Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Der Mindestlohn als Traditionenmord

Nach dem Willen der Politik soll die Generation Praktikum aussterben - aber mit ihr gehen auch beste Ausreden zugrunde, weshalb höhere Töcher und Söhne mit dem Ernst des Lebens noch etwas warten möchten.

Hauptsache, es schadet dem politischen Gegner.
Franz Josef Strauss

Andrea Nahles – bitte nicht gleich wegklicken! – ist Tochter eines Malermeisters, und insgesamt macht sie durchaus einen zielstrebigen und geradlinigen Eindruck; ob man die Richtung und ihre Art mag, ist natürlich eine andere Sache. Man kann sagen, dass sie sich durchgebissen hat, und aus ihrer Karriere eine bestimmte Lebensauffassung gewann: Die der hart arbeitenden Leute, die nicht mit dem Silberlöffel im Mund geboren wurden und es nie nach vorne schaffen, wenn sie sich dauernd ausbeuten, unterdrücken und schlecht behandeln lassen. Ich glaube wirklich, dass sie meint, was sie über das junge, bolognareformhalbgebildete Prekariat und den Mindestlohn sagt: „Ich beende das Modell der Generation Praktikum“. Was bedeutet: Für Praktika nach der Ausbildung gilt der gleiche Mindestlohn wie für Strassenreinigung, Geschirrspülen, Grabpfleger und eventuell sogar Lokaljournalismus.

Folglich bezeichnen die hysterische Wirtschaft und ihre Mietmäu Unterstützer das Praktikum in seiner bekannten Form als tot, und ich muss mit einstimmen: Denn natürlich ist es nett gewesen, für diverse Handlangertätigkeiten Praktikanten einzustellen, die wenig nutzen und noch weniger kosten, und zudem keinerlei Verpflichtungen nach sich zogen. Das ganze System erinnerte in seiner Spätphase ein wenig an die mittelalterliche Fronarbeit, zu der Massen der Bevölkerung von Adel und Kirche herangezogen wurden. Berichten zufolge haben sich die Untertanen dabei nicht gerade totgearbeitet, weshalb man in der Neuzeit von derartig sinnlosen Einrichtungen von selbst wieder abkam. Aber für die moderne Jugend gehörte es wohl irgendwie dazu, nach dem Studium nicht von Arbeitgebern umworben zu werden, sondern die Wahl zu haben, ob sie nun ein Praktikum oder einen Wurststand vor dem Einrichtungshaus machen wollen – so zumindest lautet die Legende dieser sich nun dem Ende zuneigenden Epoche einer verloren scheinenden Jugend. Der Wurststand brachte vermutlich mehr Geld für jene, die es brauchen, aber das Praktikum brachte den Nachweis, dass man nach dem Studium sehr wohl bereit war, etwas zu leisten, und diese Hingabe durch das willige Akzeptieren einer schlechte Bezahlung zum Ausdruck brachte. Das soll jetzt vorbei sein.

Nun ist das mit den Praktika ja so eine Sache – wer etwa mit einem frischen Studienabschluss in jenen Regionen lebt, in denen ich daheim bin, kann das Arbeitsamt nicht ohne das hohe Risiko einer Berufsvermittlung betreten. Es sind vielleicht nicht immer Traumberufe und die Bezahlung entspricht nicht immer dem, was in den Karrieremagazinen steht, und die Wohnorte haben keine Raves über drei Tage hinweg, aber Arbeit ist genug da. Wir haben hier Vollbeschäftigung und holen die Fachkräfte aus Italien und Spanien. Es gibt Akademien der grossen Arbeitgeber, die sogar nutzlose Orchideenstudenten wie mich schleunigst zu gut verdienenden Systemleistungsträgern umbauen würden, so ich denn bereit wäre, 37 Stunden pro Woche einer geregelten, auto- oder medikamentenverkaufenden Arbeit nachzugehen, in einem Büro ohne Stuck, Parkett, Kronleuchter und auch die Büromöbel sind da weder aus Mahagoni, noch haben sie Intarsien, und ich war da auch schon mal: Kein Rokokogemälde, nirgends. Man kann dort auch nicht sagen. Oh, ich habe gerade einen kreativen Aussetzer, ich bin mir sicher, wäre ich jetzt auf meiner Terrasse am Tegernsee, ginge es gleich besser als in dieser Gruft voller Büroleichen und Einsparpotenzialen.

Prinzipiell, mit ein wenig Flexibilität jedenfalls wäre es durchaus möglich, dem Zwang zur minderen Beschäftigung im Praktikum zu entgehen. Meine Lieblingskellnerin auf dem Neureuthhaus, jenem Gasthof mit Blick auf die Alpenkette – man ahnt es, ich schreibe nicht in einem modrigen Kreuzgang voller innerlich Gekündigter, sondern in Bergwaldluft – kommt aus Berlin und arbeitet gerne hier bei uns. Die üblichen Praktikantengeschichten kenne ich eigentlich nur aus grösseren Städten, und sie sind dort typisch, wo eine schlechte wirtschaftliche Lage mit vielen jungen Leuten zusammentrifft, die ihre besten Jahre nicht in jenen Käffern vergeuden wollten, wo man studiert, weil es sonst nichts zu tun gibt. Und hier wiederum habe ich, zumindest in Hinblick auf die Kinder der Besserverdienenden, schon den Eindruck, dass die Generation Praktikum nicht ganz ungelegen kam. Denn mit den Praktika liess sich durchaus begründen, warum man mit dem vollen Ernst des Daseins noch ein wenig warten musste.

