Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

TMT: Vom Zweifel abfallen.

Bitte nicht um weniger Last, sondern um einen stärkeren Rücken.
Theresa von Avila

Um 7 wollte ich los, um halb 10 bin ich dann so weit, und steige endlich aufs Rad, für die grosse Bewährungsprobe. Es fängt also schon mal gut an, denn zweieinhalb Stunden Verspätung sind in meiner Familie beim Aufbruch in den Urlaub rekordverdächtige Zeiten, und bei mir hat noch kein Urlaubsplan den Kontakt mit der frühstückenden, Kommentare beantwortenden Realität überlebt. Ausserdem prahle erzähle ich dem Nachbarn noch ausgiebig von meinen kommenden Heldentaten, die sich dadurch etwas verspäten. Dann fahre ich los.

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Ich komme bis hier her, etwa 4 Kilometer weit, dann will ich auf das grosse Kettenblatt schalten. Es passiert nichts. Ich versuche es nochmal. Nichts. Nochmal. Die Kette bleibt unbeirrt auf dem mittleren Kettenblatt. Gestern Abend ging das noch alles. Ich steige ab, drehe an ein paar Schrauben und ziehe die Schelle, die den Umwerfer hält, ganz fest. Immerhin, sage ich mir, scheitere ich in schöner Umgebung, wenn das wirklich das Ende sein sollte. Es gibt keinen Schaden, wo nicht ein Nutzen dabei ist, und der Tegernsee ist doch auch schön. Und es haben sich so viele Zweifel in der Nacht aufgestaut, dass ich die Idee, in zwei Tagen über vier Pässe nach Meran zu fahren, gar nicht mehr so gut finde. Vor allem nicht bei den vorhergesagten 36 Grad im Inntal. Ich probiere es nochmal. Es macht Krk und kurz Rtrtrt, und dann sitzt die Kette da, wo sie sitzen soll. Ich bin wieder im Geschäft, mit meinem billigen sub500challenge-ProTeam aus dem Hause Viner.

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Drei Stunden später bin ich in Maurach am Achensee und betrete lächelnd die Wallfahrtskirche St. Notburga. Es ist eine der hübschesten Rokoko-Kirchen des gesamten Alpenraums, und eine Nonne fragt mich, wo ich herkomme und wo ich hin will. Als sie von meinem Plan hört, bietet sie mir erst mal ein Schnapserl an, und ich glaube, das sagt viel über die Gastfreundschaft der Menschen – und die Sinnhaftigkeit meiner Idee. Aber ich lehne als Nichttrinker dankend ab und erzähle ihr

Die Geschichte der alten, korpulenten Frau im Tigerkleid auf dem pinken Elektrorollmobil, worin ich von allen Zweifeln abfalle.

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Das war nämlich in Tegernsee. In Tegernsee gibt es am Schloss eine Ampel, und die war rot, und zwang mich zum anhalten. Um mich herum kochte schon die Luft, der Schweiss floss in Strömen, und der sonst so silbrig-leichte Sauerstoff der Region klebte wie zäher Brei in den Lungen. Menschen sahen mich und mein Gepäck und schüttelten den Kopf. Die Ampel wäre eine gute Gelegenheit gewesen, den Plan zu überdenken, umzukehren, das Rad in den Roadster zu werfen und mit dem Auto zu fahren – man sieht es auf den Bildern ja nicht, ob das Rad aus der Gluthitze am Achenpass oder vom Beifahrersitz des Roadsters kommt, und den Rest erfinde ich einfach dazu. Das hätte ein zweifelnder Autor sich hier in Tegernsee denken können. Statt dessen surrte eine korpulente Frau in Tigerkleid über die Strasse. Vielleicht 40 25 15 Jahre älter als ich. Die Haare waren passend zum Kleid gefärbt, und der Wagen war pink. Knallpink. So rollte sie an den Tegernsee-Arkaden vorbei Richtung See, Srrrrrrrrrrr.

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Da bin ich von allen Zweifeln abgefallen. Denn ich habe meine gesunden, dicken Beine, ich habe Kraft in den Oberschenkeln und einen breiten Rücken, an dem schon viele Messer zerbrochen sind. Ich sitze auf einem billig zusammengekauften Rad und habe einen weiten, harten, heissen Weg vor mir, aber was da auch immer kommen mag: Ich werde nicht als alter, reicher Mensch in so einem pinken Elektrodings in Tegernsee vor mich hinrumpeln. Ich bin nicht reich genug für all den Goldschmuck, und ich wohne nur in Gmund, ich muss richtig arbeiten für mein Geld, und aus Tegernseer Sicht fährt da ein Irrer durch die Hitze, während seine Kollegen bei der Präsentation des neuen Panamera in Rottach luxuriös im Stau stehen.

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Aber ich habe meine Beine, die Kraft und alle Herrlichkeit der Natur um mich. Ich kann das tun. Ich kann selbst entscheiden. Es hängt nur an mir allein. Niemand muss mir ein Auto borgen, das ich mir nicht leisten könnte, niemand bezahlt mir ein pinkes Rollmobil. Jeder Meter, jeder Pass, alles Glück, die Höhen zu bezwingen und am See entlang Richtung Italien zu radeln, das alles liegt in mir selbst. Und sollte ich nur die leiseste Schwäche zeigen, denke ich an das, was der reichen Frau am Tegernsee in ihrem Tigerkleid noch bleibt. Dann geht es wieder. Dann fliege ich weiter.

