Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Nirgendwo erfriert man mondäner als in Cortina

Ein Gipfel gehört dir erst wenn du wieder unten bist.Denn vorher gehörst du ihm.
Hans Kammerlander

Die Haut duftet nach ätherischen Ölen, die Bademäntel sind kuschelig weich und blütenweiss, der ganze Körper ist durch die Massage entspannt. Alle Bäder sind in vollen Zügen genossen, während durch das Panoramafenster die schneebedeckten Spitzen der Sextner Dolomiten herein funkeln. Draussen ist es bitterkalt, in der Nach hat es geschneit und tagsüber gab es schwere Regenschauer, aber hier unten, in der Wellnesszone des Sport Hotels von Innichen, merkt das junge Paar nichts davon. So vergehen die Stunden mit Reinigung und Erholung des Körpers, und sie nimmt dann noch ein Glas Wasser und er einen Rotwein, bevor sie in mit dem Aufzug hinauf zu ihrer warmen, geräumigen Suite fahren. Alles wird hier getan, damit die Gäste entspannt und wie neugeboren in einer watteweichen Wolke von Wohlgerüchen und Wärme dem Alltag entgehen. Sie steigen also in den Aufzug, betrachten sich im Spiegel – gut, jung und schön sehen sie aus – und drücken auf dem Knopf zum ersten Stock. Aber dann hält der Aufzug im Erdgeschoss, die Tür geht auf, und dort steht breitbeinig das hier:

1,81 Meter gross, normalerweise 87 Kilo Trockengewicht schwer, aber es ist nass von Regen und Schweiss. Es kommt von draußen, aus dem frühen Winter in dem Dolomiten, und von ganz oben aus dem Eis, wo die Wolken nicht warm, sondern glitschig und dunkelgrau sind. Was da vor den sauberen Menschen in ihren Bademänteln steht, ist eiskalt, es tröpfelt und trägt ein höchst geschmackloses, grün-pinkes Trikot mit ausgestopften Taschen, in denen noch Müll und fettklebrige Werkzeuge stecken. Die muskulösen Beine füllen eine Kniebundhose in der Farbe Schlammbraun aus, und wenn man nach unten schaut, erkennt man, dass die ehemals gemusterten Kniestrumpfe ebenfalls monoton schlammbraun wie jene Sturzbäche in den Bergen sind, die sie durchwaten mussten.

Um die abgetretenen und von Stürzen abgeschabten Schuhe bilden sich kleine, schlammbraune Pfützen auf den edlen Schieferplatten. Es riecht seltsam, ein paar Dreckspitzer sind auch noch in den Augenbrauen, und dann sagt es ins doch leicht verstörte Gesicht der Frau im Bademantel hinein: “Entschuldigen Sie bitte meine Erscheinung, ich bin leider nicht ganz gesellschaftsfähig, denn ich komme gerade mit dem Rad aus Cortina.” Dann betritt es den Aufzug. Im ersten Stuck huscht die Frau an dem schlammbraun-grün-pinken Schmutzberg vorbei, und der Berg und ihr Mann grinsen sich an. Vielleicht wäre der Mann ja auch lieber draußen gewesen, und hätte mit mir den Passo Tre Croci genommen. Denn der kalte, aber immer noch mobile Schmutzberg, das bin ich. Und dass ich hier ankommen und Wellnessfreunde verschrecken würde, habe ich zwischenzeitlich auch nicht mehr erwartet.

Denn gut zehn Kilometer vor Cortina d’Ampezzo stand ich an genau dieser Stelle, und schaute auf die Wolken unter mir. Die Wolken über mir schütteten weiter eiskalten Regen auf mich, und das Wasser war längst durch die Regenjacke und beide, übereinander getragenen Trikots auf die Haut geflossen. Eigentlich war ich gerade wegen des angesagten schlechten Wetters nach Innichen gefahren: Normalerweise nämlich fahren mir die Italiener bei der L’Eroica immer blitzschnell davon, während ich die Berge hinauf krieche. Aber hier, bei der Eroica Dolomiti, sollte es kalt sein, zwischen 0 und 10 Grad, und da rechnete ich nichtsowirklicharischaussehender Nichtganzrecke dank meiner Abhärtung gute Chancen aus, den ein oder anderen durch die Kälte erstarrten Italiener niederzuringen. Das war ein guter Plan, aber an dieser Stelle schon komplett gescheitert.

Denn an dieser Stelle hatten mich schon lange vier Nachzügler trotz der Kälte in kurzen Hosen munter plaudernd überholt, und alle anderen waren schon weg, als ich wegen eines technischen Defekts zu spät an den Start rollte. Ich eilte ihnen natürlich hinterher, immer den Pfeilen nach. Erst den Pfeilen nach, die nach Cortina wiesen, und dann gegen die Pfeile, die zurück nach Innichen zeigten, in der Annahme, dass gegen den Rückweg der Hinweg verlaufen müsste. Irgendwann stand ich an einem mörderischen Anstieg, und mir wurden zwei Umstände bewusst: 1. Ich habe mich verfahren. 2. Es wäre für die Jagd auf Italiener sinnvoll gewesen, sich vorher einmal die Karte anzuschauen. Aber es ist, wie es ist, sagte meine Grossmutter immer und nasser konnte ich da auch schon nicht mehr werden. Dachte ich. Bevor ich umdrehte und merkte, dass ich nun mit eiskaltem Ostwind aus der sibirischen Steppe zurück fahren musste.