Schliesslich stand es ja überall in den Medien, dass für Studienabgänger nur Praktika zur Verfügung standen. Und jeder kannte genug andere, die auch nichts Besseres bekamen. Immerhin bot ein Praktikum zumindest die Chance, doch noch in eine Firma zu gelangen. So eine prekäre Beschäftigung mag für die grosse Masse wirklich ein Akt der Selbstausbeutung gewesen sein, aber bei uns ist es eben so, dass die Eltern während des Studiums das Leben, das Auto und die Eigentumswohnung bezahlt haben – jede auch noch so kleine Praktikumsentschädigung zeigte, dass die Kinder nun anfangen, diesen Sockelbetrag zu reduzieren. Und dass sie sich wirklich Mühe geben, etwas in der grossen Stadt zu erreichen. Oft genug auch in Startups, die die Zukunft und vielleicht auch der Karriereturbo sein können, wenn man nur das Richtige erwischt. Idealerweise das, bei dem man nicht vor 11 Uhr anfangen muss und nebenbei auch noch an Promotionsplanüberlegungen basteln kann. Ein Praktikum war nicht gut und keine richtige Stelle, wie die Eltern sie erwartet hätten, aber es bewies: Es geht voran.

Bitte kein allgemeines Mitleid an dieser Stelle mit der absegnenden Finanzierungsstelle: Nicht alle Eltern hatten sich in ihrer Jugend alle Beine ausgerissen, um so schnell wie möglich den Ernst des Lebens zu erreichen. Früher gab es vor dem Studium die sinnlose Bundeswehr bei den Herren und oft eine sinnvolle Ausbildung bei den Damen, es gab keine Regelstudienzeiten und gute Gründe, warum 14 oder 16 Semester gar nicht selten waren. Rechnet man das alles zusammen, trat der volle Ernst des Lebens ohne Elterngrundversorgung oftmals auch nicht recht viel früher als heute ein, und bitte: Das war noch eine Zeit, als ein junger Arzt ein Arzt war, und keine ausgequetschte Zitrone auf einem Dienstplan, und ein Bankdirektor 40 Stunden pro Woche arbeitete. Und den Rest kein Mobiltelefon und keine Email hatte. Das junge Prekariat mag in anderen Schichten ganz schrecklich sein, wenn im Hintergrund kein Clan steht, der einen auffängt und bis zum genehmen Zeitpunkt trägt. Aber mit dem Ende der Generation Praktikum stehen all die jungen Kinder vor dem Problem, dass nun diese angenehmen Ausreden wirklich wegsterben, und der Ernst des Lebens in Büros und Kanzleien, unter alten Menschen und mit Attest, wenn man mal einen falschen Trip hatte, mit voller Härte zuschlägt.

Kein Wunder, dass sich jetzt so viele plötzlich für das Thema Crowdfunding interessieren, das man in etwa mit „Geld für irgendwas, das ich meist zu schreiben anfange, und das vielleicht später einmal kommt“ übersetzen kann. Auch da gibt es welche, die es ehrlich meinen. Aber ich kenne diese besseren Kinder, ich war ja auch so eines und finde: Eltern sollten die Phase des sanften Übergangs in das Berufsleben mannhaft selbst tragen und die Kosten für das Ende der Generation Praktikum nicht per Crowdfunding-Bettelei ihrer Kinder vergesellschaften. Auch finde ich es überhaupt nicht gut, wenn anstelle des Praktikums nun unbezahlte Senior-Advisor-Posten bei feministischen Blogprojekten treten oder was sonst den Leuten einfällt, damit sie nicht in der Arbeitsagentur Miesbach eine Festanstellung aufs Auge gedrückt bekommen. Und dortselbst vielleicht noch einen Partner finden, der es noch ernster meint und ihnen Druck macht, damit ihre eigenen Kinder es später einmal noch besser haben. Nicht so schnell, sagen sie sich heimlich, wir alle werden noch sehr lang leben und wieso sollte ich mit 25 bereits so gebunden sein, wenn ich doch morgen mal wieder für 6 Wochen bei dieser Twitteragentur anheuern kann und die bessere Espressomaschine haben sie da auch – bitte, wenigstens noch ein paar Wochen. Ich habe noch gar nicht meine Kontaktliste bei okcupid durch. Ich will leben und nicht jetzt schon sterben.

Wir am Tegernsee haben diese Geschichte vom Brandner Kaspar und dem ewigen Leben, der den Tod erst mit Kirschgeist betrunken macht und dann beim Kartenspiel abzieht, um sich noch viele Jahre auf der Erde zu erschleichen. Das Praktikum wurde Eltern mit ganz ähnlichen Gedanken verabreicht, um noch ein paar Jahre Jugend herauszuschlagen. Jetzt beendet es die geradlinige Frau Nahles und glaubt, sie täte damit Gutes. Und Gerechtes. Und zwingt all unsere Prekären, sich neue Ausreden zu suchen, oder gar ihr Leben mit Festanstellung länger als drei Monate im Voraus zu planen, mit Krankenversicherung und all dem unerträglichen Papierkram, den man nicht mehr ein Jahr im Briefkasten vergessen kann. Haben Sie toll gemacht, Frau Nahles. Ihre Gerechtigkeit mordet unsere schönen Traditionen.

HINWEIS:

Ja, es ist zum Heulen, selbst wenn man hier nicht zu laut sein sollte, vielleicht lesen die Eltern mit – aber deshalb gibt es ja auch ein  Kommentarblog.