Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Coppa Parma in Zeiten des Terrors

Der Deutsche, bieder, fromm und stark, beschirmt die heil’ge Landesmark.
Die Wacht am Rhein

Nein, sagt sie, ich brauche nichts. Aber ein paar Kaminwurzen wären doch sicher nicht ganz falsch, oder, hake ich nach, und bekomme die Erlaubnis, welche mitzubringen, normale und Hirsch natürlich auch. Hirsch gibt es dort oft, droben am Ortler ist das Rotwild eine Landplage und muss reduziert werden, und deshalb gibt es im Vinschgau so viel Hirschfleisch. Coppa Parma wäre übrigens ein typisch italienisches Weihnachtsessen, lasse ich einfliessen und das, findet sie, reicht zusammen mit dem Speck und der Salsiccia picante, von der ich am besten zwei mitbringen soll, dann wirklich. Soll ich nicht noch, hebe ich an, werde aber darauf hingewiesen, dass sie das alles auch noch essen muss, und so schnell geht das nicht. Da gebe ich ihr mit Worten recht, verspreche hoch und heilig es dabei zu belassen, und schreibe in meinen Gedanken noch “Negroni” und “Bergsalami” auf die Einkaufsliste. Versprechen, hoch und speziell heilig, bringt bei Atheisten wenig.

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Denn obwohl der Tag gerade umkehrt, die schlimmste Finsternis vorüber ist und alles besser werden sollte, hat eine Visitation ihres Kühlschranks erhebliche Fehlbestände bei italienischen Spezialitäten ergeben, und zu allem sonstigen Elend dieser Tage machen der Hofladen im Moos, dem Waldinger seine Schmalzbäckerei und die Frau Dauer auf dem Wochenmarkt nunmehr Winterpause. Die dauert einen Monat, und wenn ich das nicht geschickt plane, muss ich in den Supermarkt und bei minderwertigen Waren zuschauen, wie sich die Jugend mit TK-Pizza, Fertigsuppe und Wodka eindeckt. Das ist wiederum Gift für meine seelische Gesundheit und führt zu unausgeglichenen Beiträgen, weshalb ich an den sonnigen Tegernsee gefahren bin, um wie Hannibal den Alpenhauptkamm zu überqueren und dortselbst zu plündern und zu brandschatzen.

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Nachdem ich dieses Jahr aber schon oft den Brenner passiert habe, fahre ich über den Achensee und den Reschenpass nach Glurns. Das ist ein kleiner Ort ganz hinten im Vinschgau, mit einem berühmten Marillenkuchen und einer kleinen, aber sehr gute Metzgerei, die vermutlich auch schon so aussah, als man befürchtete, Terroristen der RAF könnten hier auf ihrem Weg zu ihren Kollegen der Roten Brigarden in Mailand vorbei kommen. Damals, ich kann mich noch erinnern, waren Weihnachtsmärkte Weihnachtsmärkte, Grenzen Grenzen und Carabinieri hatten Maschinenpistolen umhängen, was als völlig normal galt: Es waren schlimme Zeiten in Italien mit rotem und rechten Terror, aber Glurns sieht noch aus wie in meiner Kindheit, und die Metzgerei auch. Aber davor biege ich noch, solange es hell ist, rechts ab.

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Und besuche ein Weltkulturerbe der Menschheit. Hier hinten, in diesem abgelegenen Tal, gibt es drei der bedeutendsten karolingischen Wandmalereien: St. Prokulus in Naturns, St. Benedikt in Mals und St. Johann in Müstair. St. Johann wiederum ist in seiner Grösse und Pracht das beste Beispielt für den spätantiken Glanz in der Zeit von Karl, den manche den Grossen nennen. Und über den man geteilter Meinung sein kann: Ich privat denke eher, dass das fränkische Reich mehr der letzte zynische Aasgeier und weniger die Fortschreibung der Antike gewesen ist – und es ist auch kein Wunder, dass sich eine Konstruktion wie die Brüsseler EU gern auf so einen Despoten und Schlächter als Vordenker der Einigung Europas beruft. Das ändert natürlich nichts an der kunstgeschichtlichen Bedeutung von Müstair, und wenn man den Kirchenraum betritt – und sich die kitschige gotische Decke wegdenkt – verschwinden 1240 Jahre, und man sieht in diesem vergessenen Zipfel von Graubünden, was im frühen Mittelalter die Besucher sicher beeindruckt hat.

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Nun komme ich viel herum und sehe häufig bedeutende Denkmäler. Es gibt einige, die massiv und modern gesichert sind, und in denen dauernd jemand aufpasst, damit man nichts anstellt. Und es gibt andere, speziell jetzt im Winter, da sitzt irgendwo in einem Holzverschlag ein ältlicher Wächter und geht hinaus, wenn er bemerkt, dass man verbotenerweise photographieren will. Müstair ist einzigartig, man sieht dort etwas von einer Kultur, die man ansonsten nur schwer fassen kann, und es ist gross, beeindruckend, farbenprächtig und so, als wäre man inmitten eines jener karolingischen Prachtcodices aus Mondsee. In die Kirche führt eine kleine Doppeltür. Man macht die eine Tür auf und dann die andere, und schon ist man drin. Allein. Völlig allein, niemand ist da, kein anderer Besucher und kein Wärter. Ich bin hier öfters, ich weiss, wo man selbst das Licht einschaltet.

