Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Ode an die Runzligkeit

Bay mir bistu git, bay mir hostu “it”, 
bay mir bistu tayerer fun gelt.“
Sholom Secunda, Bay mir bistu sheyn

Das Schöne an meinem Beruf sind ja die mannigfaltigen Eindrücke, die ich über den Menschen an sich gewinne, und die meine Weltsicht durchaus bereichern. Unterschiedliche Menschen, vielfältige Eindrücke, im stillen Kämmerlein erzählte Geschichten. Schöne und weniger schöne Geschichten, kluge und weniger kluge Gedanken, begnadete und weniger begnadete Liebhaber. Eine ziemlich bunte Mischung, und wenn ich mich mit meinem Utensilienköfferchen auf den Weg mache, weiß ich nie so recht, was mich erwartet. Lebensbeichten, Scheidungsfeiern, Mittagspausenquickies, alles schon gehabt, nicht immer mit Vorwarnung. Aber langweilen kann ich mich später, damit möchte ich jetzt noch nicht anfangen.

Kürzlich wurde ich umgehend nach Betreten des Zimmers zu einer spontanen Tanzeinlage aufgefordert, und es erfordert schon gewisses Maß an Chuzpe, sich vor einem Wildfremden, welcher in Daunenjacke verharrend, auf einem Barhocker sitzend, eine gewisse Erwartungshaltung zum Ausdruck bringt, spontan und nach Möglichkeit bitte auch noch anregend tanzend der Kleidung zu entledigen. Wenn Sie jetzt ein Bild vor Augen haben, das einer gewissen Situationskomik nicht entbehrt, und eine etwas angestrengt dreinblickende Despina beinhaltet, liegen Sie sicher nicht völlig daneben.

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Sie sehen, die Tätigkeit als Freudenmädchen kann durchaus persönlichkeitsbildende Aspekte haben, man muss es schon mögen, sich in dieser Form mit sich selbst auseinanderzusetzen. Es gibt sicher weniger selbstkonfrontative Jobs. Wirklich interessant wird es mit der geistigen Gymnastizierung für mich zum Beispiel auch dort, wo es darum geht, welches Verhältnis man zu seiner eigenen und der Körperlichkeit anderer Leute einnimmt. Im Gegensatz zu sehr vielen anderen Tätigkeiten arbeitet man in der Sexarbeit ja auch ganz praktisch mit der eigenen Attraktivität, und hier kommt man sehr schnell an den Punkt, an dem man sich mit der Frage „wie definiert sich meine Attraktivität eigentlich“ auseinandersetzen muss. Letztendlich ist diese Attraktivität die Unique Selling Proposition, denn wenn man sich die „Speisekarten“ der Mitbewerberinnen ansieht, stellt man fest, dass die Angebotspalette an Dienstleistungen begrenzt ist. Sex ist Sex, und so rätselhaft und geheimnisvoll die Sache im Spannungsfeld der zwischenmenschlichen Verwirrung auch ist, das Rad neu zu erfinden wird auch der findigsten Kollegin nicht gelingen. Es gibt eine gewisse Bandbreite an Praktiken, die deckt der Markt ab, aber letztendlich wird die Entscheidung eines Kunden für ein Angebot in den seltensten Fällen davon abhängen, dass eine Dienstleisterin etwas anbietet, das er anderswo nicht bekommen kann. Ausschlaggebend wird die Dienstleisterin selbst sein. Ihre Attraktivität.

Aber was ist das eigentlich, diese Attraktivität? Sie kennen sicher auch die Klagen über das medial befeuerte Schönheitsideal der anorektisch-lasziv dreinblickenden minderjährigen Lolita, das angeblich exakt dem Beuteschema von rund 90 Prozent der männlichen Bevölkerung entspricht.

Ich will jetzt nicht behaupten, den optischen Vorlieben der Mehrheit der männlichen Bevölkerung zu entsprechen, aber obwohl ich weder minderjährig noch anorektisch bin, und das mit dem lasziven Blick auch nicht immer auf Anhieb hinbekomme, habe ich nicht das Gefühl, von den Männern nachgerade verstoßen zu werden.

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Was ich kenne, und damit umzugehen musste ich durchaus auch lernen, ist der enttäuschte Blick eines Kunden, der die völlige Entsprechung seiner manchmal wochenlangen Projektionen und Fantastereien erwartet, und dann mit der Realität in Form meiner Erscheinung konfrontiert wird.Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Die Sympathie des ersten Eindrucks reicht aus, um die Lücke zwischen Erwartungshaltung und Realität zu kitten, oder sie tut es nicht. Dann gehe ich eben wieder.

Natürlich fallen solche Momente nicht in die Kategorie „angenehme Situation“, aber einerseits sind sie höchst selten, und andererseits mache ich eben ein Angebot, das der Kunde auch im letzten Moment noch ablehnen kann. Dafür habe ich schließlich auch zu jedem Zeitpunkt die Freiheit, von einem Geschäft mit einem bestimmten Kunden abzusehen.

Jedenfalls, darauf will ich eigentlich hinaus, ich bin nicht der Archetyp einer langbeinigen, schmollmündigen und vollbusigen Femme fatale, und die Lolita nimmt mir auch kein Mensch klaren Verstandes mehr ab.

