Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

TMT: Das Dynamit der Tugend

See me ride out of the sunset on your color TV screen

Ich stand während der letzten Wochen vor unbegreiflichen Rätseln. Ich sah den Neue-Rechte-Pranger und dachte mir, so mangelklug, dass sie die CDU darin aufführen, können die doch gar nicht sein. Ich sah den Hasskommentar gegen Thomas de Maiziere und dachte mir, wer zum Teufel stellt sich nach so einer Nummer mit und will anderen dann etwas über Hatespeech sagen? Ich sah eine hamasfreundliche, Judenhass vertreibende Organisation in einem nationalen Komitee, das uns erzählen will, dass Hass keine Meinung sei. Und ich beschäftige mich mit einem sogenannten Prostitutionsschutzgesetz, von dem mir noch jede Sexarbeiterin sagte, dass es sie entweder ihrer Existenzgrundlage beraubt oder sie in die Arme von Grossbordellen treiben wird – und das alles mit dem Segen eines Hauses, das die Quote in Aufsichtsräten durchgesetzt hat, eine Oktoberfestlügnerin protegiert und Parties bezahlt, während Alleinerziehende jenseits von schrägen Ideen immer noch schauen können, wo sie bleiben.

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Wie, fragte ich mich, kommt man auf solche Ideen.

Seit heute morgen weiss ich es, denn heute morgen habe ich ein Hotel gebucht, und dann noch eines. Das erste Hotel ist genau 100 Kilometer und 1000 Höhenmeter Aufstieg vom Tegernsee entfernt, hinter dem Achenpass und dem Inntal genau oben auf dem Patscher Sattel. Das nächste Hotel ist in Meran, nochmal 105 Kilometer weiter, und dazwischen liegen die Ellbögenstrecke, der Brenner, Sterzing und der Jaufenpass – zusammen rund 1700 Höhenmeter. Dazu habe ich also genau zwei Tage Zeit, und wer so dumm ist, sich so etwas zuzumuten, sollte vielleicht auch etwas Verständnis haben, wenn Frau Schwesig anderen, deren Dasein ihr egal sein dürfte, ein noch erheblich übleres Schicksal mit Kontrollwahn, Grundrechtseinschränkung, Bürokratieirrsinn und Stigmatisierung zumutet. Ich schade allenfalls mir selbst und nicht der Gesellschaft, aber als ich heute morgen reservierte, dachte ich mir: Das willst du doch eigentlich gar nicht. Du hast da gerade einen ganz dummen Plan. Denken Politiker so etwas auch manchmal, oder schalten die einfach den inneren Trump ein?

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Wäre ich ehrlich, was ich selten bin, weil ich generell betrachtet eine Kunstfigur bin, und öfters mit dem Politikbetrieb in Berührung komme, und der zusätzlich abfärbt, würde ich an dieser Stelle die Wahrheit gestehen: Dass ich vor ein paar Wochen bei jemanden, den ich nicht sonderlich schätze, die Visualisierung seiner grossen Radtour sah: 90 km und 30 Höhenmeter im Berliner Umland. Dabei beklagte er – deutlich jünger als ich – sich vehement, dass er nun erledigt sei, und ich wollte schon tippen: Quäl dich du Sau, wenn da zwei Pässe drin sind, darfst Du jammern, vorher schweig, Schwächling! Man ahnt jetzt vielleicht, warum ich die Route mit 100km-Abschnitten und jeweils zwei Pässen ausgesucht habe, aber ich habe bei der Politik auch gelernt, dass man seinen miesen Charakter besser hinter hohen Werten versteckt: Der Wunsch nach dem Verbot angeblich sexistischer Werbung kommt schliesslich auch von einer staatlich geförderten “NGO“, die den Justizminister gern beraten und in Berlin mitspielen würde. Der sportliche Ehrgeiz, andere zu Brei zu fahren, könnte mir gar als Diskriminierung schwabbeliger, ungewaschener Hipster mit Fusselbärten ausgelegt werden, und deshalb möchte ich als Begründung lieber die Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt meiner Bemühungen stellen, so dass eventuelle Seitenhiebe im Glanze in meiner Tugendgloriole kaum auffallen, so wie etwas Crystal Meth ja auch keiner grünen Karriere dauerhaft schadet.