Ich fand im Nebel zwar keinen Richtungspfeil, aber immerhin einen Einschnitt im Gebirge bei Toblach und darin ein Haus und davor eine alte Frau, die Zeitung las. Ich wusste, dass irgendwo Cortina auf meinem Weg lag, und fragte sie:

Grüss Gott. Wo geht es hier nach Cortina.
Wohin?
Cortina.
Aber das ist 35 Kilometer entfernt!
Ja, genau, da muss ich hin.
Mit diesem Rad? Sie deutete auf mein graziles 1972er RuFa Sport, das nicht ganz so aussieht, als wäre es den Belastungen eines Unwettertages in den Bergen gewachsen.

Mit diesem Rad.
Bei dem Wetter?
Bei dem Wetter, es ist halt so.
Also, sagte sie, da fahren Sie hier den Berg hoch und dann den Berg wieder hinunter, und dann kommen Sie auf den Radweg. Aber da kann man bei diesem Wetter nicht fahren! Da hat es oben Schnee, da erfrieren Sie!

Ich bedankte mich, fuhr los und musste dann 20 Kilometer lang erkennen, dass die alte Frau vielleicht ein wenig mehr Ahnung als ich hatte – wie gesagt, Grossmütter haben immer recht – so wie auch die vier nachzügelnden Italiener mehr Kraft in den Beinen hatten, als sie mich überholten und spielend leicht zurück ließen. Von da an war ich allein. In einer Gegend, die bei Sonnenschein sicher zu den schönsten Orten der Welt zählt. Sogar im Regen ist es noch schön.

Und ab einem gewissen Punkt ist man so dreckig, dass jeder neue Dreck am alten Dreck nicht mehr haftet und wieder hinunter fällt, solange man nicht durch besser klebende Kuhfladen fährt. Hin und wieder kam ich an weggespülten Brücken vorbei und kletterte durch Geröllfelder, ab und zu sah ich eine Kuh im Nebel. Und irgendwann war ich auch oben auf dem Passo Cimabanche – dem ersten und niedrigsten von drei Pässen. Von da aus rollte ich noch ein paar Meter in den Wolken weiter, um wenigstens Cortina gesehen zu haben. Bis eben zu jenem Punkt über der Schlucht, wo die Wolken unter mir lagen, und noch weiter unten lag meine Motivation. Unter mir waren also Wolken und Wildbäche und eine schwierige Abfahrt, hinter mir in 200 Meter Entfernung ein Lokal. Und ich sagte zu mir:

Ich werde heute keinen Italiener mehr fangen. Es ist kalt. Ich bekomme gerade eine Lungenentzündung. Da hinten gibt es Tee, Kuchen und Wärme, und in Innichen im Sport Hotel liegt mein weisser, flauschiger Bademantel auf dem Bett. Ich muss nur umdrehen, Kuchen essen, abfahren und dann stundenlang im Warmbad liegen. Was ich erlebt habe, reicht leicht aus, um meinen Lesern zu erklären, warum man auch mal aufgeben können muss. Gesundheit, das ist die Lektion, ist das Wichtigste! Ich war bei der L’Eroica schon oft am Aufgeben, jetzt wäre es mal an der Zeit, es zu tun. Dann hörte ich von hinten ein Rauschen, und um die Kurve schoss ein Pulk Radler auf Carbonrädern.

Eeeeeh, Eroici!, rief mir einer zu und winkte. Ich winkte zurück, und dann kam noch ein Pulk und noch ein Pulk, und ich aber gab auf und drehte um und fuhr heim. Also, ich mein, ich habe mir wirklich vorgenommen, das zu tun. Echt. Aber tatsächlich schaffte ich die Kurve nicht ganz, und die Schwerkraft zog mich hinunter. Von hinten kam noch ein Pulk, ich hängte mich dran und krachte mit ins Tal. Du bist von Eroica, fragten die anderen, ich sagte ja, und sie sagten anerkennend Eeeeeh in die eisige Bergluft, und so brannten wir hinein nach Cortina.

Wo, unglaublich, die Sonne schien. Sie schien auf Touristen und auf Radler auf Carbonräder und auf den Allerletzten der Eroici, aber sie schien nicht auf Wegweiser, die ich finden sollte. Immerhin fand ich eine Karte, die mir endlich erklärte, dass ich auf den Passo Tre Croci und danach auf den Passo San Angelo musste, um wieder nach Hause zu kommen. Was ich nicht fand, waren die Pfeile zu diesen Pässen, weshalb ich zweimal die scharfen Rampen im Ort hinauf und hinunter fuhr, bis ich die richtige Abzweigung fand. Dann setzte ich mich erst eine Weile auf die Bank in die Sonne.