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Inzwischen haben sie Malereifragmente, die früher in Zürich im Museum ausgestellt wurden, zurückgebracht. Sie sind an der Stirnseite aufgehängt, und so spart man sich jetzt, wenn man alles sehen will, die Reise über den Alpenhauptkamm, vorbei an St. Gallen und hoch nach Davos, bevor es über die Einöde am Ofenpass hinunter in dieses kleine Val Müstair geht, das eigentlich geographisch Teil des Vinschgaus ist. Es ist eben etwas abgelegen hier, es kommen nicht viele Menschen durch, und ich bin, wie gesagt, ganz allein hier drinnen. Niemand macht sich Sorgen. Man lässt mich mit meinen Gedanken und meiner Bewunderung für die Kunst des Jahres 775 allein.

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Es wäre vielleicht anders, wenn die Seite, von der das Tal leicht zugänglich wäre, offen wäre. Das ist die Südtiroler Seite, und von dort aus kann man entweder über das Stilfser Joch fahren, wo all die Hirsche auf die Verwurstung warten. Oder durch das Tal. Da ist aber erst eine italienische Grenzstation, an der man halten muss, und 10 Meter weiter eine Schweizer Grenzstation, an der man ebenfalls halten muss. An beiden Stationen muss man seinen Pass vorzeigen. Wenn man hinein will, und wenn man wieder hinaus will. Gleich dahinter ist das Kloster St. Johann. In so einer Lage, mit der Kaserne nebenan und bewaffneter Polizei und Passkontrolle, kann man so ein Denkmal schon offen stehen lassen. Als ich im Frühjahr in Pisa war, standen dort überall Bewaffnete und Anti-Terror-Fahrzeuge.

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Ich will das nicht beurteilen. Es gibt einen gewissen Bedarf an Sicherheit, und irgendwo muss man den gewährleisten. Ich bin angesichts der gerade laufenden Flucht von Anis Amri überrascht, dass ich weder am Achenpass noch am Reschenpass Polizei gesehen habe. Amri kann, das wissen wir jetzt, offensichtlich ungehindert zumindest eine Grenze zu Frankreich und dann sicher die Grenze zu Italien überwinden, bis er bei einer Routinekontrolle erschossen wird. Irgendwann gibt es schon Sicherheit, wenn der Zufall in einem Industrievorort von Mailand mitspielt, zum Beispiel, oder eben nicht, wie auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche. Hier in Müstair hat man möglicherweise, sicher sogar, elektronische Überwachung im Kirchenraum, aber man kann einfach kommen, verweilen und gehen. Sofern man einreisen durfte. Daheim in Deutschland müssen Polizisten Weihnachtsfeiern kürzen, weil sie bei den Christmetten Präsenz zeigen.

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Ich bin Historiker. Ich glaube nicht an Heilspläne, weder durch eine Religion noch durch irgendwelche historische Zwangsläufigkeit, egal ob durch Klasse im Stalinismus, Blut und Boden wie im Faschismus oder die Auflösung von Saaten und Völkern durch Migration, was in der Ausführung der deutschen Willkommenskultur Elemente der anderen ideologischen Vorstellungen enthält – zum Bespiel ähneln unsere Erlösung versprechenden Betonblöcke christlichen Hochgräbern, russischem Konstruktivismus und der Siegfriedlinie gleichermassen. Ich glaube, dass der Abstand zwischen den menschlichen Möglichkeiten und dem menschlichen Versagen immer recht gross ist: Die Existenz des Abstands ist eine Konstante, ihr Umfang jedoch ist eine Variable, und Geschichtsschreibung besteht darin, ihre meist phänomenale Grösse zu ermessen. Es gibt Künstler, die an Wände Engel malen, den den Menschen aus dem Paradies vertreiben, und Salome, die Tochter des Herodes, die den Kopf von Johannes abschlagen lässt. Es gibt Leute, die an neu aufgestellte Betonblöcke “Danke Merkel” malen und andere, die auf Mobiltelefonen Hinrichtungen betrachten.

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Ich komme öfters angesichts von Kunst zur Ruhe, aber diesmal bleibe ich nicht lang, und fahre über die Grenze, meinen nicht gefälschten Reisepass vorzeigend, um in Glurns einzukaufen. Coppa Parma, Kaminwurzeln, Spinatknödel, Bergkäse, Dinkelnudeln, Wacholderkäse. Was man eben für einen langen Winter in den Bergen braucht, die sehr abgelegen sind, ganz natürliche Grenzen bilden, und von Menschen bewohnt werden, die angesichts ihrer Heimat so etwas wie Stolz und Achtung empfinden.

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So ist das also. Man muss nehmen, was man kriegen kann, solange es noch etwas gibt, und man dazu die Möglichkeit hat, in dieser besten aller möglichen Welten, die davon ausgeht, dass zu Weihnachten allerhand unschöne Meldungen untergehen, wie:

Die Hälfte aller Deutschen mit gesetzlicher Rente lauft auf die Grundsicherung im Alter zu, und es ist unklar, ob es dann noch Pfandflaschen geben wird, die man sammeln kann.

Die Neuigkeiten zu denen, “die noch nicht so lang hier sind”, entsprechen nicht der 2015er Hoffnung bei Zeit, SZ und Bundesregierung, sie könnten dereinst maßgeblich zu dieser Mindestsicherung beitragen.

Und der Median der deutschen Vermögen pro Haushalt ist sehr niedrig und profitiert auch nicht vom Immobilienboom, denn der erreicht zu wenige, um den Schnitt so zu heben, dass die Zahlen schön aussehen. Schön werden sie erst, wenn man Leute aus meiner Schicht und ihr durch den Wohnungsmangel gestiegenes Vermögen mit einrechnet – aber das sind nur Zahlen und ändert nichts an den realen Verhältnissen zwischen Oben und Unten. Und denen, die dafür zahlen.

Frohe Weihnachten, lieb Vaterland, magst ruhig sein, denn Ruhe ist weiterhin erste Bürgerpflicht.