Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die moralische Ungnade der spätesten Geburt

Erfindung ist nützlicher als die Wahrheit
Benito Mussolini

Mir geht seit einem Jahr ein Erlebnis durch den Kopf, das ich gern aufgeschrieben hätte, aber so richtig fand sich nie die Gelegenheit. Ich habe in der Eremitage von Bayreuth zwei ältere Herrn kennengelernt, Jahrgang 1926. Das war, wir erinnern uns, keine besonders gute Zeit, und sie sollte noch schlechter werden: Als die beiden 7 Jahre alt waren, übernahm die NSDAP die Macht im Deutschen Reich, und zusammen mit 120 anderen Jungen besuchten sie hier ein Gymnasium.

Daher gab es hier ein jährliches Klassentreffen, und obwohl dort noch Disziplin herrscht und jeder, der kommen kann, auch kommt, waren nur noch 10 in der Lage, dem Ruf zu folgen. Zwei davon also sassen auf einer Bank mit Blick auf die Wasserspiele, wir kamen ins plaudern. Ich erzählte, dass bei meinen Klassentreffen auch nicht mehr als 10 Anmeldungen vorlagen, der Rest schwänze, so haben sich die Zeiten geändert – und einer der beiden sagte dann, naja, es hätten ja auch nur 70 bei ihnen den Krieg überlebt.

Weil man sie nämlich 1944 nach einem Notabitur eingezogen und in die Wehrmacht gesteckt hätte, und damals sind von den 120 Abiturienten 50 gefallen, in Gefangenschaft gestorben oder anders ums Leben gekommen. Das Wasser plätscherte und lief über dicke Brüste der Nymphen herab, die neckisch mit Tritonen spielten, die Sonne schien, und da kam ich doch etwas ins Grübeln. Wer mit 7 Jahren unter die Herrschaft der Nationalsozialisten kam, der hat sie nicht gewählt. Der hatte auch bis zu seinem 18. Lebensjahr, praktisch gesehen, keine Chance, dem System zu entgehen, und wurde ebenso unvermeidlich zum Opfer der Einberufung, als der Krieg längst verloren war.

Neben mir sassen also zwei steinalte Männer, die damals einen Karabiner frisch von der Schulbank weg in die Hand gedrückt bekamen, um auf Amerikaner, Russen und Briten zu schiessen, und die schlechte Chancen hatten, das zu überleben. Also, jedenfalls deutlich schlechtere Chancen als ich im Flugzeug, das mich nach meinem Abitur in der alten BRD nach Kalifornien brachte, um ein Auto zu kaufen und die 8 Zylinder auszufahren. Da sassen wir, das Wasser plätscherte, und ich sagte mir das, was ich mir als Historiker oft sage:

Aus der Geschichte lernen heisst nicht, dass der eine die historische Wahrheit hat und alle anderen daraus lernen müssen. Aus der Geschichte lernen heisst, dass es viele Sichtweisen und Erfahrungen gibt, und das Erste und Wertvollste, was man daraus lernen muss, ist die Einsicht in die eigene begrenzte Beurteilungsfähigkeit. Wenn man das aus der Geschichte gelernt hat, ist man immun gegen das Übelste, das man aus der Geschichte lernen kann: Dem Irrglauben, man sei die Spitze der menschlichen Entwicklung, und könnte sich, um diese heilsgeschichtliche Position zu belegen, auf der eigenen, voreingenommenen Interpretation der Vergangenheit herum trampeln.

Die beiden Männer neben mir wurden später übrigens Lehrer, stiegen auf zum Direktor und Schulrat, und dienten Demokratie und Verfassung mit einer ganz anderen Hingabe als Hakenkreuz und Reichsadler. Das war damals eben so, die Generation, die Deutschland von den Naziherrschaft als Trümmerlandschaft erhielt, war die Generation der Wehrmacht und der Luftwaffenhelferinnen. Keiner von denen hatte 1933 Nazis oder Rechtsreaktionäre gewählt. Die Zeiten waren schlecht, sie haben mit der BRD etwas daraus gemacht, das – ich denke, das ist Konsens – besser war.

