Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Der Pflegenotstand als soziologisch faire Angelegenheit

Bete nicht um eine geringere Last, sondern um einen stärkeren Rücken.
Theresa von Avila

Machen wir ein kleines Experiment.

Gehen Sie in die Küche, öffnen Sie einen Schrank, mehmen Sie ein handelsüblich verschlossenes Glas mit Kompott oder Marmelade, und öffnen Sie es. Mit einer Hand.

Nun?

Ich liebe Marmelade, ich brauche sie als Brennstoff beim Schreiben, ich mache das dauernd. Mit zwei Händen. Weil es mit einer Hand nicht möglich ist. Noch nicht mal mein eigenes, verpfuscht eingekochtes Marillenkompott bekomme ich auf, oder eine handelslübliche Dose, oder eine Flasche Saft. Mit einer Hand ist das technisch nicht möglich. Auch Espresso kann man nicht kochen. Aber es ist ja nur ein Versuch. Vorerst.

fascha

Aber Sie wissen jetzt, wie hilflos man sich mit einer Hand fühlt. Und nun stellen Sie sich vor, Sie erleben das gleiche, wenn ihr Partner ein Pflegefall ist. Demenz, Krebs, Immobilität, was auch immer. Er ist auf Sie angewiesen, und Sie tun, weil Sie ihn lieben, natürlich alles. Sie tragen diese Last ohne Klagen, weil Sie das Beste für diesen anderen Menschen wollen, und weil man das in konservativ-besseren Kreisen halt so macht. In guten wie in schlechten Tagen. Aber dann passiert Ihnen etwas. Sie sind nicht mehr ganz jung, und der Arm bricht. Und jetzt haben sie nur noch einen Arm zur Verfügung und müssten den Menschen, den Sie lieben, mit Kompott aus dem Glas füttern. Das Sie mit einer Hand aber nicht öffnen können. Sie bekommen dieses eine Glas nicht auf, weil es eben diesen Unfall gab. Das passiert jedes Jahr ein paar tausend Mal und wirft dann pflegende Verwandte aus dem Gefecht gegen die Krankheit, aus der Sorge für den Menschen, den sie lieben und gepflegt haben.

Ich erzähle das hier nicht theoretisch, denn genau das ist in meinem Umfeld passiert. Das ist auch mit Villa und Geld keine schöne Situation, sondern im ersten Moment zum Verzweifeln – da muss eine Operation sein, jemand muss die Pflege während dieser Zeit komplett übernehmen und danach auch sehr viel tun. Es muss immer jemand da sein, denn wenn der andere stürzen sollte, kann man ihn mit dem einen Arm auch nicht aufheben. Natürlich könnte man ihn ins Heim stecken, aber bekommen Sie mal auf die Schnelle einen Platz im Heim. Und wissen Sie, ob der Partner dort gut verpflegt wird? Ob man ihn dann nicht gleich behält? Das sind alles so Fragen, die in meinem Umfeld zum Glück schnell geklärt sind. Man holt sich eine Haushälter_in. Die kostet im Monat ein paar tausend Euro und ist dann rund um die Uhr da und verfügbar, und das ist auch notwendig: Es dauert nämlich ziemlich lang, bis man mit so einem gebrochenen Arm wieder ein Glas mit Kompott aufmachen kann. Die Unterbringung der Haushaltshilfe ist kein Problem, es gibt ja eine Einliegerwohnung in der Villa. Es ist nicht ganz billig, aber so kommt man auch über diese zehn schweren Wochen hinweg. Bei uns.

faschb

Nur: Haben Sie gerade eine Villa zur Verfügung, mit Wohnung für Personal, zehntausend Euro mal eben so, und die nötigen Kontakte, um so eine Lösung so kurzfristig vor einer Operation zu ermöglichen? Nach meiner bescheidenen Kenntnis der Lebensumstände weniger begüterter Schichten ist das nicht wirklich so, und in diesem Fall, so habe ich damals gelernt, bleibt dann eben nur das auch nicht billige Heim für den Pflegefall, so nennt man das im Amtsdeutschen, übrig. Bei Leuten mit kaputten Hüften mag das gehen, Menschen mit Alzheimer leiden da aber unter der unbekannten Umgebung, stürzen dort oft psychisch ab. Niemand geht gern da hin und verliert den Menschen, den er liebt, und sei es auch nur für zehn Wochen. Solange kriegt man kein Glas auf. Und es gibt auch viele Leute, die sich nicht zehn Wochen jeden Tag das Essen kommen lassen können. Aber was soll man tun? Man kann eine Haushaltshilfe nicht herzaubern und in den Schrank stecken, wenn man sie nicht mehr braucht. Es sei denn, es gäbe eine technische Lösung. Sie dürfen mir das glauben: In so einer Lage würden Sie sehr, sehr viel Dankbarkeit für die Menschen empfinden, die in Karlsruhe den Armar-Roboter entwickeln.