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Es ist nämlich so, dass das durchschnittliche Rad in Deutschland für 557 Euro verkauft wird. Das ist nicht eben viel, und das sind auch Räder, bei denen sich Reparatur selten lohnt. Sie landen dann bei Abwrackaktionen, wo man für ein altes Rad noch 50 Euro Rabatt bekommt, oder gleich im Sperrmüll, weil irgendwelche Ersatzteile kaum mehr erhältlich sind. Mit einem Rad dieser Preisklasse kommt man vielleicht mit viel Zeit den Jaufenpass hinauf, aber ob ich mich mit so etwas, 90 km/h schnell, hinunter ins Passeier Tal stürzen würde – nun, ich denke, bei aller ministrablen Dummheit, die mir innewohnt: So doof bin ich dann auch nicht. Sprich, der Durchschnitt kauft ein Rad, das ihn von Höherem ausschliesst und nach wenigen Jahren ersetzt wird. Und wieder Geld kostet.

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Deshalb fahre ich auch diesmal mit einem Rad, das weniger als einer dieser Drahtesel kostet. Es handelt sich dabei um ein für 256€ ersteigertes Viner Pro Team. Viner – eine Verkürzung des Namens der Rahmenbaulegende VIviano NERozzi – ist eine der besten italienischen Marken. Der Rahmen ist eine Spezialanfertigung für einen Radhändler aus Augsburg, doch der stieg bald um auf einen Carbonrahmen. Der Rahmen, zusammengesetzt aus hochwertigem Deda SC61.10-Aluminium und Carbonteilen, war früher enorm teuer, aber heute steht Alu bei Käufern nicht mehr hoch im Kurs. Das Rad hatte die durchaus ordentliche Campagnolo Veloce Gruppe und ganz billige Räder. Ich habe eine kleine 3-fach-Kurbel drangeschraubt (Shimano XTR, mit Pedalen 50 Euro), einen leichten Carbonlenker (FRM für 30 Euro), eine anderen Sattel (Prologo für 30 Euro) und vor allem leichtere Laufräder.

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Die sind von 4ZA aus Belgien und eigentlich für den Querfeldeinsport. Damit wird das ganze Rad 1,3 Kilo leichter, aber morgen wird es wieder mit 9 Kilo Gepäck und mir beladen. Die Laufräder sind für Fahrer bis 95 Kilo zugelassen, also bin ich noch im grellrotgelb grünen Bereich. Der ganze Spass hat also gut 100 Euro weniger als das Durchschnittsrad gekostet, und fast nur die Hälfte eines Ikearades. Es hat eine 24-29-Untersetzung für die steilsten Berge und brutal packende Bremsen, es wiegt nackt nur um die 8 Kilo und fährt sich so schön, dass es fast als sexuelle Dienstleistung deklariert werden müsste. Das alles mit gebrauchten, nachhaltigen Teilen – keine Cruise Missile, kein strategischer Langstreckenbomber musste dafür eingeschmolzen werden. Das ist doch schön! So grün muss man erst mal leben und radeln.

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Ach so, und – es ist fast vollständig in der EU gefertigt, während das Durchschnittsrad längst komplett aus China kommt. Manche fühlten sich sicher diskriminiert, als ich Sie mit 250 von der linken Spur geschubst habe, als ich es von Augsburg an den Tegernsee brachte: Das fühlt sich nur so an, in Wirklichkeit ist der Container auf dem Frachtschiff aus China voll mit Wegwerfrädern die Sünde, und nicht meine 20 Liter auf 100 Kilometer. Rein und silbern blinkend steht es da, mein Spezialaufbau für kleines Geld, unschuldig und ohne Sünde ausser der Sache mit dem Osterberg hinunter, weil da steht zwar Tempo 30 aber es geht innerorts 70, und dass ich die Pedelecgruppe am See beim Überholen mit „Schleichdseich, Elegdrosoacha“ angebrüllt habe, war auch nicht ganz nett. Aber ansonsten ist es ein schöner Gegenentwurf zu unserer ignoranten Wegwerfgesellschaft, die stets das Neue braucht und das Alte zu schätzen verlernt hat. Das habe ich doch jetzt schön gesagt.

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Das also ist die #sub500challenge und #TMT: Mit einem selbst umgebauten Billigrad geht es morgen früh vom Tegernsee nach Österreich durch die Sommerhitze, über den Alpenhauptkamm nach Meran, und dann irgendwie zurück an den Tegernsee. Da ginge übrigens auch ein Bus, aber vielleicht sitze ich demnächst in Meran und buche das Hotel in Sterzing, während ich mir denke: Das mit dem 50 Kilometer langen Anstieg von Bozen zum Penser Joch ist eine noch dümmere Idee als der Jaufenpass oder ein Abo der taz. Keine Frage, ich werde viele Tugenden signalisieren müssen, um das öffentlich zu meinem Ruhme darzustellen.

Wie so eine Kahanestiftung. Es wird ganz, ganz schrecklich. Warum fahre ich nicht mit dem Auto Aber wenn Sie mich sehen, winken Sie, ich winke dann huldvoll zurück. Also, wenn ich den Arm noch heben kann.