Natürlich mit ihrer Sicht der Dinge, und das schloss in weiten Teilen der Gesellschaft eine historisch fragwürdige Sicht der Wehrmacht mit ein. Von Helmut Schmidt, dessen Wehrmachtoffiziersbild gerade abgehängt wurde, gibt es ein Interview über den deutschen Herbst 1977, in dem er sich abfällig über Helmut Kohl äußert, und Franz Josef Strauss lobt: Kohl hatte keine Kriegserfahrung, während Strauss und Schmidt als Offiziere damals gewusst hätten, was nun zu tun sei, und die nötige Härte mitbrachten. Ob das Interview nun, da Baader und Meinhof langsam zu Popikonen gemacht werden, vielleicht auch in die Giftkammer des Staatsfunks kommen mag?

Es war ein weiter und harter Weg, die Verbrechen der Wehrmacht aufzuarbeiten und im gesellschaftlichen Bewusstsein zu verankern, nachdem man sich auch in den Parteien, die sich jetzt als Sieger der Debatte geben, jahrzehntelang genau davor gedrückt hat. Hitlers Generäle sind längst unter Erzielung hoher Pensionen tot, wir arbeiten uns an Wehrmachtsdevotionalien und den letzten Überlebenden ab. Es war lange Zeit eine hässliche Debatte, heute sind es kinderleichte Siege, und zu gern wüsste man, ob und wenn ja wer in Frau von der Leyens Familienalbum nun ebenfalls der Damnatio Memoriae zum Opfer gefallen ist.

Es ist jedenfalls immer ein Alarmzeichen, wenn ein Kampf gewonnen ist, und nun schlagartig alle bei den Siegern sein wollen: Das, was die Franzosen 1944/45 als Resistance de la derniere minute kennenlernen mussten, hat frappierende Ähnlichkeit mit dem dem neuen deutschen Antifaschismus, grad so, als wären CDU und CSU seit jeher führende Protagonisten der Aufklärungsarbeit gewesen, und hätten nie Vertreter auf den Begräbnissen von Wehrmachtsgrössen gehabt. Aus Relativierung wurde Abgrenzung, nur der wichtige Teil der eigenen Hinterfragung, der erscheint mir bei all den Internet- und Medienantifaschisten etwas schwach ausgeprägt.

Dabei erzählt die Geschichte leider sehr oft, dass nicht alles, was das absolut Böse bekämpfte, absolut gut sein muss, und Italiens Duce Mussolini zeigte mit seinem Schlingerkurs in Bezug auf Hitler mit Militäraufmärschen am Brenner und Alpenbefestigung gegen Deutschland, wie man das machen kann, ohne selbst jemals erfreulich gewesen zu sein. Immerhin, die strengen deutschen – und damit sehr identitär deutschen, weil der wahre, überzeugte Deutsche, der macht keine halben Sachen und lässt sich nicht von kleinlichen Bedenken aufhalten, wenn es um die Bekämpfung des Falschen geht – die strengen deutschen Kriterien ziehen hier südlich der Alpen noch nicht ganz. Mussolini, der nach erfolglosen Versuchen als sozialistischer Journalist zum faschistischer Diktator wurde, hatte nicht wie Hitler nur 6, sondern 18 Jahre relativer Ruhe im eigenen Land Zeit, die Orte mit einem immensen Bauprogramm mitunter futuristisch, meist aber neoklassizistisch zu prägen.

Und wer hier meint, wegen faschistischer Architektur die Augenbraue heben zu müssen, hat wahrhaft viel zu tun. Italien ist voll davon, das Regime hatte operettenhafte Züge und liebte es, die eigenen Ansprüche in Beton, Marmor und Ziegelstein abzubilden. Mitunter hat man Inschriften und Liktorenbündel entfernt. Der Rest steht da noch immer wie zu des Duces Zeiten, und Brescia, wo ich vorgestern war, hat davon einen ganzen Aufmarschplatz in der Stadt. Auf dem dröhnen die Motoren wie in den Träumen Marinettis.

Denn die Mille Miglia ist wieder in der Stadt, 1000 römische Meilen rasen alte Automobile durch Italien. Das Ereignis feiert 90. Geburtstag, und was könnte man da nicht alles zur eigenen moralischen Versicherung aufarbeiten. Den Todeskult durch Maschinen, den Futuristen feierten, der krankhafte Glaube an die technisierte Zukunft, die Neuinszenierung eines brandgefährlichen Rennens mit hohem Blutzoll als Bühne für den faschistischen Neuen Menschen. Mussolini schickte seinen eigenen Fahrer an den Start, auf Siegerbildern posieren dreckverschmierte Männer neben Schwarzhemden, und der Sieg galt als Frage der nationalen Ehre.

