Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Enteignet die Jugend

Das ist der alte Albert. Ich wollte ein wenig mit ihm spielen, da hat er mir den Arm abgebissen.
James Bond – Leben und sterben lassen

Ich mag Feigenbäume und ihren Geruch. Seit ein paar Wochen weiss ich, dass ein Feigenbaum in vier Jahren vom Setzling zu einem zwei Meter hohen Gewächs werden kann – sogar in einer verstopften Dachrinne, wenn es im schönen Ort Moglia in meiner Zweitheimat Italien ist. Moglia ist nicht weit weg von Mantua, und ich besuche den Ort jedes Jahr, Man muss Moglia nicht kennen, es ist ein kleines, unbedeutendes Landstädtchen auf der rechten Seite des Po. Aber ich kenne da ein paar Leute, so wie Berliner Autorinnen, die ihren Lebensunterhalt vor allem durch öffentliche Förderungen und mässig besuchte Lesungen staatlich finanzierter Institutionen bestreiten, weil ihre Bücher sich allein zu schlecht verkaufen – so wie diese Autorinnen auch Leute in London, Paris und Budapest kennen. Mit denen sie lachen, sich austauschen und am europäischen Gedanken arbeiten.

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Bei mir ist es eben Moglia. Da arbeite ich an dem, was ich als Europa kenne. Wenn ich einmal sterbe und mein Leben an mir vorbeizieht, dann wird auch Moglia darin vorkommen. Moglia und ein altes Paar auf dem Sportplatz. Ein alter, lahmer Mann im Rollstuhl, der von seiner Frau durch die Hitze geschoben wird. Junge Berliner Autorinnen, die jetzt weinen, weil alte Nationalisten ihnen dieses Europa egoistisch verbauen, werden sich an den blauen Himmel und das Lachen ihrer Freunde an der Moldau erinnern, bei mir ist es halt der Sportplatz, die gnadenlos brennende Sonne und das alte Ehepaar, das nirgendwo mehr hingehen kann.

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Denn Moglia ist Zona Rossa. Erdbebengebiet. Und wenn 2012 das Haus unbewohnbar wurde und man kein Geld hatte, landete man in Moglia eben auf dem zum Zeltplatz umfunktionierten Sportplatz. Meine Freunde trugen hier Pappnasen, Einweghandschuhe und Clownsgewänder, um die obdachlosen, schmutzigen, traumatisierten Kinder von armen Italienern, Pakistanis, Indern und Afrikanern zum Lachen zu bringen. Das war Europa 2012. Lachen für die Kinder, aber für das alte Ehepaar gab es nicht mal einen Hut in der sengenden Sonne. Moglia war unbewohnbar.

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In Moglia schossen Sandgeysire aus dem Boden, in die Keller und Garagen, und der Druck der Erde zerrieb die Ziegelsteine zwischen den Betonpfeilern.

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In Moglia lebten die Menschen in den Garagen und in Wohnwägen, während die Stadtverwaltung an den Türen Zettel anbrachte, dass hier niemand mehr eintreten darf, wo eben noch für Solidität geworben wurde.

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In Moglia kamen sie Beamten mit den Zetteln nicht aus dem Rathaus, denn das Rathaus war genauso betroffen und sieht heute so aus.

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Und die Lehrer gehen auch heute, vier Jahre später nicht in die Schule, denn die Schule ist baufällig.

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Allerdings gibt es in Moglia im Moment auch nicht sonderlich viele Kinder. Das hier ist alles, was von einem sozialen Wohnungsbau übrig blieb, den ansonsten junge Familien bewohnen würden.

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Das ist kein ungewohnter Anblick für meine Bekannten in Moglia. Man musste sich entscheiden und oft war es eben der Abrissbagger. Auf den freien Flächen wächst heute das Gras.

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Und was noch steht, steht oft jetzt noch wie vor vier Jahren mit den Holzgerüsten da. Ich könnte in Moglia auch die Bilder des letzten Jahres nehmen, so wenig ist hier passiert.