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Allein schon wegen des fraulichen Beckens. Vielmehr habe ich entdeckt, oder entdecken müssen, dass Strumpfhalter nicht nur für manche als Augenweide taugen, sondern im Sommer, wenn man als Frau nicht wirklich gerne Strumpfhosen trägt, vielleicht aber aus dem Alter, in dem man seine nackten Beine ungefragt fremden Menschen unter die Nase hält, schon deutlich heraus ist, ihre unbestreitbaren Vorteile haben. Denken Sie sich einfach Ihren Teil.

Das Entscheidende ist wohl, sich mit dem Körper, den man da nun einmal hat, anzufreunden und das Beste aus den gegebenen Möglichkeiten zu machen. Ich habe eine Leidenschaft für schöne Strümpfe entwickelt, und ich werde mir beizeiten einen hübschen Gehstock beschaffen, der mir nicht nur bei der selbstständigen Fortbewegung gute Dienste leisten, sondern es mir auch ermöglichen wird, mir in der U-Bahn den Weg freizukämpfen, wenn die Youngsters die Tür nicht frei machen wollen. Eine Teleskopfunktion würde mir gefallen, und vielleicht ein Alarmknopf mit einem wirklich Mark und Bein durchdringenden Ton.

Man muss die Dinge positiv sehen. Dass der Körper alt und runzlig wird, liegt in der Natur der Dinge, und natürlich habe ich schon ein paar Mal von Kundschaft Komplimente für meinen vermeintlich jugendlichen Körper bekommen. Von Kundschaft mit 20, 30, 40 Jahren Altersvorsprung und einem gewissen sexuellen Defizit wohlgemerkt, man muss das alles bitte in Relation setzen. Trotzdem, allmählich häufen sich bei mir auch die Anfragen von jüngeren Männern, die gerne mit einer „reiferen Frau“ Erfahrungen sammeln möchten.

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Anfangs bin ich erschrocken, mittlerweile nehme ich es gelassen, trage nicht ohne Ironie eine Simone-de-Beauvoireske Hochsteckfrisur zum Bleistiftröckchen und freue mich fast schon auf die Lebensphase, in der ich ganz gepflegt die distinguierte ältere Dame heraushängen lassen kann. Was das ergrauende Haar angeht, bin ich ambivalent, ob das in der Länge, die ich jetzt trage, dann noch hübsch aussieht. Ich liebäugle mit einem Bob im Stil der Zwanziger. Aber mir scheint, da habe ich noch ein bisschen Zeit.

Attraktiv finde ich, wenn ich einem Menschen ansehe, dass er im Grunde genommen nichts darum gibt, ob andere ihn attraktiv finden, weil er sich selbst mag. Ich rede nicht von Narzissmus, das ist eine krankhafte Störung und ich würde dringend raten, um Narzissten lieber einen größeren als einen kleineren Bogen zu machen. Ich meine auch nicht, dass man sich gehen lassen sollte. So sehr ich dafür bin, sich gelegentliche Ausschweifungen zu gestatten und seine Laster in verträglichem Maß zu pflegen, so wenige halte ich es für zuträglich, sich gehen zu lassen. Ich rede von Zufriedenheit. Vom Frieden mit sich selbst. Vom nicht gegen sich kämpfen.

Nicht gegen die zwei oder fünf Pfund Hüftgold, nicht gegen das Doppelkinn, die hängende Brust oder den Schmähbauch. Die Energie kann man an so vielen anderen Stellen sinnvoller einsetzen, ein Doppelkinn ist bei Licht betrachtet wirklich irrelevant.

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Selbstbewusst vorgetragenes Hüftgold ist attraktiv, aber es sollte genau in der richtigen Kombination vorgetragen werden: Es wirkt nämlich erst dann wirklich unwiderstehlich, wenn aus dem über die Schulter geworfenen Blick die Freude am Spiel und dem Zusammensein mit dem Gegenüber spricht, ansonsten ist alles Hinternwackeln vergebene Liebesmüh. Es nützt das zellulitefreieste Hinterteil nicht, wenn seine Inhaberin nicht mit ihm im Einklang ist, und wenn sie bei dem, was sie da treibt, keine wirkliche Freude hat. Deswegen sind Komplimente für körperliche Vorzüge auch nett, und ich bedanke mich artig, schließlich habe ich ein Mindestmaß an Kinderstube genossen.

Aber wirklich freuen kann ich mich, wenn mir eine Kundschaft Lieblingsschokolade mitbringt, und dann breit grinsend neben mir sitzt, während ich sie in einem Zustand postkoitaler Unterzuckerung vernichte. Es kann in so einem Moment schon sein, dass irgend ein Strapsdingens irgendwo ästhetisch fragwürdig einschneidet oder die Frisur nicht mehr so ganz perfekt sitzt. Es interessiert nur keinen Menschen. Vielleicht ist Attraktivität also auch, sich genüsslich die Finger abzulecken, während man verstrubbelt vor sich hin kichernd gewisse Schönheitsnormen geflissentlich ignoriert.