Diese elektronische Haushaltshilfe ist noch nicht fertig, aber ich kenne einen Professor aus Zürich, der mir vor zehn Jahren erzählte, dass sie Mitte der 90er Jahre eine autonome Drohne entwickeln wollten, die selbsttätig nachschauen konnte, ob ein Stockwerk tiefer der Kaffee fertig ist. Damals wäre das Ding so teuer wie ein Luxusauto geworden. Vor zehn Jahren konnte man solche Geräte schon im Bastler-Fachhandel erwerben, und heute ist das ein Kinderspielzeug. Ich glaube, dass es mit dem Küchenroboter ähnlich sein wird, und das war beim Kühlschrank und bei der Espressomaschine auch nicht anders: Diese Geräte werden kleiner, leichter, billiger und effizienter. Solange der Roboter in Karlsruhe entwickelt wird, habe ich keine Sorge. Ich glaube, das kann gut werden und sehr vielen Menschen, die viel Liebe und wenig Geld haben, helfen, auch schwere Zeiten besser zu durchstehen, als sie es heute tun müssen. Es sei denn, eine gewisse Berliner Professorin bekommt ihren Willen. Und man kann leider nie wissen, was für ein Politiker dieser Frau ein Ohr leiht, wenn sie meint, wir sollten uns doch besser um die Probleme der Dritten Welt beim Kochen kümmern, statt solche in ihren Augen lächerlichen Geräte zu entwickeln, denn in der Dritten Welt sterben Menschen durch unzureichende Kochgelegenheiten.

faschc

Sehen Sie, normalerweise ist es ja mein Job hier zu erklären, warum es moralisch gut und ethisch richtig ist, wenn ich am Tegernsee faulenze und Sie arbeiten gehen. Das ist nicht wirklich nett, und ich muss mich da mitunter schon verrenken, aber ich bin wenigstens so ehrlich, meine Privilegien toll zu finden. Und ich stehe fast immer nicht dafür ein, anderen absichtlich Chancen und Hilfen zu verbauen. Die Professorin, die genau das tut, ist ganz anders. Sie trinkt, das weiss ich aus ihrem früheren Beitrag, Fair-Trade-Espresso aus ihrer Sivlia-Maschine. Espresso ist Kaffee, und Kaffee wiederum fällt nicht als Manna vom Himmel der Gendergöttinnen, sondern wird in grossen Monokulturen angebaut, die Mensch und Tier den Lebensraum nehmen. Wenn da irgendwo eine faire Kaffeeplantage in den Urwald geholzt wird, ist da nichts mehr, was die Menschen noch normal beim Kochen verbrennen könnten. Dann kochen sie halt zwangsweise mit dem Müll, den sie finden, werden krank und sterben. Eine sozial bewegte Soziologin könnte auch selbstgezupften Brennesseltee oder Wasser aus der Spree trinken, das würde ihren ökologischen Fussabdruck verkleinern, aber sie mag eben lieber den Espresso aus ihrer Silvia-Maschine – sofern sie die noch nicht den Besetzern de Gerhart-Hauptmann-Schule geschenkt hat, deren Einlassungen sie so fleissig bei Twitter verbreitet. Wie auch immer: Sie will keine Küchenroboter, sie hält das für übertriebenen Schnickschnack und die Argumente, dass es eine echte Zielgruppe dafür gibt, dass wir alle nicht jünger und gerade die radikalen Feministinnen und Feministen unter uns dabei meist auch arm und einsam werden, ziehen nicht.

Mir kann es wirklich, wirklich egal sein. Es ist nun mal bei uns so, dass es für solche Zwecke Personal gibt. Bei uns am Tegernsee sind sogar die Heime toll, und Berlin ist weit weg – man hört nur manchmal etwas über die Heime, die sind dort in etwa so wie die Schulen. Natürlich sind die Bedingungen dort noch etwas besser als in Afrika. Aber auch dort sind die Gründe dafür nicht monokausal und bei uns zu suchen, und niemand sollte sich schämen oder beschämt werden, wenn er sinnvolle Lösungen für uns entwickelt. Die sind auch nicht schuldiger als die Soziologin, deren Silvia im Messing-Brühboiler vielleicht auch Buntmetalle enthält, die in Sambia unter übelsten Bedingungen gefördert werden. Aber solche Geschichten stören Feministinnen wohl eher nicht, in den Minen krepieren ja nur Männer.

faschd

Ich wünsche, obwohl linke Soziologen beim Blick in meine Gemäldesammlung regelmässig Magengeschwüre bekommen, keinem etwas Schlechtes, das habe ich nicht nötig und das wäre auch nicht nett. Mir reicht es, wenn es mir gut geht, und wenn andere voran kommen und ein besseres Leben haben, habe ich nichts dagegen. Es kann gut sein, dass solche Roboter helfen, später die Gesellschaft zu entlasten, und vielen Ärmeren das Pflegenotstandsheim auf lange Zeit ersparen. Ich lebe gut in meinen Wohnungen, ich würde nicht mit einem Heim tauschen wollen und später, wenn es sein muss, auch einen elektronischen Helfer anstellen, mit Schürze, Häubchen, Minirock, mit Charakter und der Figur von Gina Lollobrigida und dem Hirn von Josefine Mutzenbacher. Der Soziologe aber checkt diese Privilegien und will, dass wir solche Probleme von den Marginalisierten her angehen und uns besser darum kümmern, dass die erst mal weiter kommen. Man sagt heute, wenn man nicht zynisch, sondern privilegiert und mit Fair Trade Espresso auch ein wenig schwarz-marginalisiert-helfend sein will, zu den eigenen Armen und Bedürftigen nicht mehr „Hunde, wollt ihr ewig leben.“ Man erhebt sich moralisch und hat ein Herz für arme, weit, weit entfernte Frauen am Herd, bis dann der Espresso fertig ist.

Also, denken Sie daran, wenn Sie mit einem gebrochenen Arm in der Küche stehen, die Dose nicht aufgeht und ihr pflegebedürftiger Partner nebenan Hunger hat. Das ist nicht schön, aber angesichts des Elends in der Dritten Welt soziologisch durchaus vertretbar.