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Wobei, die Plane vor der Kirche war letztes Jahr noch nicht so eingerissen. Die Tauben Moglias nisten jetzt wieder im Inneren und fäkalieren auf das, was von der Barockausstattung noch da ist.

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Das Gemeindeleben findet dagegen in einer modernen Halle daneben statt. An der Tür sind Einladungen, die Ferien ausserhalb der Zona Rossa in kirchlichen Einrichtungen zu verbringen. Man muss das verstehen – Kinder, die im Jahr 2010 geboren wurden, kennen hier nichts anderes als Zerstörung. Generation Z, Z wie Zona Rossa.

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Und es wird auch lange so bleiben. Man sammelt kräftig für die Kirche, damit die Heiligen wieder umziehen können. Es kommt schon was zusammen. Langsam.

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Meine Bekannten in Moglia, mitten in Europa, sind tapfere Menschen, und geben nicht einfach auf. Draussen liegen die Trümmer, aber die Heiligen sind für die Prozession geputzt.

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Sie sagen, wenn ihre Kinder dann junge Erwachsene sind, soll alles so sein wie vor dem verdammten Mai 2012, als der Sand aus dem Boden schoss und die Kirchenmauern zerbrachen.

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Manchmal erinnern in Moglia auch nur ein paar schlecht verputzte Risse an diese Zeit. Das Leben geht weiter.

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Wenn es nicht auf den Stand vom Mai 2012 eingefroren ist. Weil kein Geld da ist, weil Italien sparen muss, weil das in Europa verpflichtend ist, und die Leute sich selbst überlassen bleiben.

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Die Alten schaffen das nicht mehr. Die Rente ist so niedrig, dass man weder die Schäden stemmen noch in Berlin oder Budapest eine Latte trinken und dann winseln kann, wie gemein die alten Nationalisten doch sind, und die Jugend etwas tun sollte, und wenn sie die Bewerbung für das nächste Stipendium geschrieben haben, machen sie auch eine Aktion vor dem Kanzleramt oder einen Artikel in der taz.

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Und so geht in Moglia einfach vieles vor die Hunde. Mitten in Europa, in diesen aufregenden Zeiten, da man in Berlin und Paris vermutlich längst vergessen hat, was da in der Poebene passiert ist, und wie meine Bekannten in der Nacht aus ihren knirschenden, über Generationen ersparten Häusern liefen.

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Wenn sie nach Deutschland zum Arbeiten gehen, weil es hier gerade eher schwierig ist, haben sie bei mir einen Anlaufpunkt nördlich der Alpen. Die Alten fragen die Mädchen nicht, ob sie wirklich eine Stelle als Bedienung haben. Oder etwas anderes tun.

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So ist das bei meinen Bekannten in Moglia, mitten in Europa, wo es eben auch bei der Erhaltung und Förderung von Kultur Prioritäten gibt. Nachwuchsautorinnen mit ungelesenen Büchern können nicht mit Nichts in zwei Stunden nach London fliegen, um dort jene zu treffen, die in entsetzten Handyvideos erkennen, dass es mit den Auslandssemestern in Paris, Rom oder an der Cote schwieriger werden könnte.

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Das sind nämlich die wahren Dramen in diesem Europa. Damit bekommt man viel Platz in den Medien, mit den Klagen über die egoistischen Alten, die das angerichtet haben. Das ist eine sehr deutsche Debatte, wo es vielen Rentnern durchaus gut geht. Nur, solche Rentner kenne ich in Moglia nicht.

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In Moglia kommt eben einiges zusammen. Und es ist nicht nur Moglia, es gibt viele solche Orte zwischen Ferrara, Reggio und Mantua. Moglia ist, verglichen mit ein paar Orten weiter im Süden, sogar noch glimpflich davon gekommen. Es ist das Normale in der Zona Rossa im Alten Europa.

