, schaue mir die bislang noch selten anzutreffenden, hier aber sehr hübschen Japaner an, und verdaue eine übermässige Portion Trüffel mit etwas Pasta, ohne mir auch nur einen Gedanken über das Elend der Welt zu machen. Ich sitze hier, weil es schön ist. Und weil die Franziskanerkirche von Arezzo nicht einfach so besucht werden kann. Nur 25 Menschen dürfen für 30 Minuten hinein. Am besten ist es, man reserviert vorher im Internet. Jetzt ist noch Vorsaison, jetzt bekommt man noch Karten, wenn man an der Kasse nachfragt, und sich eine, anderthalb Stunden gedulden kann. Denn die Franziskanerkirche von Arezzo beherbergt im Chor eines der Hauptwerke der abendländischen Kunst: Die Legenden vom wahren Kreuz, gemalt vom Renaissancekünstler Piero della Francesca.

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Und deshalb ist immer nur einer kleinen Gruppe der Zutritt zum ansonsten eher schmucklosen Raum gestattet. Es ist eine echte Franziskanerkirche, fast eine Scheune, und die Augen müssen sich beim Durchschreiten erst an die Dunkelheit nach dem gleissenden Licht auf der Piazza gewöhnen. Dann tritt im Chor, hinter dem ohnehin schon spektakulären Kreuz eines Cimabue-Zeitgenossen, die Malerei von della Francesca hervor.

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Erzählt wird, gut sichtbar im gesamten Hauptchor der Kirche, die Geschichte des Holzes, aus dem das Kreuz Christi bestand. Der Legenda Aurea zufolge stammt der Baum dafür aus dem Paradies, das Holz wurde schon von der Königin von Saba verehrt, dann im 4. Jahrhundert von der heiligen Helena wieder entdeckt, später von den heidnischen Sassaniden verschleppt und letztlich doch wieder von der Christenheit erobert. Piero della Francesca nutzt die bewegte Geschichte, um seinen damals revolutionären Ansatz der perspektivischen Malerei umzusetzen, und verbindet äusserst brutale Schlachtszenen mit phantastischen Bildern schöner Frauen, wie hier der Königin von Saba und ihres Gefolges.

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Eine Szene wird in der Kunstgeschichte aber gern übersehen: Links an der Rückwand des Chores und daher vom Kirchenschiff und den Gläubigen aus bestens zu erkennen, ist eine Folterszene. Als die heilige Helena, die Mutter von Kaiser Constantin, in Jerusalem nach dem echten Kreuz Christi sucht, weigern sich die Juden, ihr zu erzählen, wo das Kreuz ist. Weshalb Helena laut Legende droht, sie alle verbrennen zu lassen, und mit Folterungen beginnt: Sieben Tage lässt sie die Juden in einer trockenen Grube hungern und dursten. Dann werden sie heraus geholt und verraten den Fundort des Kreuzes.

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Sehen Sie, ich glaube an Pietro Aretino. Ich bin vermutlich kein moralisch guter Mensch und flexibel in meinen Ansichten. Ich lerne gern dazu. Ich bin Zyniker, und manche mögen das nicht und schreiben schlimme Dinge über mich. Aber obwohl ich nach meinem bisweilen turbulenten Dasein etwas abgehärtet bin, stehe ich doch staunend vor diesem Bild. Da sind sich also Auftraggeber, Kirche, Maler und Gemeinde einig, dass sie so eine Folterszene haben wollen. Sie alle, liebe Leser, werden gelernt haben, dass die Franziskaner eher “die Guten“, sind, aber um 1450 ist in ihrem Chor diese Malerei, die zeigt, wie man mit jenen umgeht, die nicht auf Linie sind. Eine Woche in Israel in einer Grube ohne Nahrung, das ist fraglos brutale Folter. Piero della Francesca malt also den Juden am Seil mit einem leidenden Gesicht.

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Und den Folterer, der ihn bei den Haaren packt und den Kopf hochreisst, mit dem leichten Lächeln im Wissen, dass diese Methode funktioniert hat. Dass sie den Fundort des Kreuzes erfahren und eine wichtige Reliquie gefunden wird. Dieser Mann macht alles richtig und weiss, dass er die einzig richtige Stellung im grossen Heilsplan hat.

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Man darf nicht den Fehler machen, die Malerei der Frühreinassance mit unserem Wissen des Antisemitismus zu betrachten. Man muss das abstrahieren. Aber auch dann ist es noch ein bemerkenswertes Beispiel für fraglos höchste Kunst bei einer inneren Einstellung, die den meisten Zeitgenossen heute als klar falsch gelten dürfte. Wir sind heute von der Verwerflichkeit des Treibens überzeugt, aber die Gemeinde war damals der absoluten Überzeugung, dass es richtig war, so zu handeln. Deshalb kommt mir, erlauben Sie mir bitte diese Bemerkung, auch immer die Trüffelpasta hoch, wenn ich etwas von “christlichem Abendland“ höre. Das hier ist eines der wichtigsten Kunstwerke des Abendlandes, und es ist moralisch nicht weitab von Dachau und den Baukränen, an denen im Iran Homosexuelle und andere Abweichler aufgehängt werden.

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Man tut so etwas eigentlich nicht. Es gehört sich nicht. Es ist unhöflich. Piero della Francescas Meisterwerk sollte den Aufgeklärten da eine Mahnung sein. Etwa, dass man andere heute nicht mit dem gleichen moralischen Imperativ alle in eine braune Grube werfen sollte, weil sie nicht der Meinung sind, dass das Heil des neuen wahren Kreuzes in einer Politik der offenen Grenzen zu finden sei. Für den, der mittelalterlichen Aberglauben ablehnt, ist das Fresco ein dezenter Hinweis, dass vielleicht nicht alle ausgegrenzt werden sollten, die nicht an eine neue Legenda Aurea vom rentenzahlenden Facharbeiter und vom gelösten demographischen Problem glauben wollen, und verleugnen, dass am Ende alle Brüder sein werden und keinesfalls Pariser und Brüsseler Zustände drohen. Die migrationsmoralpolitische Überheblichkeit unter dem Gefolge der Kanzlerin ist dagegen gar nicht fen von der Überzegung des moralisch Richtigen, die man im Chor von Arezzo sehen kann. Das ging schon damals nicht ohne die exklusiv richtige Moral und heute erst recht nicht. Wahrer Vernichtungswillen gegen Andersdenkende braucht die moralische Komponente wie die Atombombe das Plutonium. Der Zweck heiligt die Mittel. Manchmal bekommt man dafür das Ritterkreuz, 72 Jungfrauen, einen schönen Platz im Kirchenchor, oder eine Kolumne.

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Langfristig bekommt man jedoch, das möchte ich als Jünger von Pietro Aretino anfügen, das höhnische Gelächter späterer Generationen, die aus dem Schaden etwas klüger wurden. Man sollte Piero della Francescas Meisterwerk unbedingt anschauen. Und als Dessert danach Pietro Aretinos Kurtisanengespräche lesen. Da ist die ganze Weisheit und der Charme, die Offenheit und die Lebensfreude, und obendrein ist es ein Meisterwerk der frauenemanzipatorischen Literatur, ehrlich und sexpositiv. Es wird alles offen besprochen und argumentiert, ohne Denkverbote und falsche Scham.

Nur über die einzig richtige Moral und Ziegen findet sich nichts darin.