Weshalb auch die Deutschen noch in der Weimarer Republik mit Mercedes und dann, hocherfolgreich mit BMW dank ausgefeilter Aerodynamik, im III. Reich um Siege kämpften, wie dann auch nach 1948 erneut erfolgreich seitens der BRD mit Mercedes – und alle sind sie wieder in Brescia am Start. Natürlich ist das Kapitel vor dem 2. Weltkrieg geprägt von Idealen der damals Neuen Zeit, und heute sitzen die Menschen in einer vom Faschismus errichteten Loggia und schauen zu, wie sich Alfas und Fiats jener Tage mit laut brüllenden Motoren ein Duell liefern.

Die unangenehme Botschaft ist natürlich, dass unter Faschismus wie unter Demokratie, ohne Rücksicht auf die damit früher transportierten Ideale, die Menschen sich hinreissen lassen, mit Fahnen zu winken und – zumindest früher – ihre Favoriten lobten, das eine Land richtig und das andere falsch fanden, dafür auch dopten und betrogen, und was man eben so tut, wenn man am Ende als Gewinner verewigt werden will. Man hat inzwischen gelernt, das nationale Prestige anders auszudrücken, aber für wahrhaft kritische Geister bliebe viel, was hier zu bemängeln wäre. Auch jetzt, nachdem die Kanzlerin souverän von Oben nach Unten das eigentlich parteipolitisch gewünschte Ziel der Elektroautofizierung der Nation aufgegeben und der nationalen Industrie die Erlaubnis erteilt hat, noch lange weiter Verbrennungsmotoren zu bauen.

Denn natürlich ist das hier laut und dreckig, und auf den Strassen liegt Sand, sonst würden die Autos in den Kurven auf den öligen Ausscheidungen ihrer Vorgänger wegrutschen. Es ist ein unmodernes und archaisches Vergnügen: 1927 hielt man das noch für die Zukunft, heute würde man vermutlich eher 3km-Lastenradrennen in Berlin zur nächsten Kita organisieren, um die Fähigkeit zu demonstrieren, den Alltag nachhaltig zu meistern, mit veganem Siegerbankett und energetisch gereinigtem Sodawasser im Holzpokal. Was hier gefeiert wird, ist eine Fortbewegung, die absehbar in wenigen Jahrzehnten als verabscheuungswürdige Diktatur in unseren Städten gelten wird.

Man wird sich dann beweisen müssen, dass man besser ist, oder noch besser, das Optimum.. Und man wird Studien erwähnen, nach denen Zigtausende damals, in unserer Zeit, durch mehr Autoabgase ums Leben kamen. So schlimm war das, was manche damals sogar noch in Brescia feierten: Der reinste Massenmord. Ich kann allerdings nicht garantieren, dass ich dann brav auf einer Bank sitze und bedächtig dazu nicke, mit Blick auf ein trocken gelegtes Wasserspiel, weil wir das Süsswasser dann nicht verschwenden, sondern lieber nach Äthiopien spenden..

Vielleicht mache ich auch keck und dreist den Mund auf und erwähne – vorsichtig natürlich, man weiss dann schliesslich, wie das mit der Ermächtigung von Heiko Maas und seinem Zensurgesetz ausgegangen ist – dass es kein Zeichen besonderer Sicherheit ist, wenn man das Leben der Vorgänger schlecht redet, um sich selbst zu erhöhen. Wer das braucht, mit dessen Selbstsicherheit kann es nicht wirklich weit her sein. Kann es gar sein, dass ein paar Defizite des Optimums mit so einer Abgrenzung überdeckt werden sollen?

Auch Mussolini hat sich schließlich, wenn etwas in seinem perfekten Staat schief ging, über die althergebrachten Unarten seiner Landsleute und historisch bedingte Inkompetenz der Eliten beklagt. Man sieht also, für eine schlechte Tradition muss man noch nicht mal in der Wehrmacht gewesen sein. Und die Tradition des ungehemmten Hedonismus, die man damals, 2017 noch lebte, war gar nicht so schlecht wie ihr dann weit verbreiteter Ruf.

(Wie üblich bei der Mille Miglia und auf Wunsch der Leser sind hier alle motorpornographischen Bilder 1000 Pixel breit, ohne Rücksicht auf Datenvolumen)