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Es kann natürlich sein, dass man demnächst in diesem Europa den Pass ab und zu herzeigen muss. Das ist unbequem. In Moglia leben Menschen, die seit vier Jahren ihr Haus nicht mehr betreten können. Und das wird für immer so bleiben.

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Und natürlich könnte man sich im Kulturbetrieb auch einmal Gedanken machen, ob es wirklich nötig ist, dass Jungautorinnen vor Gerichten und dem Kanzleramt herum rennen und Schilder in Kameras halten und auf ihren Telefonen Hashtags für Europa verbreiten, während Staaten und Stiftungen dafür zahlen. Arbeit schändet meine italienischen Bekannten nicht, wenn sie über den Brenner gehen, also könnte man doch auch unsere aufgeregten, empörten, nun in ihrer absoluten Reisefreiheit etwas limitierten Kulturträger richtig arbeiten lassen, dann reisen sie auch weniger, und das Geld hierher bringen.

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Alles nur eine Frage der Prioritäten, als wahres Zeichen der europäischen Verbundenheit. Das würde Europa wirklich fördern. Ich weiss von meinen Bekannten, dass sie sich hier verraten und verkauft fühlen.

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Sie haben erlebt, dass man sich allenfalls auf die Familie verlassen kann. Brüssel ist vom nächsten Flughafen auch nur zwei Stunden entfernt, aber für die Wahrnehmung der Menschen auf einem anderen Planeten.

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Ach so, ja, die Feige. Die Feige wächst hier in Moglia, im Gegensatz zur viel beschworenen Europäischen Verbrüderung und Einigung, und sie wächst prächtig. In der Regenrinne an der Kirchenfassade hat sic sich verwurzelt und wächst nun empor, solange sie eben Halt zwischen den zerstörten Mauerfugen findet.

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Man kann da nicht hoch, das Gebäude ist immer noch einsturzgefährdet, und so wächst sie eben, während das Regenwasser durch die Mauern läuft. Der Mensch baut etwas auf, die Zeit und die Natur zerstören es. Menschen sehen Orte wachsen und Gebäude fallen, und am Ende sind wir alle tot und bald auch vergessen.

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Und die Jungen von heute werden dann die Alten sein, die die neuen Jungen nicht verstehen, wenn sie an ihrer Latte saugen und Flüge nach Madrid und Mailand buchen, wo alte Menschen hoffentlich ordentlichere Schuhe tragen. Es wird ihnen wichtig erscheinen, international vernetzt zu sein, und Bekannte zu haben, die genauso mobil und privilegiert sind, und sich vehement wehren würden, bezeichnete man sie gar als faule Maden im Kulturbetriebsspeck. So eine Frechheit von Nazis! Schliesslich engagieren sie sich vor dem Kanzleramt.

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An einem Werktag um 11 Uhr und ärgern sich etwas, dass trotz der grossen Mobilisierung so wenige Leute kommen. Fast nur andere aus Stiftungen und Trägervereinen und der Szene. Dabei sind günstige Mieten doch so wichtig. Da muss die Jugend um ihre Rechte und drei Altbauzimmer mit Stuck kämpfen, in einem Szenebezirk, während draussen im Dunkeln Knaben aus Osteuropa Kunden aus höheren Etagen der Gesellschaft mit Kristallen in Tütchen erwarten.

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Moglia ist nur zum Eingewöhnen in die harte Realität des Alten Europas und seinen Alten, die nicht mehr gehen können und sich nichts mehr erwarten. Am blauen Himmel, so blau wie vor vier Jahren, als der Sand aus dem Boden kam, sind die Kondensstreifen derer, die die Metropolen des Kontinents verbinden, und nicht weit entfernt rauscht der deutsche Tourist über die Autobahn zu den Sandstränden bei Rimini, um die europäische Einheit nach seinem Gusto zu vollenden.

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Das Alte Europa ist immer eine Frage der Perspektive. Das hier, im Sucher der Kamera, ist meine.