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Das erzähle ich der Nonne, die in St.Notburga Führungen macht, und sie erzählt mir, dass die Gemeinschaft, die hier betet, gerade wieder viel Zulauf hat, und sie erklärt mir die alten und neuen Denkmäler, die die Menschen zum Innehalten bewegen sollen. Der Leichnam der heiligen Notburga wurde von einem Ochsengespann mit eisernem Willen, ohne auf die Menschen zu hören, hier hinauf an an den Achensee gezogen, eines der vielen Wunder der Beschützerin der Mägde, und wie so ein Ochs möchte auch ich sein, wenn es weiter geht. Stur und unaufhaltsam. Ich fülle die Flaschen am Friedhofsbrunnen nach. Es ist gutes Wasser.

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Der Weg in die Hölle ist bekanntlich mit Freuden gepflastert, und genauso ist es am Achensee, wo es zuerst lange und schnell hinunter ins Inntal geht. Ich lasse die Bremsen los, und ganz ehrlich: So heiß ist es gar nicht. Wirklich. Im Bergwald, mit 80 Sachen, ist es fast ein wenig kühl auf dem Rad. So schlimm ist es also gar nicht, denke ich mir, als ich um Serpentinen jage und über lange Geraden viel ungebremster zu Tale donnere, als ich mir das eigentlich, vorsichtig wie ich bin, vorgenommen habe. Aber es läuft ja so schön. Bis zum Inn. Wo es wirklich 36 Grad hat, und keinen Bergwaldschatten. Wo ich dauernd daran denke, dass es anderen im pinken Rollmobil noch schlechter geht, auch wenn man es kaum glauben mag.

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Vor dem Hitzschlag suche ich den Kirchhof von Schwaz und eine schattige Bank auf. Ich esse, was ich essen kann, und starre eine Stunde in die flirrende Luft. Es geht den Umständen entsprechend gut. Ich weiss, dass ich es bis nach Hall schaffen würde, wo wir bei meiner ersten Alpenüberquerung genächtigt haben. Diesmal jedoch ist da am Ende ein langer, brutaler Anstieg. Nichts ist mir als schlimmer in Erinnerung geblieben als der Weg hinauf zum Patscher Sattel. Ich könnte auch in einem pinken Rollmobil – da stehe ich auch schon wieder auf meinen Beinen und klettere aufs Rad, und schinde mich weiter nach Hall und hinauf nach Ampass.

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Es geht. Irgendwie. Ich krieche von Schatten zu Schatten, ich mache Pausen, ich schaue nicht auf die Uhr, und zurück kann ich auch nicht mehr. Es ist ungefähr so steil, wie ich das in übler Erinnerung habe, und es ist heisser als damals, aber ich habe viel trainiert. Ich fühle mich nach einem Tag auf dem Rad in Ampass so mies, wie ich mich früher hier frisch aufgestanden und gefrühstigt fühlte. Das ist Erfolg: Der Moment, da es einem richtig dreckig geht, kommt genauso. Aber er kommt später.

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Ich könnte natürlich auch ein Tigerkleid tragen und – schon drehen sich die Pedale frisch weiter, schon schwindet die nächste Rampe unter den ochsensturen Tritten, während die Sonne auf der salzig-nassen, echsenhaft funkelnden Haut glänzt. Es kommt Aldrans, es kommt Lans, es kommt ein Schild “Patsch 4km“.

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Dann taucht auf der Bergflanke der Wallfahrtsort Heiligwasser auf. Unterhalb davon ist mein Ziel, der Bergwald umfasst mich mit seinem Schatten, es wird etwas kühler, und ich sage mir: “Kette rechts!“. Ich will da nicht einfach vorfahren, ich will vorbrennen, ich will am Ziel so aussehen, als sei ich ein ganz Wilder, der bis zum letzten Zentimeter kämpft. Ich schalte. Ich betätige den Umwerfer. Es macht Krcks und dann Rtrtrtrtrtrtrt. Etwas stimmt nicht. Ich halte an und steige ab. Der Umwerfer hängt schräg im Kettenblatt. Ganz locker. Die Umwerferschelle ist gebrochen. Wie bei einem 500-Eure-Kaufhausrad.

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Zum Glück ist der Grünwalder Hof schon in Sichtweite.

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Ich rolle vorsichtig hin. Ich erzähle an der Rezeption mein Leid und frage, ob vielleicht irgendwo ein Radgeschäft ist. Es gibt welche. Unten in Innsbruck, 8 Kilometer von hier, und 600 Meter weiter unten. Und die haben morgen alle zu, weil Sonntag ist. Das heisst, dass ich die vorderen Kettenblätter nicht werde schalten können. Ich kann nicht zurück, weil es sinnlos ist. Ich kann weiter, weil ein verfluchter, 1mm dicker Dorn am Rad vom Racing Team Dorn – ja, ich habe auch gelacht – aus seiner Halterung gebrochen ist.

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Draussen baut sich eine Gewitterfront über dem Ötztal auf, und ich lasse mir ein Bad einlaufen. Auf der alten Kommode liegt mein Fiasko und wird bis zum jüngsten Tag nicht mehr den Umwerfer befestigen. Ich habe immer noch meine Beine, aber der pinkfarbene Rollwagen in Tegernsee fährt jetzt besser als mein Rad.

Ist das das Ende von Tegernsee-Meran-Tegernsee?

Wird die Hauptfigur nun verzweifelt die Familie anrufen, damit sie kommt und ihn abholt?

Oder kauft Don Alphonso einfach ein anderes Rad und fährt damit weiter?

Schalten Sie auch morgen wieder ein, wenn Sie Don Alphonso sagen hören wollen: “Es gab noch kein Problem in der Menschheitsgeschichte, das sich nicht mit brutaler Gewalt lösen liess, und es gibt nur einen Weg, das herauszufinden!“