Denn ist man erst mal Letzter, überholt einen keiner mehr, und man hat alle Zeit der Welt. Ausserdem ist Cortina wirklich schön in seinem halben Dornröschenschlaf, manche Wolken erstrahlten golden und andere funkelten wie bizarrer Silberschmuck an den Hängen des Monte Cristallo. Ist man erst mal Cortina, muss man ohnehin zu diesen hübschen Wolken, denn es führt kein flacher Weg zurück, und wenn man am Passo Tre Croci an so einem Frühwintertag erfriert, steht in der Biographie: gestorben am Passo Tre Croci, Cortina d’Ampezzo.

Das klingt wahnsinnig mondän, nach Louis Trenker und einem Schurken aus einem Bond-Film, viel besser als “in der Therme von Bad Gögging auf der Seife ausgerutscht und noch 5 Jahre mit Schädelbruch im Koma gelebt”, also fuhr ich weiter, und siehe: In der klaren, sonnigen Bergluft fühlte es sich gar nicht so kalt an, wie es wirklich war. Es war eine Schinderei in schöner Landschaft, das kann ich berichten, und außerdem ist man irgendwann oben, wenn man überlebt, und das ist ein gutes Gefühl. Noch besser ist es, auf 1809 Meter die Bremsen los zu lassen und nach unten zu schiessen.

1750 Höhenmeter, 1700. 1650, 1600, 1550, und dann fällt einem ein, dass eigentlich schon nach 150 Höhenmetern eine Abzweigung hätte sein sollen, und war da bei Tempo 80 in den Augenwinkeln nicht ein Pfeil? Es geht hier doch gar nicht mehr nach Misurina.

Das sind so die Momente, in denen es gut ist, wenn man den Moment der totalen Verzweiflung schon oberhalb von Cortina hatte. Umdrehen, hochkriechen, weiter, immer weiter. Mit pfeifenden Lungen kroch ich am Lungensanatorium vorbei, über dem sich die Drei Zinnen erheben, und sagte mir: Schau, immerhin kriechst Du noch japsend, die Kinder da drinnen japsen nur noch in den Betten. Es geht Dir nicht gut, Du bekommst mindestens eine Grippe, aber in den Bergen um dich herum sind Abertausende sinnlos im Ersten Weltkrieg gestorben.

Manche liegen immer noch unter dem Geröll, ihre Lieben haben nie erfahren, was ihnen geschehen ist, aber du bist einer der privilegiertesten Menschen der Welt: Niemand schiesst auf dich, keine Armee setzt gegen dich Giftgas ein, nur ein paar Grüne, Rote, Schwarze, Blaue, Minister, Staatssekretäre, Bild- und NDR-Journalisten und Ex-Stasi-IMs hinter den Bergen hassen dich, du hast immer die Wahl. Du hättest auch im Wellnessbereich liegen können. Du wolltest aber das hier. Also hör auf zu jammern und quäl dich, du faule, verweichlichte, übergewichtige Sau. Da vorne ist der letzte Pass.

Und von da aus ging es 20 Kilometer nur hinunter nach Toblach. Der Salzgehalt sorgte dafür, dass die Tränen, die der Fahrtwind aus den Augen presst, nicht am Gesicht festfroren. Die Sonne verschwand hinter den Bergen, König Laurins Rosengarten flammte rot im Abendlicht, aber nichts, nichts konnte einen jetzt noch aufhalten. Die Schwerkraft tat ihr Werk. Und siehe: Es war gut. Es war sehr gut. Es war phantastisch. Es war absoluter Wahnsinn, das alles geschafft zu haben, am Leben zu sein und vielleicht der Letzte zu sein, der den Berg hinunter donnernd, Kurven schneidend, alle Vorsicht aufgebend am Ziel ankommt. Aber auch jener Letzte, der nicht aufgegeben hat und sich durchkämpfte, und nicht wie andere in Cortina den Bus zurück nahm.

Du könntest runter in den Wellnessbereich, es ist noch genug Zeit zum Heldendinner, sagte der Veranstalter im Hotel, als ich endlich ankam. Ich drückte auf den Knopf am Aufzug, stellte mich breitbeinig und tröpfelnd und dreckig und glücklich und stolz hin, und sagte: Besser nicht, was sollen denn die Leute da unten von mir denken. Und dann ging die Tür auf und da standen sie in ihren flauschigen Bademänteln, mit Wasser und Rotwein in der Hand und starrten mich an.

Es gibt zwei Arten von Menschen auf dieser Welt. Die einen wollen Wellness, und die anderen wollen lieber nach 40 Kilometer im Regen am Passo Tre Croci erfrieren, und dort neben der Strecke begraben werden. Sie wollten Wellness.